Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25.02.1997 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.1993 verurteilt, der Klägerin Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab 01.07.1989 zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob der Klägerin ein Anspruch auf Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zusteht, insbesondere, ob sie die behaupteten Beschäftigungszeiten in den Jahren 1940 bis 1943 im Ghetto B. und in den Jahren 1945 und 1946 im DP-Lager L. sowie dazwischen liegende Ersatzzeiten glaubhaft gemacht hat.
Die am …1924 in B.(B.) in Polen geborene Klägerin ist jüdischer Abstammung und NS-Verfolgte im Sinne von § 1 Bundesentschädigungsgesetz. Sie besuchte ab 1930 acht Jahre lang die Volksschule, und zwar zunächst in ihrem Geburtsort B., ab 1934 nach dem Umzug der Familie in der ca. 30 km entfernten Stadt … Daran schloß sich ab 1938 der Besuch der Handelsschule in B. an. Ihr Vater, ein selbständiger Schneidermeister, wurde bereits im Jahre 1939 im Rahmen der national-sozialistischen Verfolgung verschleppt. Die Klägerin zog mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach B. zu den Großeltern. Durch die Einweisung in das zunächst noch offene, später geschlossene Ghetto B. wurde ihr Schulbesuch unterbrochen. In der Zeit von Januar 1940 bis zum 03.05.1945 war sie freiheitsentziehenden Maßnahmen ausgesetzt. Mit Bescheid vom 27.08.1957 hatte das Bayerische Landesentschädigungsamt in München eine Entschädigung wegen Schadens an der Freiheit im o. g. Zeitraum bewilligt. In der Zeit von Anfang 1940 bis September 1943 hielt sich die Klägerin im Ghetto B. auf, anschließend bis zum 03.05.1945 in den Konzentrationslagern N., A. und R. Nach ihrer Befreiung lebte sie zunächst im DP-Lager L. am Lech. Im Mai 1948 wanderte sie nach Israel aus, dessen Staatsangehörigkeit sie seitdem besitzt.
Am 15.03.1990 beantragte sie u. a. die Anerkennung von Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) und die Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge sowie zugleich die Bewilligung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres.
Mit Erklärung vom 29.08.1990 machte die Klägerin geltend, sie sei im Ghetto B. als Arbeiterin tätig gewesen, und zwar in der Zeit von März bis Dezember 1940 für den Judenrat und in der Zeit von Januar 1941 bis August 1943 bei der Fa. R., einer Schneiderei. Ihre Bezahlung habe sich nach dem jeweiligen Tarif gerichtet. Außerdem habe sie in der Zeit von Dezember 1945 bis Dezember 1946 im DP-Lager L. für die Zionistische Bewegung als Jugendleiterin gearbeitet und eine Bezahlung nach Tarif erhalten. Daran habe sich bis Mai 1947 eine Zeit der Vorbereitung auf die Auswanderung nach Israel angeschlossen.
Auf Nachfrage der Beklagten teilte die Klägerin mit Schreiben vom 28.05.1991 ergänzend mit, sie habe im Jahre 1940 begonnen, mit anderen Jugendlichen als Landarbeiterin in B. zu arbeiten.
Sie sei dann im Winter 1940 gezwungen worden, "in dem Shop von R." eine Tätigkeit als Näherin aufzunehmen. Dort seien ca. 3.000 Arbeiter tätig gewesen, die für ihre Arbeit ein kleines Gehalt bekommen hätten. Von ihrem Gehalt habe sie ihren Beitrag zur Haushaltsführung der Familie bestritten. Bis zum Sommer 1943 sei sie in der Fa. R. tätig gewesen, dann nach A. deportiert worden, wo sie bis zum Kriegsende geblieben sei. Auf Umwegen sei sie im September 1945 in das DP-Lager L. am Lech gekommen. Sie habe begonnen, im Lagerkrankenhaus den Beruf einer Krankenschwester zu erlernen, nachdem sie zunächst als Hilfskraft beschäftigt gewesen sei.
