Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 06.05.1998 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.11.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.05.1997 verurteilt, der Klägerin auf ihren Antrag vom 08.08.1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01.09.1996 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Mit ihrer Berufung wendet sich die Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts, in dem ein Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit verneint wurde.
Die im … 1953 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie hat in der Türkei keine Schule besucht und kann auch heute weder in ihrer Muttersprache noch in deutscher Sprache lesen und schreiben. Im Alter von sechs Jahren begann sie, ihren Lebensunterhalt durch das Knüpfen von Teppichen zu verdienen. Mit 16 Jahren heiratete sie und kam nach der Geburt mehrerer Kinder 1974 nach Deutschland, wo sie seitdem lebt. Auch in Deutschland absolvierte sie keine Berufsausbildung. Sie arbeitete in verschiedenen ungelernten Tätigkeiten, für die Lese- und Schreibkenntnisse nicht notwendig waren, zuletzt bis 1991 als Putzfrau. Ab September 1991 bezog die Klägerin entweder Krankengeld oder Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit mindestens bis September 1996.
Einen ersten Rentenantrag der Klägerin von August 1992 lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Klägerin könne noch vollschichtig körperlich leichte Tätigkeiten verrichten. Das anschließende Klageverfahren blieb erfolglos (SG Düsseldorf – S 11 J 65/94 -; LSG NRW – L 3 J 111/95 -).
Im August 1996 stellte die Klägerin erneut einen Rentenantrag. Nach Einholung eines orthopädischen Gutachtens von Dr. V … lehnte die Beklagte diesen Antrag mit Bescheid vom 21.11.1996 erneut ab, da die Klägerin nach wie vor in der Lage sei, körperlich leichte Tätigkeiten vollschichtig zu verrichten. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20.05.1997).
Hiergegen hat die Klägerin am 18.06.1997 Klage erhoben. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben u.a. durch Einholung eines Gutachtens des Arztes für Orthopädie Dr. S …, der eine Funktionsstörung im Bereich der Halswirbelsäule C 2/C 3 und C 3/C 4 mit leichter Nervenwurzelreizung, zweimalige Nukleotomie L 4/L 5 mit Funktionsstörung im Bereich der Lendenwirbelsäule, Minderung der groben Kraft des linken Beines, Fußaußenrand- und Fußheberschwäche links, ausgeprägte hypertone Myalgie im Bereich der Lendenwirbelsäule und des Nerven- und Schultergürtels, Impingmentsyndrom des rechten Schultergelenks, Minderung der groben Kraft des linken Armes, Narbenbildung im Bereich der Lendenwirbelsäule, Genu valgum beidseits, Senk-Spreizfußbildung beidseits sowie operierten Hallux valgus beidseits diagnostizierte. Dieser Arzt hielt nur noch körperlich leichte Tätigkeiten mit kurzen Gehstrecken und wechselnd im Sitzen vollschichtig für möglich. Seiner Bewertung folgend hat das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 06.05.1998 abgewiesen. Ergänzend hat es dargelegt, dass auch wegen des Analphabetismus der Klägerin eine Verweisungstätigkeit nicht benannt werden müsse. Die hieraus resultierende Leistungseinbuße sei nämlich nicht auf eine Gesundheitsstörung zurückzuführen.
Nach Zustellung des Urteils am 14.05.1998 hat die Klägerin am 18.05.1998 Berufung eingelegt. Sie meint nach wie vor, wegen ihrer Wirbelsäulenerkrankung und auch unter Berücksichtigung des Analphabetismus erwerbsunfähig zu sein.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts vom 06.05.1998 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.11.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.05.1997 zu verurteilen, ihr auf ihren Antrag Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie meint insbesondere, der Analphabetismus der Klägerin beruhe ausschließlich auf einem unzureichenden Schulbesuch in der Türkei und sei deshalb rentenrechtlich irrelevant. Soweit das Bundessozialgericht im Urteil vom 04.11.1998 – B 13 RJ 13/98 R – entschieden habe, einem Versicherten, der Analphabet sei und der nur noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten verrichten könne, sei eine Verweisungstätigkeit zu benennen, sei dem nicht zu folgen. Die generelle und unterschiedslose Berücksichtigung eines ausschließlich auf sozialen Verhältnissen beruhenden Analphabetismus könne dazu führen, dass ein nicht auf gesundheitlichen Gründen beruhendes und damit unversichertes Risiko im Ergebnis den Rentenanspruch begründen würde. Diese Auslegung entspreche nicht den vom Großen Senat des Bundessozialgerichts aufgestellten Grundsätzen zur rentenrechtlichen Relevanz von Gesundheitsstörungen (BSGE 80, 24 ff.).
