I. Die Klage gegen den Bescheid vom 31. Januar 2011 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids vom 30. März 2011 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Pflegegeld während eines sechs Wochen übersteigenden Türkeiaufenthaltes.
Die bei der Beklagten versicherte Klägerin und ihr Ehemann sind türkische Staatsangehörige. Seit 16.04.1997 erhält die Klägerin Pflegegeld nach Pflegestufe II. Am 25.01.2011 beantragte sie die Gewährung von Pflegegeld bei einem viermonatigen Aufenthalt in der Türkei. Nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei seien Türken sämtliche Leistungen zu gewähren, die auch EU-Staaten den Staatsbürgern anderer EU-Staaten gewähren.
Der Antrag wurde mit Bescheid vom 31.01.2011 und der hiergegen am 03.02.2011 erhobene Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.03.2011 zurückgewiesen. Der Widerspruch sei bereits unzulässig, da das Schreiben vom 31.01.2011 kein Verwaltungsakt sei, sondern lediglich eine Auskunft zur gängigen Rechtslage gebe. Das Schreiben vom 31.01.2011 stelle allenfalls schlichtes Verwaltungshandeln in der Form einer schriftlichen Information dar. Eine Beschwer der Klägerin liege nicht vor. Der Widerspruch sei auch nicht begründet. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) ruhe der Anspruch auf Pflegeleistungen, solange sich der Versicherte im Ausland aufhalte. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr sei das Pflegegeld weiter zu gewähren. Zwar komme nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) der Export von Pflegegeld für Versicherte deutscher Pflegekassen, die sich in einem anderen Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) oder der Schweiz aufhalten, in Betracht. Jedoch gelte dies nur für den Export von Pflegeleistungen in andere EU/EWR-Staaten oder die Schweiz, nicht jedoch in andere Staaten. Es verbiete sich eine Übertragung der Rechtsprechung des EuGH auf Versicherte, die sich nicht nur vorübergehend in der Türkei aufhalten.
Hiergegen richtet sich die am 02.05.2011 erhobene Klage. Die 6-Wochen-Beschränkung verstoße gegen die Verordnung 1408/71 EWG, die die soziale Gleichstellung aller auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten lebenden Arbeitnehmer verlange. Unter den Begriff des Arbeitnehmers im Sinne dieser Verordnung würden auch Rentner und deren Familienangehörige fallen. Zwar sei der sachliche Geltungsbereich der Verordnung auf Bürger der EU-Mitgliedstaaten beschränkt. Die Verordnung 1408/71 sei jedoch zumindest in ihren Grundzügen anwendbar, da es sich bei der Klägerin um eine privilegierte Drittstaatsangehörige handle. Der EuGH habe entschieden, dass Leistungen, die im Rahmen des deutschen Pflegeversicherungssystems erbracht werden, als Leistungen bei Krankheit nach der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen seien. Weiterhin werde gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 Abs. 1 EG verstoßen, da die Klägerin als privilegierte Drittstaatsangehörige schlechter gestellt werde als Inländer. Die Diskriminierung der Klägerin sei auch nach Art. 9 des Assoziierungsabkommens zwischen dem EWR und der Türkei vom 12.09.1963 unzulässig. Weiterhin verstoße § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI gegen den Beschluss Nr. 3/80 vom 19.09.1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen. Dort sei in Art. 3 Abs. 1 der Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit für türkische Staatsbürger festgelegt und in Art. 6 Abs. 1 weiter konkretisiert. Ohne die Gewährung des Pflegegeldes während des Türkeiaufenthaltes könne die Klägerin ihre Versorgung und ihren Lebensunterhalt nicht sicherstellen. Angesichts dessen könne der Klägerin nicht zugemutet werden, sich zunächst für mehr als sechs Wochen in die Türkei zu begeben, um erst dann gegen die Entscheidung der Beklagten Widerspruch einzulegen oder zu klagen.
Die Klägerin beantragt,
1. den Bescheid vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.03.2011 aufzuheben,
2. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin bei einem Aufenthalt in der Türkei über die Dauer von sechs Wochen hinaus Pflegegeld zu zahlen und
3. hilfsweise den Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht zum zuständigen Sozialgericht Augsburg erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig. Bei dem Schreiben vom 31.01.2011 handelt es sich um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Denn mit dem Schreiben traf die Beklagte als Behörde eine hoheitliche Maßnahme zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, die auf unmittelbare Rechtswirkungen nach außen gerichtet ist. Ein Regelungscharakter besteht, da eine Rechtsfolge bezweckt ist, nämlich die Versagung von Pflegegeld während eines sechs Wochen übersteigenden Türkeiaufenthaltes. Die Klägerin ist auch klagebefugt, da die Möglichkeit der Verletzung in eigenen Rechten, dem möglichen Recht auf Pflegegeld bei einem sechs Wochen übersteigenden Türkeiaufenthalt, besteht.