Zur Glaubhaftmachung legte die Klägerin schriftliche Erklärungen vom 07.06.1991 und 30.05.1991 der P … B …, geb. am.1922 in B., und der A … B …, geb. am.1920 ebenfalls in B., vor. Beide gaben übereinstimmend an, die Klägerin seit der Umsiedlung der Familie nach B. zu kennen. Sie hätten sich im Rahmen der zionistischen Jugendbewegung getroffen. Die Zeugin B … bestätigte die Tätigkeit der Klägerin als Näherin in dem Shop R. im Jahre 1940. Diese habe für die Arbeit ein Gehalt bekommen, das sie für den Lebensunterhalt der Familie eingesetzt habe. Ihre Wege hätten sich getrennt, als sie, die Zeugin, aus B. deportiert worden sei. Sie hätten sich nach der Befreiung im Jahre 1945 wiedergetroffen. Die Klägerin habe sich im DP-Lager L. befunden, sie selbst in Z. bei B. Sie wisse, daß die Klägerin damals ein neues Leben begonnen und im Krankenhaus des Lagers gearbeitet habe, während sie gleichzeitig den Beruf der Krankenschwester erlernt habe. Darüber hinaus bekundete die Zeugin B …, die Klägerin habe im Frühjahr 1940 begonnen, mit einer Jugendgruppe "landwirtschaftliche Arbeit zu betreiben". Diese habe sie bis zum Winter 1940, als sie ihre Arbeit im Shop R. aufnahm, ausgeübt. Es habe sich um einen riesigen Betrieb gehandelt, in dem Uniformen für die Wehrmacht erzeugt worden seien. Das Gehalt der Klägerin sei im Verhältnis zu der von ihr geleisteten schweren Arbeit klein gewesen. Bis zu ihrer Verlegung nach A. im Sommer 1943 habe die Klägerin im Shop R. gearbeitet. 1945 habe sie die Kläger wiedergetroffen. Sie habe im Lagerkrankenhaus des DP-Lagers L. als Hilfskraft gearbeitet und dann begonnen, den Beruf der Krankenschwester zu erlernen.
Außerdem legte die Klägerin eine Bescheinigung der Landeswiedergutmachungsbehörde in München vom 06.11.1950 vor. Danach hatte sich die Klägerin in der Zeit vom 01.12.1945 bis zum 17.05.1948 rechtmäßig im DP-Lager L. aufgehalten.
Aus der von der Beklagten vom Bayerischen Landesentschädigungsamt in München beigezogenen Entschädigungsakte der Klägerin ergab sich u. a. folgendes:
Mit eidesstattlicher Erklärung vom 22.04.1954 hatte sie erklärt, sie habe sofort nach ihrer Umsiedlung ins Ghetto B. Ende 1939 zwangsweise zu arbeiten beginnen müssen, und zwar in der Schneidersammelwerkstatt von R … Zusammen mit den anderen sei sie unter Bewachung zur und von der Arbeit geführt worden. Auch vom Ghetto S. aus, in das sie im Juli 1940 eingewiesen worden sei, habe sie weiter bei R. gearbeitet. Mit weiterer eidesstattlicher Erklärung vom 17.04.1959 hatte die Klägerin u. a. angegeben, sie sei nach der Befreiung im Jahre 1945 zunächst noch etwa 3 Wochen in G. geblieben und durch russische Militärärzte behandelt worden. Nachdem sie sich 2 Monate im DP-Lager L. aufgehalten hatte, habe sie sich wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes ab August 1945 medizinisch behandelt lassen müssen. Im Sommer 1946 habe sie sich 3 Monate lang einer Jod-Kur in Bad R. unterzogen. Im Rahmen der Erstellung eines ärztlichen Gutachtens hatte die Klägerin ergänzend am 22.06.1960 erklärt, sie habe im Jahre 1946 wegen allgemeiner Schwäche mehrere Monate im DP-Lager W. im Hospital gelegen, sowie am 16.11.1960, sie sei im November 1939 mit Mutter und Schwester nach B. zurückgekehrt und am 01.01.1940 ins dortige Ghetto gekommen. Dort habe sie im Schneiderressort gearbeitet. Nach ihrer Befreiung im Jahre 1945 sei sie so entkräftet gewesen, daß sie zwei Wochen benötigt habe, um sich wieder an "normales" Essen zu gewöhnen. In der Hoffnung, dort etwas über das Schicksal ihres Vaters zu erfahren, habe sie sich mit einer Gruppe auf einem Pferdewagen nach L., anschließend nach W. begeben, wo sie einen erneuten Nervenzusammenbruch erlitten habe. Erst nach monatelanger ärztlicher Behandlung sei es ihr möglich gewesen, wieder nach L. zurückzukehren. Sie habe dort an einem Schwesternkurs teilgenommen. Wegen dauernder Krankheit habe sie ihre Teilnahme daran aber abbrechen müssen.
