Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24.07.2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darum, ab welchem Zeitpunkt dem Kläger Versorgungsrente zu gewähren ist.
Der 1936 geborene Kläger lebt in Polen. Seit 1998 besitzt er die deutsche Staatsbürgerschaft. Im Juli 1970 beantragte er erstmals Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und gab hierzu an, am 07.03.1946 infolge einer Mienenexplosion den linken Unterarm und das linke Auge verloren zu haben. Mit Schreiben vom 24.05.1971 erklärte er: "Möchte mitteilen, dass ich nicht die Absicht hatte eine Rente zu erhalten." Das Verwaltungsverfahren wurde darauf eingestellt. Im November 1996 beantragte der Kläger neuerlich Versorgung. Sein Bruder habe am 07.03.1946 einen Gegenstand ins Haus gebracht, der dann explodiert sei. Der Bruder sei hierdurch zu Tode gekommen. Er selbst habe den linken Unterarm und die Sehkraft des linken Auges verloren. Infolge seines bereits 1970 gestellten Antrags habe ihm der polnische Staat enorme Schwierigkeiten gemacht. Schließlich habe er sogar seine Arbeitsstelle verloren. Er sei daher damals gezwungen gewesen, seine Bemühungen um eine Entschädigung einzustellen. Mit Bescheid vom 21.09.1998 (abgesandt am 23.09.1998) gewährte der Beklagte wegen der Schädigungsfolgen "Verlust des linken Armes im Unterarm, Atrophie und Blindheit des linken Auges" eine Entschädigungsrente nach einer MdE um 70 v.H. ab dem 01.11.1996 (Monat der Antragstellung). Den hier gegen gerichteten Widerspruch (Eingang: 23.11.1998) begründete der Kläger damit, dass die MdE höher bemessen werden müsse, weil durch die Explosion auch die Hörkraft links beeinträchtigt sei, zudem sei der Antrag bereits 1970 gestellt worden. Mit Bescheid vom 16.09.1999 half der Beklagten dem Widerspruch insoweit ab, als er als weitere Schädigungsfolge "geringfügige kombinierte Schwerhörigkeit des linken Ohres" bei einer MdE von weiterhin 70 v.H. anerkannte. Den Widerspruch im übrigen wies der Beklagte mit Bescheid vom 26.01.2000 zurück, dem Kläger zugegangen am 05.04.2000.
Hiergegen richtet sich die am 03.05.2000 beim SG Münster eingegangene Klage. Der Kläger hat unter Beifügung von zwei Zeugenerklärungen vorgetragen: Die polnische Geheimpolizei habe ihn 1971 gezwungen, den ersten Versorgungsantrag zurückzunehmen. Die Kontrollkommission des polnischen Innenministeriums habe damals veranlaßt, dass er seine Stellung als Abteilungsleiter für Organisation und Betriebsleistung bei der Z … Ch … B … S … verloren habe. Zwar habe er dann eine Anstellung bei der Firma Plastvereinigung in Z … Ch … B … S. gefunden. Hierzu habe er sich aber verpflichten müssen, auf eine Rente aus Deutschland zu verzichten. Seit 1996 befinde er sich im Ruhestand.
Nach seinem schriftlichen Vorbringen hat der Kläger sinngemäß beantragt, den Beklagten unter teilweise Aufhebung der Bescheide vom 21.09.1998 und 16.09.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2000 zu verurteilen, die Rente nach einer MdE um 70 v.H. rückwirkend ab dem 01.07.1970 zu zahlen.
Der Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen und hierzu die Auffassung vertreten, dass dem Anspruch des Klägers § 60 BVG entgegenstehe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage – ohne mündliche Verhandlung – mit Urteil vom 24.07.2001 abgewiesen und ausgeführt:
Ein Versorgungsanspruch bestehe erst ab Antragstellung. Den Antrag vom Juli 1970 habe der Kläger am 24.05.1971 zurückgenommen. Der Antrag als materielle Anspruchsvoraussetzung sei damit nicht existent gewesen. Unschädlich sei eine Antragsrücknahme nur, wenn sie auf fehleehaften Auskünften oder Empfehlungen des Beklagten beruhe. Das sei hier nicht der Fall. Die vom Kläger glaubhaft vorgetragene Nötigung durch staatliche polnische Stellen könne nicht dem Beklagten zugerechnet werden. Maßgebend für den Beginn der Versorgung sei daher der Antrag aus November 1996. Auf § 60 BVG könne der Kläger seinen Anspruch auf rückwirkende Leistungen nicht stützen. An einer erneuten Antragstellung sei er nicht gehindert gewesen. Er habe vielmehr vor der Wahl gestanden, entweder eine leitende Stelle in einem Industrieunternehmen zu erhalten oder eine Entschädigungsrente zu beziehen; wenn er sich für die berufliche Anstellung entschieden habe, sei dies nachvollziehbar, rechtfertige aber nicht die Annahme eines Hinderungsgrundes im Sinn des § 60 BVG. Angesichts dieser Sachlage bedürfe es keiner Prüfung mehr, ob der vom Kläger geltend gemachte Hinderungsgrund noch bis November 1995 (das Jahr vor der Antragstellung) fortbestanden habe.