Der Senat hat zunächst in medizinischer Hinsicht Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Arztes für innere Medizin und Betriebsmedizin Dr. L … auf Antrag der Klägerin. Insoweit wird auf Bl. 155 ff. der Prozessakten Bezug genommen. Nach Einholung verschiedener Befundberichte ist sodann der Neurologe und Psychiater A … zum Sachverständigen ernannt worden.
Wegen seines Gutachten vom 07.09.2001 wird auf Bl. 227 ff. verwiesen.
Ferner sind berufskundliche Auskünfte des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen zu Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit einem den Fähigkeiten der Klägerin entsprechenden Anforderungsprofil beigezogen worden, so insbesondere die Auskunft vom 13.09.2001 zu Anforderungsprofilen von Küchenhilfen, eine Auskunft vom 10.01.2001, ein Sitzungsprotokoll mit einer Vernehmung der Sachgebietsleiterin beim Landesarbeitsamt B … S … vom 20.09.2000 aus dem Verfahren L 8 RJ 86/98 – LSG NRW – ein Vermerk vom 08.10.1999, Auskünfte des Arbeitsamtes C … vom 02.11.1999 und 23.02.2000. Ferner ist aufgrund des Beschlusses des Senats vom 28.01.2002 die Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg um Auskunft zur Frage einer beruflichen Tätigkeit leistungsgeminderter Analphabeten gebeten worden. Auf das Antwortschreiben vom 28.06.2002, Bl. 288 f. der Streitakten, wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Prozessakten, der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Prozessakten S 11 J 65/94 – SG Düsseldorf -, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 21.11.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.05.1997 ist rechtswidrig, da die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01.09.1996 hat.
Der Rentenanspruch der Klägerin richtet sich noch nach § 44 SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung. Die zum 01.01.2001 durch das Gesetz zur Form der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 30.12.2000 (BGBl. I, 1827) in Kraft getretene Neuregelung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit berührt den Anspruch der Klägerin nach dem bisherigen Recht gemäß § 300 Abs. 2 SGB VI nicht.
Nach § 44 SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung (künftig: a.F.) haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn sie
1. erwerbsunfähig sind,
2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Abs. 1 Satz 1).
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Nach den auch vom Senat nicht zu beanstandenden Feststellungen der Beklagten erfüllt die Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3), da sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit im Jahre 1996 unter Berücksichtigung von Aufschubzeiten wegen des Bezugs von Krankengeld bzw. Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung hat, und die Klägerin vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit auch die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten (§ 50 Abs. 1 SGB VI) erfüllt. Insbesondere ist die Klägerin auch erwerbsunfähig. Nach § 44 Abs. 2 SGB VI a.F. sind erwerbsunfähig Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder ein mehr als geringfügiges Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen. Dies ist bei der Klägerin der Fall.