Im Entschädigungsverfahren hatte die Klägerin zur Glaubhaftmachung eine eidesstattliche Erklärung der G … B …, geb. am 1916, vom 22.04.1954 vorgelegt, die die Angaben der Klägerin bestätigte.
Den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente aus der deutschen Arbeiterrentenversicherung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 02.10.1992 mit der Begründung ab, es sei keine für die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeit vorhanden. Die Zahlung von Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung habe die Klägerin nicht nachgewiesen. Für die während des Ghettoaufenthaltes ausgeübte Tätigkeit habe aber auch keine Versicherungspflicht bestanden; denn es habe sich um Zwangsarbeit gehandelt. Eine Anrechnung über § 14 Abs. 2 a. F. bzw. § 12 n. F. FRG scheitere ebenfalls daran, daß kein beitragspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestanden habe. Zeiten des Ghettoaufenthaltes seien nur Ersatzzeittatbestände der Freiheitsbeschränkung bzw. -entziehung nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. § 250 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch 6. Buch (SGB VI).
Mit dem dagegen gerichteten Widerspruch vom 21.10.1992 machte die Klägerin geltend, die Zeit im Ghetto müsse, unabhängig davon, ob tatsächlich Beiträge entrichtet worden seien, jedenfalls einer Beitragszeit gleichgestellt werden.
Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.03.1993 als unbegründet zurück.
Zur Begründung ihrer am 29.03.1993 erhobenen Klage hat die Klägerin auf ihr bisheriges Vorbringen verwiesen und ergänzend vorgetragen, sie sei nach ihrer Befreiung in das DP-Lager L. am Lech gekommen, und zwar noch im Jahre 1945. Mit Hilfe der "Jewish Agency", dem Executivausschuß der Zionistischen Weltorganisation, hätten sie und ihr späterer Ehemann Z … Z … zwei Gruppen von Jugendlichen in ihrem Alter zusammengestellt, die mit dem Ziel der "breiten Umerziehung und Bildungstätigkeit" zur Vorbereitung auf das Leben in Palästina gemeinsam untergebracht worden seien. Die gerade gegründete UNRRA, Flüchtlingshilfe Weltorganisation der Vereinten Nationen, habe die Kibbutzim mit allem Lebensnotwendigen versorgt. Von der "Jewish Agency" hätten sie und ihr späterer Ehemann eine Bezahlung in Geld erhalten. Die Tätigkeit ihres Mannes habe in der Leitung des Kibbutz "B." bestanden sowie in der Erfüllung vieler administrativer Pflichten. Sie selbst habe ab Juli 1945 zehn Monate lang als praktische Krankenschwester im Lagerkrankenhaus gearbeitet, sei aber für die Erfüllung bestimmter Spezialaufgaben zeitweise freigestellt worden. So habe sie beispielsweise einmal einen Kindertransport durch Osteuropa bis zum DP-Lager L. begleitet. In der Zeit von Juni oder Juli 1946 bis zur Auswanderung nach Palästina Anfang 1947 habe sie eine Tätigkeit als Jugendleiterin in dem o. g. DP-Lager ausgeübt.
Mit Beschluss vom 29.01.1996 hat das Sozialgericht die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin beigeladen, da sie als leistungspflichtige Sozialversicherungsträgerin in Betracht komme. Ermittlungen der Beigeladenen, auch unter den früher geführten Namen der Klägerin, in ihrem eigenen Kontenarchiv sowie bei der AOK München, der LVA Oberbayern und beim Landratsamt L. sind ergebnislos verlaufen. Für die Nachkriegszeit hat sie ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht feststellen können. Zusätzlich hat das Landsratsamt L. mitgeteilt, nach den dortigen Unterlagen habe es eine Stelle als Jugendleiterin im DP-Lager L. nicht gegeben.