Diese Entscheidung greift der Kläger fristgerecht mit der Berufung an. Entgegen der Auffassung des SG habe er keinen neuen Antrag stellen können. Er habe nicht die vom SG aufgezeigte Wahl zwischen einer Anstellung einerseits oder einer Rente andererseits gehabt. Sein Problem sei es gewesen, überhaupt eine Stellung als Angestellter zu erhalten. Die politischen Verhältnisse und die Einstellung der polnischen Bevölkerung zu Deutschland und den Deutschen hätten sich erst ab 1990 verbessert. Deswegen habe er seinen Antrag erst 1996, kurz vor dem Ruhestand, gestellt.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 24.07.2001 abzuändern und den Bekagten unter Abänderung der Bescheide vom 21.09.1998 und 16.09.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.01.2000 zu verurteilen, ihm Rente nach einer MdE um 70 v.H. rückwirkend ab 01.07.1970 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Er meint, es sei nicht erkennbar, aus welchem Grund der Kläger bis November 1995 (Jahresfrist vor Antragstellung) nach den zu § 67 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entwickelten Grundsätzen an einer Antragstellung gehindert gewesen sei.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im übrigen nimmt der Senat Bezug auf den Inhalt der Streitakten sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Der Senat entscheidet den Rechtsstreit durch Beschluss gem. § 153 Abs. 4 SGG. Zwar hat das SG im Einvernehmen mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 SGG). Dies steht einem urteilsersetzenden Beschluss jedoch nicht entgegen, denn diese Entscheidungsform ist nach § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG nur dann ausgeschlossen, wenn das SG durch Gerichtsbescheid (§ 105 SGG) entschieden hätte. Das ist nicht der Fall. Die Voraussetzungen des § 153 Abs. 4 SGG sind erfüllt. Der Senat hält die Berufung einstimmig für unbegründet. Eine mündliche Verhandlung ist angesichts der eindeutigen Sach- und Rechtslage nicht erforderlich. Die Beteiligten sind hierzu mit Schreiben vom 10.04.2002 angehört worden. Einwände haben sie nicht erhoben.
Zutreffend hat das SG die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig; der Kläger wird hierdurch nicht beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG.
Leistungen des Sozialen Entschädigungsrechts (SER) werden nur auf Antrag gewährt. Als Grundnorm des SER bestimmt § 1 Abs. 1 BVG, dass wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schädigung Versorgung auf Antrag gewährt wird. Dieser Antrag hat materiell-rechtliche Bedeutung, d.h. der Anspruch auf Leistungen des SER entsteht nicht schon mit der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes, soweit er vom Willen des Berechtigten unabhängig ist, wie dem Eintritt des schädigenden Ereignisses und der Schädigungsfolgen. Vielmehr muss zu diesen Tatbestandsmerkmalen der Antrag des Berechtigten als rechtsbegründender Faktor hinzukommen (Fehl in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 1992, § 1 Rdn. 110 m.w.N.).
Im Sinne des § 40 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) entsteht der Anspruch auf Entschädigungsleistungen sonach erst, wenn die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 BVG einschließlich eines rechtswirksamen Antrags vorliegen (vgl. LSG Rheinland-Pfalz vom 07.11.1995 – L 4 V 26/95 -). Der Antrag ist darüber hinaus maßgebend für den Leistungsbeginn. Nach § 60 Abs. 1 Staz 1 BVG beginnt die Versorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat.
Der Kläger hat einen rechtswirksamen Antrag zunächst am 07.07.1970, beim Beklagten eingegangen am 14.07.1970, gestellt. Der Entschädigungsanspruch war hierdurch zunächst entstanden, denn die weiteren Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 BVG sind und waren auch schon seinerzeit erfüllt. Der Anspruch ist indes wieder entfallen. Die Anspruchsvoraussetzung "Antrag" ist, und zwar rückwirkend bezogen auf den Zeitpunkt der Antragstellung vom 07.07.1970, beseitigt worden, indem der Kläger den Antrag im Mai 1971 wirksam zurückgenommen.