Die Klägerin ist nach ihrem körperlichen und geistigen Leistungsvermögen nur noch in der Lage, eine körperlich leichte Tätigkeit mit kurzen Gehstrecken und wechselnd im Sitzen auszuüben. Zu diesem Ergebnis sind die gerichtlichen Sachverständigen Dr. S …, Dr. L … und A … mit überzeugenden Begründungen gelangt. In weitgehender Übereinstimmung mit den von der Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten ist die körperliche Leistungsfähigkeit der Klägerin insbesondere durch die von Dr. S … diagnostizierten Erkrankungen der Hals- und Lendenwirbelsäule und einer darauf beruhenden Minderung der groben Kraft des linken Beines sowie einer Fußaußenrand- und Fußhebe schwäche links eingeschränkt. Ergänzend sind hier die ausgeprägte Myalgie im Bereich der Lendenwirbelsäule und im Nacken- und Schultergürtel, das Impingmentsyndrom des rechten Schultergelenkes sowie die Minderung der groben Kraft des linken Armes zu berücksichtigen. Zu derartigen Diagnosen sind nahezu sämtliche die Klägerin begutachtenden Ärzte ebenso wie die Hausärzte der Klägerin gelangt. Sie beruhen auf eingehenden körperlichen Untersuchungen der Klägerin unter Berücksichtigung von mit apparativer Diagnostik gewonnenen Erkenntnissen. Die Gutachten sind insofern in sich folgerichtig und schlüssig. Der Senat sieht keinen Grund, von diesen Feststellungen abzuweichen. Er hält insbesondere die wertende Beurteilung einer nur noch körperlich leichten Tätigkeit mit weiteren Einschränkungen für folgerichtig und überzeugend. Letztlich haben auch die Beteiligten hieran keine Kritik geäußert. Soweit darüber hinaus noch eine Seh- und Hörstörung bei der Klägerin beschrieben wird, bedingt das nach dem Inhalt der Befundberichte und der Beurteilung des Sachverständigen Dr. L … keine weitere wesentliche Leistungsminderung; gleiches gilt auch für die mittlerweile operierte Lymphknotenschwellung. Zusätzlich leidet die Klägerin allerdings in neurologisch-psychiatrischer Hinsicht unter dem vom Sachverständigen A … diagnostizierten psychovegetativen Syndrom. Diese Diagnose wird auch von dem sie hausärztlich behandelnden Dr. K … bestätigt. Soweit Dr. K … demgegenüber Zweifel daran äußert, ob der Sachverständige A … die Schwere dieser Erkrankung zutreffend erfasst hat, vermag das den Senat nicht zu überzeugen. Dr. K … stimmt mit der Diagnose des gerichtlichen Sachverständigen überein. Auch die von ihm beschriebenen Symptome sprechen eher für ein psychovegetatives Syndrom. Die Beschwerden sind – hier folgt der Senat dem Sachverständigen A … – unspezifisch und lassen sich, soweit sie über die orthopädisch bedingten Beschwerden hinausgehen, keiner organischen Erkrankung und keiner anderweitigen psychischen Erkrankung zuordnen. Zur Einholung einer ergänzenden Stellungnahme von A … sah sich der Senat schon deswegen nicht veranlasst, weil die von Dr. K … beschriebenen Erkrankungen aufgrund des Befundberichts von Dr. K … dem Sachverständigen A … bereits bekannt waren, und er sie bei seiner Beurteilung berücksichtigt hat.
Nicht zu folgen vermag der Senat jedoch der abweichenden neurologisch-psychiatrischen Diagnostik des gemäß § 109 SGG gehörten Sachverständigen Dr. L …, wenn dieser von einem chronischen Schmerzsyndrom spricht. Diese Diagnose wird zum einen von den behandelnden Ärzten nicht gestellt. Zum anderen beschreibt insbesondere der Neurologe Dr. K … kein vom psychischen Befinden unabhängiges eigenständiges Schmerzsyndrom. Auch der Sachverständige A … vermochte eine derartige Erkrankung nicht zu bestätigen. Unabhängig davon ändert diese fragliche Diagnose nichts an der Beurteilung der Leistungsfähigkeit insgesamt, da auch Dr. L … noch von einer grundsätzlich möglichen vollschichtigen leichten Tätigkeit der Klägerin ausgeht.
Wenngleich somit die Klägerin zumindest noch zu einer körperlich leichten Tätigkeit mit weiteren Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in der Lage ist, ist sie gleichwohl unter Berücksichtigung ihres muttersprachlichen Analphabetismus erwerbsunfähig.
Der Senat folgt grundsätzlich dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 04.11.1998 (B 13 RJ 13/98 R, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 62). Auch eine im Ausland aufgewachsene Versicherte ist mit ihren tatsächlichen Kräften und Fähigkeiten versichert. Insofern sind grundsätzlich alle berufsrelevanten Kenntnisse und Fertigkeiten zu berücksichtigen, was sich schon daraus erhellt, dass keine vom tatsächlichen Leistungsvermögen losgelöste, fiktive Beurteilung zu erfolgen hat. Ein muttersprachlicher Analphabetismus ist eine die Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt stark beeinflussende Fähigkeit, die jedenfalls bei einem nur noch körperlich leichten Restleistungsvermögen eine Erwerbstätigkeit ausschließt.