Die Klägerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.1992 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.1993 zu verurteilen, ihr unter Anerkennung von Beitragszeiten in den Jahren 1940 bis 1943 sowie 1945 und 1946 und dazwischen liegenden Ersatzzeiten Altersruhegeld zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die angefochtene Verwaltungsentscheidung für rechtmäßig gehalten.
Die Beigeladene hat keinen eigenen Antrag gestellt.
Mit Urteil vom 25.02.1997 hat das Sozialgericht Düsseldorf die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung von Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 5 RVO i. V. m. § 300 Abs. 2 SGB VI, da sie die erforderliche Wartezeit, vgl. § 1248 Abs. 2 S. 3, Abs. 5 RVO, nicht erfülle. Zu Recht habe die Beklagte weder Beitragszeiten gem. § 1250 Abs. 1 lit. a RVO noch anrechenbare Ersatzzeiten gem. §§ 1250 Abs. 1 lit. b, 1251 RVO berücksichtigt.
Die im Rahmen der Verfolgung in der Zeit von März 1940 bis August 1943 in der Schneiderwerkstatt R. im Ghetto B. ausgeübte Tätigkeit könne als Beitragszeit im Sinne von § 1250 RVO i. V. m. § 17 Abs. 1 lit. b FRG keine Berücksichtigung finden, denn sie stelle keine Beschäftigung im Sinne der Sozialversicherungsgesetze dar. Vielmehr sei sie als Zwangsarbeit zu bewerten. Bzgl. der Frage, ob sie eine Tätigkeit habe aufnehmen wollen und an welchem Arbeitsplatz, habe der Klägerin keinerlei Entscheidungsspielraum zugestanden. Sie habe selbst angegeben, sie sei gezwungen worden, in dem "Shop von R." zu arbeiten. Zu der und von der Arbeit sei sie unter Bewachung geführt worden. Es sei unter Todesstrafe verboten gewesen, das Judenviertel, in dem sie gewohnt habe, zu verlassen. Auch wenn die Anforderungen an das Element der Freiwilligkeit der Arbeitsaufnahme nicht zu hoch anzusetzen seien, unterschieden sich die von Klägerin geschilderten Umstände ihrer Arbeitsaufnahme und ihrer Tätigkeit doch deutlich von denjenigen z. B. im Ghetto L … Die Klägerin habe in einem individuellen öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnis zum deutschen Staat, verbunden mit der konkreten staatlichen Anordnung zur Arbeit, gestanden, das als wesentliches Kriterium ein Zwangsarbeitsverhältnis im Gegensatz zu einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis kennzeichne. Es sei auch nicht zur Begründung eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses gemäß der Zweiten Durchführungsverordnung zur Notdienstverordnung vom 10.10.1939 (RGBl. I S. 2018) i. V. m. § 7 Abs. 2 der Dritten Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 15.10.1938 (RGBl. I S. 1441) gekommen; denn bei Eintritt in den "Notdienst" sei die damals 15-jährige Klägerin nicht rentenversicherungspflichtig gewesen.
Schließlich habe die Klägerin auch Beitragszeiten von Juli bzw. Dezember 1945 bis Dezember 1946 im DP-Lager L. nicht glaubhaft gemacht. Die von der Beigeladenen eingeholten Auskünfte bei den zuständigen Institutionen hätten den Nachweis einer Entrichtung von Beiträgen nicht erbringen können. Aus der Entschädigungsakte der Klägerin ergebe sich im übrigen auch, daß diese wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes gar nicht in der Lage gewesen sei, die angegebenen Beschäftigungen auszuführen. Mangels anrechenbarer Beitragszeiten vor bzw. innerhalb von drei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit (Verfolgung) stellten auch diese keine Versicherungszeiten in Form von anrechenbaren Ersatzzeiten dar, vgl. §§ 1250 Abs. 1, 1251 Abs. 2 RVO.