Die Klage ist aber nicht begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 31.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.03.2011 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld während eines sechs Wochen übersteigenden Türkeiaufenthaltes.
Ein derartiger Anspruch ergibt sich nicht aus dem innerstaatlichen deutschen Recht. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI ruht der Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung, solange sich der Versicherte im Ausland aufhält. Bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Wochen im Kalenderjahr ist das Pflegegeld nach § 37 weiter zu gewähren. § 34 Abs. 1a SGB XI zufolge ruht der Anspruch auf Pflegegeld nicht bei pflegebedürftigen Versicherten, die sich in einem Mitgliedstaat der EU, einem Vertragsstaat des Abkommens über den EWR oder der Schweiz aufhalten. Demnach besteht ein Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld bei einem sechs Wochen übersteigenden Auslandsaufenthalt zwar unabhängig davon, ob der Pflegebedürftige deutscher Staatsangehöriger, Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der EU, eines Vertragsstaats des EWR, der Schweiz oder eines Drittstaats ist. Jedoch besteht der Anspruch nur bei einem Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der EU, eines Vertragsstaats des EWR oder der Schweiz. Ein Anspruch auf Pflegegeld bei über sechswöchigem Aufenthalt in einem Drittstaat wie der Türkei besteht nicht.
Ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld bei einem über sechswöchigem Aufenthalt in
der Türkei ergibt sich auch nicht aus EU-Recht, das Vorrang gegenüber den nationalen Rechtsnormen hat. Ein Anspruch kann weder aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29.04.2004, die die Vorgängerverordnung (EWG) Nr. 1408/71 zum 01.05.2010 ersetzt hat, noch aus der Vorgängerverordnung selbst abgeleitet werden. Zwar scheitert die Anwendung nicht daran, dass die Klägerin und ihr Ehemann keine Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der EU sind. Denn die Verordnung Nr. 1408/71 bleibt nach Art. 90 Abs. 1 Buchstabe a der Verordnung 883/2004 für die Zwecke der Verordnung (EG) Nr. 859/2003 zur Ausdehnung der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 auf Drittstaatsangehörige in Kraft. Jedoch setzt die Anwendung der Verordnungen, wie generell die Anwendung von EU-Recht, einen grenzüberschreitenden Sachverhalt zwischen Mitgliedstaaten der EU voraus. Dieser ist vorliegend nicht gegeben. Denn die Klägerin beansprucht nicht die Gewährung von Pflegegeld in einem anderen Mitgliedstaat der EU, sondern in einem Drittstaat. In der Verordnung 883/2004 ist wie in der Vorgängerverordnung 1408/71 nur geregelt, welcher Mitgliedstaat bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts für die Gewährung von Leistungen der Sozialversicherung zuständig ist. Weitere Regelungen, insbesondere ein Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung in Drittstaaten, ist in den Verordnungen nicht geregelt. In der Verordnung 859/2003 ist in Art. 1 ausdrücklich niedergelegt, dass die Verordnung 1408/71 auf Drittstaatsangehörige nur Anwendung findet, wenn ihre Situation mit einem Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist. In Nr. 12 der Erwägungsgründe ist präzisiert, dass dann keine Situation vorliegt, die mit einem Elemente über die Grenze eines Mitgliedstaats hinausweist, wenn die Situation eines Drittstaatsangehörigen ausschließlich Verbindungen zu einem Drittstaat und einem einzigen Mitgliedstaat aufweist. Genau dies ist hier jedoch der Fall.
Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus Art. 18 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU, der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. Denn es findet gerade keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit statt. Auch deutsche Staatsangehörige haben keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld in Drittstaaten.