§ 44 SGB VI a.F. löste § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung ab. Die letztgenannte Norm brachte deutlicher zum Ausdruck, was sich erwerbsmindernd auswirkt, wenn nämlich dort von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche der körperlichen und geistigen Kräfte die Rede war. Wenngleich eine derartige begriffliche Erklärung in § 44 Abs. 1 SGB VI a.F. nicht enthalten ist, besteht kein Grund, von der interpretierenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. etwa Urteil vom 24.04.1996, 5 RJ 56/95, SozR 3-2600 § 44 Nr. 6, BSGE 78, 163) abzuweichen. Es gibt keine Erkenntnisse, dass der Gesetzgeber des SGB VI mit der sprachlich anderen Fassung der Definition der geminderten Erwerbsfähigkeit den zugrundeliegenden Definitionsrahmen verändern wollte. Damit richtet sich die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit immer noch danach, was ein Versicherter aufgrund der medizinisch ermittelten körperlichen, aber auch geistig und seelischen Fähigkeiten noch leisten kann sowie nach der Bewertung dieser Fähigkeiten unter Zugrundelegung der Verhältnisse des allgemeinen Arbeitsmarktes. Nach wie vor beinhaltet der Begriff der Erwerbsfähigkeit ebenso wie der der Erwerbsunfähigkeit alle berufsrelevanten Kenntnisse und Fertigkeiten des Versicherten. Dazu gehört dann auch folgerichtig die Fähigkeit, in der Muttersprache lesen und schreiben zu können (vgl. etwa zur beruflich geforderten Sprachgewandtheit BSG Urteil vom 06.02.1991 – 13/5/4a RJ 47/87 -; vom 06.03.1991 – 13/5 RJ 5/89 -; vom 19.06.1997 – 13 RJ 93/96 -).
Dies verkennt die Ansicht, die bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ausschließlich gesundheitliche Gründe als ursächlich betrachtet wissen will (vgl. Kunze, DRV 2001, 189 f.; Kühl, SGb 1999, 551 f.) und insoweit auch einen Verstoß gegen (vermeint lich) vom Großen Senat des Bundessozialgerichts (Beschluss vom 19.12.1996 – GS 2/95 – = SozR 3-2600 § 44 Nr. 8, BSGE 80, 24) aufgestellte Grundsätze sieht. Zwar hat der Große Senat in seiner Entscheidung dargelegt, ein Versicherter, der noch vollschichtig arbeiten könne, sei nicht deshalb als erwerbsunfähig anzusehen, weil neben den gesundheitlichen Einschränkungen Risikofaktoren wie Langzeitarbeitslosigkeit und vorgerücktes Alter oder mangelhafte Ausbildung die Vermittlungschancen zusätzlich erschwerten.
Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Entscheidung des Großen Senats in erster Linie zu der Frage verhält, ob die Fallgruppen, bei denen in der Rentenversicherung bisher die erhebliche Gefahr einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes angenommen wird, mit Rücksicht auf ältere arbeitslose ungelernte Versicherte oder ältere arbeitslose angelernte Versicherte des unteren Bereichs zu erweitern waren. All diese Gesichtspunkte treffen den vorliegenden Sachverhalt aber nicht. Zum einen kommt nämlich der Fähigkeit, in der Muttersprache lesen und schreiben zu können, eine andere Bedeutung zu als allgemein dem Alter bei unzureichender beruflicher Ausbildung. Derartige Gründe stehen zu mindest der Möglichkeit zu arbeiten, nicht entgegen, mag sich das tatsächlich in der Praxis auch aufgrund von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftlichkeit völlig gelöst von Anforderungen des konkreten Arbeitsplatzes anders darstellen. Diese Möglichkeit ist jedoch dem muttersprachlichen Analphabeten aufgrund arbeitsplatzbezogener Anforderungen nicht eröffnet (dazu unten). Zum anderen sind hier weder eine Verschlossenheit des Arbeitsmarktes noch die Erweiterung der Gründe, die eine Pflicht zur Benennung einer konkreten Tätigkeit bedingen, zu diskutieren. Neben diesen besonderen Fallgestaltungen ist nämlich grundsätzlich immer die Frage zu beantworten, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen überhaupt in einem Betrieb einsetzbar ist. Bestehen daran ernsthafte Zweifel, führt dies zu der individuellen Prüfung, ob dem Versicherten der Arbeitsmarkt offen ist oder nicht (so ausdrücklich auch Großer Senat, a.a.O.; dem folgend BSG, Urteil vom 23.03.2000 – B 13 RJ 65/99 R – SozSich 2001, 207 ff.).