Gegen dieses ihrer Bevollmächtigten am 27.03.1997 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 03.04.1997 Berufung eingelegt. Zur Begründung bezieht sie sich auf ihr bisheriges Vorbringen und führt ergänzend aus, insbesondere der Umstand, daß sie für ihre Tätigkeit in der Schneiderei R. ein kleines Entgelt erhalten habe, zeige, daß es sich um ein beitragspflichtiges Beschäftigungsverhältnis – unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse innerhalb eines Ghettos – gehandelt habe. Im übrigen sei der Arbeitseinsatz der Juden in allen in Oberschlesien gelegenen Ghettos unter Einschaltung des Judenrates erfolgt, der die berufliche und sonstige Qualifikation der jüdischen Arbeitnehmer gekannt habe und der auf das Begründen eines Arbeitsverhältnisses habe Einfluß nehmen können, wenn auch nicht auf dessen konkrete Ausgestaltung.
Zu dem Termin zur mündlichen Verhandlung vom 09.12.1998, zu dem die Bevollmächtigten der Klägerin und die Beigeladene geladen worden sind, ist für diese niemand erschienen.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25.02.1997 aufzuheben und nach dem Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Sowohl die Beklagte als auch die Beigeladene schließen sich den Ausführungen in dem erstinstanzlichen Urteil an, die sie für überzeugend halten.
Der Senat hat das von A … B … am 25.07.1997 zu dem unter dem Aktenzeichen S 4 (3) J 105/93 geführten Verfahren des Sozialgerichts Düsseldorf erstellte geschichtswissenschaftliche Gutachten beigezogen.
Die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Entschädigungsakten des Bayerischen Landesentschädigungsamtes haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Auf den Inhalt dieser Akten und den der Streitakten wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte in Abwesenheit der Klägerin, ihrer Prozeßbevollmächtigten und der Beigeladenen entscheiden; denn die Bevollmächtigten der Klägerin und die Beigeladene sind in der ihnen zugestellten Ladung, die sie auch erhalten haben, auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das Sozialgericht Düsseldorf hat zu Unrecht die Klage abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 02.10.1992 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.03.1993 ist rechtswidrig. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab dem 01.07.1989 unter Berücksichtigung einer fiktiven Beitragszeit von Januar 1941 bis August 1943 sowie unter Anrechnung von Ersatzzeiten von Januar bis Dezember 1940 und von September 1943 bis Mai 1945.
Der Anspruch auf Altersruhegeld der Klägerin richtet sich noch nach der RVO in der am 31.12.1991 gültigen Fassung, weil der Rentenantrag bereits im März 1990 gestellt worden ist und sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht, vgl. § 300 Abs. 2 SGB VI.
Gem. § 1248 Abs. 5 RVO erhält Altersruhegeld der Versicherte, der das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit nach Abs. 7 S. 3 der Vorschrift erfüllt hat. Die Wartezeit ist erfüllt, wenn eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt worden ist. Die Klägerin hat mehr als 60 Monate Versicherungszeit zurückgelegt.
Gem. § 1250 Abs. 1 lit. a und b RVO sind anrechnungsfähige Versicherungszeiten u. a. Zeiten, für die nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten (Beitragszeiten) sowie Zeiten ohne Beitragsleistung nach § 1251 RVO (Ersatzzeiten). Im Gebiet von B. ist das Recht der RVO ab 01. Januar 1940 durch die Verordnung über die Einführung der Rentenversicherung in den der Provinz Schlesien eingegliederten, ehemals polnischen Gebieten vom 16. Januar 1940 (RGBl. I S. 196, sog. Schlesienverordnung – Schlesien-VO -) eingeführt worden, ersetzt mit Wirkung vom 1. Januar 1942 durch die Einführung der Reichsversicherung in den eingegliederten Ostgebieten vom 22. Dezember 1941 (RGBl. I S. 777 ff. – Ostgebiete-VO -). Auf die Beschäftigung der Klägerin von Januar 1941 bis August 1943 ist daher als frühere Vorschrift der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO in der damals gültigen Fassung (a. F.) anzuwenden; denn die Klägerin stand während dieser Zeit in einem die Rentenversicherungspflicht begründenden Arbeits- bzw. Beschäftigungsverhältnis.