Ebenso wenig kann ein Anspruch auf Zahlung von Pflegegeld bei einem über sechswöchigem Aufenthalt in der Türkei aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei vom 12.09.1963 einschließlich des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970 und des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 abgeleitet werden, die Bestandteil des vorrangigen EU-Rechts sind. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens nur dann unmittelbar anwendbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Gegenstand und die Natur des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen. Art. 12 des Assoziierungsabkommens, wonach die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise hergestellt werden soll, hat nur Programmcharakter und ist deshalb nicht unmittelbar anwendbar (Urteil des EuGH vom 30.09.1987, Az: C-12/86, "Demirel"). Den Vertragsparteien wird in der Vorschrift nur eine allgemeine Verpflichtung auferlegt, zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens zusammenzuarbeiten. Dasselbe gilt für Art. 39 des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970, dem zufolge der Assoziationsrat Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit erlässt, die von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu- oder abwandern, und wonach die Möglichkeit einer Ausfuhr der Alters-, Hinterbliebenen- und Invaliditätsrenten in die Türkei bestehen muss. Ein Verstoß gegen Art. 9 des Assoziierungsabkommens, der eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, liegt nicht vor, da wie oben bereits dargelegt wurde, keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stattfindet.
Auch der Beschluss Nr. 3/80 des Assoziationsrates, der auf Grundlage von Art. 39 des Zusatzprotokolls erlassen wurde, enthält keine unmittelbar anwendbare Bestimmung, die einen Anspruch auf Pflegegeld bei einem über sechswöchigen Türkeiaufenthalt enthält. Zwar sind nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80, der die Gleichbehandlung der türkischen Staatsangehörigen mit den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats regelt, als auch Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses, der die Aufhebung von Wohnortklauseln für Geldleistungen bei Invalidität und Alter oder für Hinterbliebene sowie bei Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten festlegt, unmittelbar anwendbar (Urteile des EuGH vom 04.05.1999, Az: C-262/96, "Sürül" und vom 26.05.2011, Az: C-485/07). Jedoch handelt es sich im Fall der Klägerin weder um eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, noch um ein Ruhen einer Geldleistung bei Invalidität, Alter oder für Hinterbliebene beziehungsweise einer Rente bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten. Vielmehr handelt es sich bei Pflegegeld um eine Geldleistung der Krankenversicherung im Sinne der Verordnung 883/2004 beziehungsweise 1408/71 (Urteil des EuGH vom 05.03.1998, Az: C-160/96, "Molenaar"). Hinsichtlich der für die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft getroffenen Regelungen des Beschlusses Nr. 3/80 wird nur auf die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 verwiesen. Selbst wenn damit eine unmittelbar anwendbare Bestimmung getroffen worden sein sollte, so findet, wie auch bereits der Titel des Beschlusses Nr. 3/80 "über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige" nahelegt, nur eine Anwendung der Bestimmungen der Verordnung 1408/71 beziehungsweise jetzt 883/2004 auf die türkischen Staatsangehörigen statt. Eine Abschaffung von Wohnortklauseln im Bereich der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft dagegen ist nicht geregelt.
Auch aus Völkerrecht, das nach Art. 25 Grundgesetz (GG) dem deutschen Recht vorgeht, ergibt sich kein Anspruch auf Pflegegeld bei einem über sechswöchigen Türkeiaufenthalt. In Betracht kommt diesbezüglich lediglich das zwischen Deutschland und der Türkei geschlossene Abkommen über soziale Sicherheit vom 30.04.1964 in der Fassung der Änderung vom 02.11.1984. Nach Art. 2 Abs. 1 bezieht sich jedoch dieses Abkommen nur auf die deutschen Rechtsvorschriften über die Krankenversicherung sowie den Schutz der erwerbstätigen Mutter, die Unfallversicherung, die Rentenversicherung und die Hütten-knappschaftliche Zusatzversicherung, die Altershilfe für Landwirte und das Kindergeld für Arbeitnehmer. Eine Einbeziehung auch der Pflegeversicherung in das Abkommen ist nicht erfolgt. Angesichts des klaren Wortlauts des Abkommens kann jedoch keine Anwendung auf die deutschen Vorschriften über die Pflegeversicherung erfolgen (so auch Beschluss des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 03.11.2008, Az: L 5 B 321/08 P).
Angesichts dessen war die Klage abzuweisen. Da der vorliegende Rechtsstreit weder von der Auslegung von primären Gemeinschaftsrecht oder der Auslegung beziehungsweise Gültigkeit von sekundären Gemeinschaftsrecht abhängt, war dem Antrag des Klägerbevollmächtigten auf Vorlage des Rechtsstreits an den EuGH nicht zu entsprechen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193,183 des Sozialgerichtsgesetzes.
Erstellt am: 05.01.2012
Zuletzt verändert am: 05.01.2012