Hat das Unvermögen, in der Muttersprache weder lesen noch schreiben zu können, einen Versicherten jahrelang nicht gehindert, in Deutschland versicherungspflichtig tätig zu sein, dann kann dies ferner bei der Realisierung des durch Beitragszahlung erworbenen Versicherungsschutzes nicht außer Betracht bleiben. Auch insoweit folgt der Senat dem Bundessozialgericht (Urteil vom 04.11.1998 – B 13 RJ 13/98 R – SozR 3-2200 § 1246 Nr. 62). Die Richtigkeit dieser Folgerung erhellt sich nach Auffassung des Senats insbesondere daraus, dass bei einer derartigen Fallkonstellation letztlich das Herabsinken der körperlichen Leistungsfähigkeit nach der im Sozialrecht geltenden Kausalnorm die wesentliche Bedingung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ist und nicht der muttersprachliche Analphabetismus. Dieser hat den Versicherten – wie gerade auch der vorliegende Fall zeigt – eben nicht gehindert, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Deutschland tätig zu sein. Erst die Verringerung der körperlichen Leistungsfähigkeit auf die Fähigkeit, nur noch leichte körperliche Tätigkeiten mit weiteren Einschränkungen verrichten zu können, führt zur Prüfung, ob ernsthafte Zweifel daran bestehen, dass die Versicherte mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.
Es handelt sich somit bei muttersprachlichem Analphabetismus gerade nicht um einen "versicherungsfremden" Umstand, der eine Risikoverschiebung zu Lasten der Rentenversicherung zur Folge hat. Der Senat verkennt nicht, dass angesichts von rund vier Millionen Menschen allein der deutschen Bevölkerung (www.zdf.de./ Kultur: Dichther unt Dencker – Analphabetismus in Deutschland) ein erhöhtes Risiko besteht. Allein das Risiko ist jedoch kein Grund, den Umfang des Versicherungsschutzes zu beschränken.
Die ernsthaften Zweifel, ob die Klägerin in einem Betrieb einsetzbar ist, haben sich nach den Ermittlungen des Senats bestätigt und begründen letztlich sogar die Schlussfolgerung, dass mit den verbliebenen Fähigkeiten eine Tätigkeit der Klägerin auf dem deutschen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist.
Im Einzelnen:
Das Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen hat in einem Vermerk vom 13.09.2001 dargelegt, dass Analphabeten bislang auf die Tätigkeit einer Küchenhilfe verwiesen werden konnten. Aufgrund verstärkter Hinweise, dass sich das Tätigkeitsprofil einer Küchenhilfe nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ in den vergangenen 12 Monaten verändert habe, hätten Arbeitsplatzerkundungen an verschiedenen Betriebsstätten jedoch sodann ergeben, dass es nur noch vereinzelt Arbeitsplätze für Küchenhilfen ohne Anforderungen an die Lese- und Schreibfähigkeit mit körperlich leichten Arbeiten im Wechsel von Stehen, Sitzen und Gehen gebe. In der Regel, so das Landesarbeitsamt, seien die Arbeitsplätze mit der Anforderung von Lesen, Schreiben, Rechnen oder zumindest gelegentlich mittelschweren bis schweren Arbeiten verbunden. Auch Arbeitsplätze, an denen lediglich körperlich leichte Arbeiten anfielen, erforderten gleichzeitig vermehrt Lese- und Schreibkenntnisse. Dies deckte sich mit der Aussage der sachverständigen Zeugin B … S …, Sachgebietsleiterin beim Landesarbeitsamt Nordrhein-Westfalen, die der Senat aus dem Verfahren L 8 RJ 86/98 – LSG NRW – in das Verfahren eingeführt hat. Die sachverständige Zeugin S … hat am 20.09.2001 vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit als Sachgebietsleiterin für Berufs- und Wirtschaftskunde beim Landesarbeitsamt seit dem Jahre 1990 bereits dargelegt, dass sie aktuell aus 278 Stellenangeboten nur eine Stelle habe ermitteln können, bei der lediglich körperlich leichte