Gemäß § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO a. F. wurden in der Arbeiterrentenversicherung (Invalidenversicherung) insbesondere Arbeiter versichert. Unter einem Arbeiter war nach dem damaligen Recht eine Person zu verstehen, die in derselben Bedeutung beschäftigt und aufgrund dieser Beschäftigung pflichtversichert war wie eine Person, die im Sinne der Nachfolgevorschrift des § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO (in der bis Ende 1991 geltenden Fassung – n. F. -) "als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigt" war, das heißt nichtselbständige Arbeit verrichtete, § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 4. Buch (SGB IV). Damit war die Arbeit bzw. Beschäftigung Voraussetzung für die Entstehung des Rechtsverhältnisses zwischen dem Versicherten und dem Rentenversicherungsträger, das Grundlage und Abgrenzungskriterium für die in §§ 1250 ff. RVO a. F. bzw. §§ 1235 ff. RVO n. F. genannten bzw. geregelten Leistungen ist. Arbeit ist die auf ein wirtschaftliches Ziel gerichtete planmäßige Tätigkeit eines Menschen, gleichviel, ob geistige oder körperliche Kräfte eingesetzt werden (vgl. BSG, Urteil vom 18.06.1997, SozR 3 – 2200 § 1248 Nr. 15 mit weiteren Nachweisen). Nichtselbständig ist die Arbeit, wenn sie in dem Sinne fremdbestimmt ist, daß sie vom Arbeitnehmer hinsichtlich Ort, Zeit, Gegenstand und Art der Erbringung nach den Anordnungen des Arbeitgebers vorzunehmen ist. Rechtsgrundlage für Arbeit in diesem Sinne ist das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten. Typisch ist mithin, daß auf beiden Seiten jeweils eigene Entschlüsse zur Beschäftigung vorliegen, die nach dem Modell der Erklärungen bei einem Vertragsschluß geäußert werden. Nach seinem unmittelbaren Zweck und dem daran ausgerichteten Inhalt ist das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis ein Austausch wirtschaftlicher Werte im Sinne einer Gegenseitigkeitsbeziehung. Auszutauschende Werte sind die Arbeit einerseits und das dafür zu zahlende Arbeitsentgelt – der Lohn – andererseits. Eine wirtschaftliche Gleichwertigkeit braucht nicht gegeben zu sein; das Arbeitsentgelt muß allerdings einen Mindestumfang erreichen, damit Versicherungspflicht entsteht (vgl. § 1226 Abs. 2 i. V. m. § 160 RVO a. F. bzw. § 1228 Abs. 1 Nr. 4 – 1. Halbsatz RVO n. F. i. V. m. § 8 Abs. 1 SGB IV).
Die Klägerin arbeitete von Januar 1941 bis August 1943 in dem Schneidereibetrieb R. im Ghetto B. Diese Tätigkeit erfüllt alle Anforderungen, die an ein Beschäftigungsverhältnis zu stellen sind.
Daß die Klägerin im Schneidereibetrieb R. tatsächlich eine Arbeitsleistung erbracht hat, unterliegt nach im Renten- und Entschädigungsverfahren vorliegenden Zeugenaussagen keinen Zweifeln. Es handelte sich um Arbeit im Sinne eines zweckgerichteten Einsatzes der körperlichen oder geistigen Kräfte und Fähigkeiten.
Aufgrund der Erklärung der Zeugin B … und der Angaben der Klägerin sieht es der Senat auch als glaubhaft gemacht an, daß die Klägerin ein den Mindestumfang übersteigendes Entgelt in Reichsmark für ihre Arbeit im Shop R. erhalten hat; denn die Zeugin hat glaubhaft ausgeführt, der Klägerin sei ein, wenn auch geringes Entgelt gezahlt worden, und die Klägerin hat die Zahlung eines tariflichen Arbeitsentgelts angegeben.