Als Ausnahme zu § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG sieht § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG vor, dass Versorgung auch für die Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten ist, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach dem Eintritt der Schädigung gestellt wird. Hierdurch wird Beschädigten allgemein ein Jahr Zeit gegeben, den Anspruch auf Leistungen des SER ohne Nachteile hinsichtlich des Leistungsbeginns erstmals geltend zu machen (sog. Überlegungsfrist). Der Kläger kann sich hierauf jedoch nicht berufen, denn die Schädigung ist bereits am 07.03.1946 eingetreten. Die Überlegungsfrist des Satzes 2 verlängert sich nach Satz 3 um Zeiten, in denen der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert war. Eine Verhinderung liegt vor bei Umständen, die von dem Beschädigten unbeeinflussbar waren (z.B. Naturkatastrophen, Streik, unabwendbare Zufälle); eine Verhinderung liegt nicht vor, wenn der Antrag aus dem freien Willen des Antragstellers unterbleibt, z.B. wenn der Antrag für aussichtslos gehalten wird (LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 10.05.2001 – L 3 VI 30/00 – in Breithaupt 2002, 131 ff). Ohne Verschulden an der Antragstellung verhindert ist, wer diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem im Verwaltungsverfahren gewissenhaft Handelnden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist. die Versäumung der Verfahrnsfrist muß auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt unvermeidbar gewesen sein (BSG vom 15.08.2000, – B 9 VG 1/99 R -; BSG vom 10.12.1974 – GS 2/73 – in BSGE 38, 248; Rohr/Sträßer, BVG, § 60 K 6 mwN -).
Ausgehend hiervon ergibt sich:
Der Kläger hat den Entschädigungsantrag am 29.10.1996 (Eingang beim Versorgungsamt Hamburg am 01.11.1996) gestellt. Der Kläger war nach Ablauf der Überlegungsfrist des Satzes 2 und hier namentlich in der Zeit ab 1971 nicht gehindert, einen Entschädigungsantrag zu stellen. Zutreffend hat das SG darauf hingewiesen, dass der Kläger einen solchen Antrag schon nach eigenem Vorbringen hätte stellen können; dies hätte zwar – sein Vorbringen zugrundegelegt – zu Nachteilen geführt, weil er dann keine Anstellung in Polen gefunden hätte. Dies ändert aber nichts daran, dass er die Wahl hatte, entweder einen Entschädigungsantrag zu stellen, dann ggf. allerdings keine Anstellung zu erhalten, oder aber auf einen Antrag zugunsten einer Anstellung zu versichten. Dem Kläger ist allerdings zuzugeben, dass er bei dieser Sachlage den Antrag nicht unbeeinflußt hätte stellen können. Denn dies hätte u.a. erhebliche berufliche Nachteile zur folge gehabt. Indessen können diese nicht als "Hinderungsgründe" im Sinn des § 60 Abs. 1 Stz 3 BVG angesehen werden. Denn im Gegensatz zu Naturkatastrophen u. dergl., denen der jeweilige Antragsteller schicksalhaft und unabänderlich ausgesetzt ist, war dem Kläger die Möglichkeit nicht genommen, sich in Abwägung mehrerer Kriterien für oder gegen einen Antrag zu entscheiden.
Selbst wenn der Kläger ab 1971 infolge drohender beruflicher Nachteile zu nächst "gehindert" gewesen wäre, einen Antrag zu stellen, könnte sein Begehren keinen Erfolg haben. Jedenfalls ab 1990 war der Hinderungsgrund entfallen und der Kläger hätte einen Entschädigungsantrag stellen können. Ausweislich seines Vorbringen hat der Kläger den Antrag erst kurz vor dem Ruhestand gestellt, weil sich die politische Lage erst ab 1990 und auch das Verhältnis zur polnischen Bevölkerung zu Deutschen und Deutschland sich nur gemächlich verbessert hatte (Schriftsatz vom 06.10.2001). Warum er dennoch an einer Antragstellung ab 1990 gehindert gewesen sein will, hat er weder dargelegt noch sind hierfür sonstige Gründe ersichtlich. Auf Rechtsunkenntnis kann sich der Kläger nicht berufen. Selbst wenn sie vorgelegen hätte, wäre dies auch nicht rechtserheblich. Rechtsunkenntnis schließt ein Verschulden nicht aus (BSG vom 15.08.2000 – B 9 VG 1/99 R -; LSG NRW vom 15.03.2001 – L 7 VS 4/99 -). Vielmehr ist es offenkundig und dem Senat überdies aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt, dass jedenfalls ab 1990 Entschädigungsanträge von in Polen lebenden Antragstellern komplikationslos gestellt werden konnten und bearbeitet wurden.
Abschließend verweist der Senat darauf, dass die Absätze 2 und 3 erst durch das 10. KOV-AnpG vom 10.08.1978 (BGBl. I S. 1217) in 60 Abs. 1 BVG eingefügt worden sind. Hieraus wird hergeleitet, dass die Neufassung des § 60 Abs. 1 BVG erst ab dem Inkrafttreten am 01.01.1979 (hierzu Art. 8 des 10. KOV-AnpG) berücksichtgt werden kann, mithin nur für solche Schädigungen, die noch im Laufe des Jahres 1978 eingetreten sind (Hess. LSG vom 24.02.2000 – L 5 V 1229/96 -). Der Senat lässt offen, ob er dem beitritt, denn die Berufung des Klägers kann aus den zuvor dargelegten Erwägungen schon keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Erstellt am: 17.08.2003
Zuletzt verändert am: 17.08.2003