Anforderungen zu erfüllen seien. Eine Sichtung der Arbeitsplatzangebote habe in fast allen Fällen dazu geführt, dass Lese- und Schreibkenntnisse auch für ungelernte Tätigkeiten gefordert würden. Nur bei der ganz einfachen Müllsortierung könne sie sich vorstellen, dass keinerlei Lese- oder ähnliche Kenntnisse erforderlich seien. Die vom Senat ausdrücklich zur Klärung dieser Frage befragte Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 28.06.2002 dargelegt, sie schließe sich dem Vermerk des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen vom 13.09.2001 an. Analphabetismus bedeute eine eklatante Einschränkung der Vermittlungsmöglichkeiten, da die Beherrschung der Schriftsprache eine notwendige Grundqualifikation sei, um am Erwerbsleben teilnehmen zu können. Zwar hat die Hauptstelle auch spekuliert, dass angesichts bundesweit 10609 offener Stellen für Küchenhilfen nicht vollständig ausgeschlossen werden könne, dass sich darunter ggf. auch ein Arbeitsplatz befinde, der den Einschränkungen der Klägerin entspreche. Allein diese sich schon aus der Formulierung der Bundesanstalt für Arbeit als rein theoretisch darstellende Möglichkeit ist jedoch nach Auffassung des Senats gerade vor dem Hintergrund des Vermerks des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen vom 13.09.2001 und der Aussage der sachverständigen Zeugin S … eher ausgeschlossen als realistisch. Soweit der Arbeitsberater Kurtz des Arbeitsamtes C … der Bundesanstalt für Arbeit in seinem Schriftsatz vom 02.11.1999 für entsprechend den Einschränkungen der Klägerin leistungsgeminderte Versicherte eine Tätigkeit als Verpacker für Kleinteile gesehen hat, hat die Bundesanstalt für Arbeit – Arbeitsamt C … – mit weiterem Schreiben vom 23.02.2000 diese Auffassung zurückgenommen und sich nunmehr der berufskundlichen Stellungnahmen des Landesarbeitsamtes Nordrhein-Westfalen angeschlossen. Nach dieser Auskunft vom 18.04.2000 handelt es sich bei der Tätigkeit des Verpackers und Sortierers um eine leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeit in geschlossenen Räumen, die überwiegend sitzend und vornübergebeugt ausgeführt wird und zum Teil im Akkord am Fließband in Wechselschicht erfolgt. Die Augen werden durch räumliches Sehen stark beansprucht. Weiter ergeben sich oft statische Belastungen der Arme. Diese Tätigkeitsbeschreibung schließt eine Tätigkeit der Klägerin als Verpackerin und Sortiererin von Kleinteilen unabhängig von der Frage des Analphabetismus schon deswegen aus, weil sie nach ihrem körperlichen Leistungsvermögen derartige Tätigkeiten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme aus den dargelegten Gründen nicht mehr verrichten kann.
Weitere Erkenntnismöglichkeiten insbesondere zur Ermittlung von für die Klägerin geeigneten Arbeitsplätzen sieht der Senat nicht. Auch die Beklagte hat selbst unter Berücksichtigung einer in einer derartigen Situation gesteigerten Benennungspflicht ihrerseits (vgl. hierzu BSG Urteil vom 14.05.1996 – 4 RA 60/94 – SozR 3-2600 § 43 Nr. 13, BSGE 78, 207 ff.) keine Tätigkeit beschrieben, die die Klägerin noch ausüben könnte.
Aufgrund ihres Antrages im August 1996 steht der Klägerin somit ab 01.09.1996 (§ 99 Abs. 1 SGB VI) der Rentenanspruch nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen. Trotz der zitierten Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 04.11.1998 – B 13 RJ 13/98 R – sieht die Beklagte offenbar auch vor dem Hintergrund der großen Zahl potentieller Analphabeten noch einmal grundsätzlichen Klärungsbedarf durch das Bundessozialgericht. Dieser Intention vermochte sich der Senat nicht zu verschließen.
Erstellt am: 12.08.2003
Zuletzt verändert am: 12.08.2003