Sie ging das Arbeitsverhältnis auch aus eigenem Willensentschluß ein. Der Umstand, daß die Klägerin selbst und die Zeugen im Entschädigungs- und Rentenverfahren hinsichtlich der verrichteten Tätigkeit von Zwangsarbeit gesprochen haben, steht dem nicht entgegen. Dies erklärt sich vielmehr daraus, daß ein indirekter, massiver und unmenschlicher Druck zur Arbeitsaufnahme bestand, der aus dem Arbeitsverhältnis zwar keine direkte Zwangsarbeit macht, der es aber nur zu verständlich erscheinen läßt, wenn die Beteiligten von Zwangsarbeit reden. Der Arbeitsplatz wurde der Klägerin durch den Judenrat vermittelt. Diese Angabe ist glaubhaft. Wie sich insbesondere aus dem Bodek-Gutachten ergibt, hatten die Juden in Oberschlesien das Wirtschafts- und Arbeitsleben organisiert, um der Deportation zu entgehen ("Rettung durch Arbeit"). Durch die Schaffung örtlicher Ältestenräte und der Zentrale der Ältestenräte der jüdischen Kultusgemeinde in Ost-Oberschlesien wurde u. a. die Stellung von jüdischen Arbeitskontingenten organisiert. Diesen jüdischen Einrichtungen stand der Sonderbeauftragte des Reichsführers SS und Chef der deutschen Polizei für fremdvölkerlichen Arbeitseinsatz in Ost-Oberschlesien ("Organisation Schmelt") gegenüber. Der Sonderbeauftragte erteilte entsprechende Weisungen und rekrutierte aus den von den jüdischen Organisationen gestellten jüdischen Arbeitskräften die notwendigen Arbeiter und Arbeiterinnen. Daraus folgt, daß jüdische Arbeitskräfte die Möglichkeit gehabt haben, in noch hinreichend freier Weise die Frage, ob sie ein Arbeitsverhältnis eingehen wollten, zu beantworten. Hätte die Klägerin keine Arbeit verrichtet, sich also gegen eine Arbeitsaufnahme oder Fortsetzung der Arbeit entschieden, hätte sie sich zwar wohl eher der Gefahr ausgesetzt, deportiert zu werden. Gleichwohl kann davon ausgegangen werden, daß sie dieses Wahlrecht noch hatte. Dafür spricht auch das von der Klägerin vorgelegte Foto eines Teils der Belegschaft der Firma R., das verdeutlicht, daß sich diese als Arbeitsgruppe und der Firma R. gegenüber durchaus verbunden fühlten. Die Beweggründe, die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung veranlassen, etwa Bedarfsdeckung, Gewinn- bzw. Einkommensmaximierung, Selbstverwirklichung u.a., aber spielen keine Rolle für die Frage, ob eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt oder nicht (vgl. BSG, a. a. O.).
In Abgrenzung zur Zwangsarbeit erbrachte die Klägerin die Arbeit nicht aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses. Zwar war sie bei der Erbringung der Arbeitsleistung auf einen räumlich engen Bereich – das Ghetto – begrenzt, dessen Verlassen – zumindest seit der Umwandlung des zunächsten noch offenen in ein geschlossenes Ghetto – den Bewohnern wegen drastischer Strafandrohung praktisch unmöglich war. Dies betrifft jedoch nur die allgemeinen sonstigen Lebensumstände des Versicherten, die nicht seine Arbeit, sondern sein häusliches, familiäres, wohn- und aufenthaltsmäßiges Umfeld betreffen, und deshalb bei der Abgrenzung, ob ein Beschäftigungsverhältnis vorliegt oder Zwangsarbeit, außer Betracht bleiben müssen. Ein öffentlich-rechtliches Gewaltverhältnis in Bezug auf die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses ist bei der Klägerin aber auch deshalb zu verneinen, weil diese dem Weisungsrecht des – von der Staatsgewalt zu trennenden – Arbeitsgebers unterlag und in dessen Betrieb eingegliedert war. Die Tatsache, daß die Klägerin unter Bewachung von und zu der Arbeit geführt wurde, ist in diesem Zusammenhang unbeachtlich; weil dies in seiner Auswirkung lediglich einer Verlängerung des Ghettos gleichkommt. Daß die Klägerin unter Bewachung gearbeitet hat, ergibt sich dagegen aus den Aussagen der Zeuginnen und den Angaben der Klägerin nicht. Davon geht der Senat auch nicht aus.
Ein Zwangsarbeitsverhältnis unterscheidet sich gegenüber dem Beschäftigungsverhältnis der Klägerin dadurch, daß eine – zumeist – spontane Verpflichtung zu einem bestimmten Arbeitseinsatz unmittelbar für den Staat und seine Organe begründet wird, verbunden mit der Gefahr des Einsatzes unmittelbarer Gewalt im Falle der Weigerung, Zwangsarbeit zu leisten.
Daß die Klägerin für den Zeitraum Januar 1941 bis August 1943 eine tatsächliche Beitragsentrichtung nicht glaubhaft gemacht hat, steht der Anrechnung dieser Zeiten als Beitragszeiten nicht entgegen; denn auch für diese Zeiten sind über § 14 Abs. 2 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) Beiträge zu fingieren, weil sie aus verfolgungsbedingten Gründen nicht erbracht worden sind. Zwar setzt § 14 WGSVG grundsätzlich eine bestehende Versicherungspflicht in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung voraus. § 14 Abs. 2 WGSVG ist aber auch in Verbindung mit Beitragszeiten nach § 17 Abs. 1 lit. B, § 15 Abs. 1 FRG anzuwenden, wenn – wie im vorliegenden Fall durch die Ostgebiete-VO – bestehende Versicherungsverhältnisse auf den deutschen Versicherungsträger übergegangen sind und die bisher nach polnischem Recht erworbenen Versicherungszeiten als von vornherein nach den Reichsversicherungsgesetzen zurückgelegte Zeiten behandelt werden (vgl. BSG, Urteil vom 15.10.1987, SozSich 1988, 189). Entsprechend wurden die in der ehemaligen polnischen Rentenversicherung zurückgelegten Beitragszeiten gem. § 20 Abs. 1 lit. a Ostgebiete-VO von den deutschen Versicherungsträgern übernommen, wenn der Versicherte die letzten polnischen Pflichtbeiträge vor dem Stichtag aufgrund einer Beschäftigung in den eingegliederten Ostgebieten entrichtet hatte. Das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis der Klägerin im Ghetto B. ist danach so zu behandeln, als ob es von vornherein nach den Reichsversicherungsgesetzen zurückgelegt wäre.
Bezüglich des Zeitraums von März bis Dezember 1940 hat die Klägerin im Rentenverfahren eine Tätigkeit für den Judenrat geltend gemacht, bei der nach Auffassung des Senates aber nicht das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Beschäftigungsverhältnis im oben beschriebenen Sinne glaubhaft gemacht worden ist. Die Zeugin B. hat lediglich angegeben, die Klägerin habe im Frühjahr 1940 begonnen, mit einer Jugendgruppe landwirtschaftliche Arbeiten zu betreiben. Daß sie in gewissem zeitlichen Umfang tätig war, ein Arbeitsentgelt erhielt, der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers unterlag etc., ergibt sich daraus nicht. Im Entschädigungsverfahren erwähnt die Klägerin diese Tätigkeit im übrigen gar nicht.
Ebenfalls ist die geltend gemachte Beschäftigung in den Jahren 1945 und 1946 im DP-Lager L. nicht als glaubhaft gemachte Beitragszeit anzuerkennen. Zur Begründung wird auf die insoweit zutreffenden Entscheidungsgründe des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25.02.1997 Bezug genommen. Sie hat sich der Senat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage zu eigen gemacht, vgl. § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Als Ersatzzeiten sind gem. § 1251 RVO die im Entschädigungsverfahren anerkannten Zeiten der Verfolgung, soweit keine fiktive Beitragszeiten vorliegen, zu berücksichtigen: Januar bis Dezember 1940 und September 1943 bis Mai 1945.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Anlaß, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden.
Erstellt am: 14.08.2003
Zuletzt verändert am: 14.08.2003