Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 14.10.2009 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für die Zeiträume vom 28. bis 30.09.2009 sowie vom 01.11. bis 15.12.2009 in Höhe von insgesamt 530,37 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu 1/6 für beide Rechtszüge.
Gründe:
I. Mit einem am 28.09.2009 beim Sozialgericht eingegangenen Antrag beantragte der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ab Antragstellung bei der Antragsgegnerin am 23.03.2009 Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu gewähren.
Mit Beschluss vom 14.10.2009 lehnte das Sozialgericht diesen Antrag ab. Soweit der Antragsteller die Gewährung von Leistungen für die Vergangenheit begehre, fehle ein Anordnungsgrund. Es widerspräche dem Wesen des vorläufigen Rechtsschutzes, eine einstweilige Leistungsverpflichtung für bereits vergangene Zeiträume auszusprechen. Für die Zeit ab Antragseingang beim Sozialgericht (28.09.2009) sei kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach § 8 Abs. 1 AsylbLG würden Leistungen nicht gewährt, sofern der erforderliche Lebensunterhalt anderweitig gedeckt werde. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG seien das verfügbare Einkommen und Vermögen des Leistungsberechtigten und seiner im gleichen Haushalt lebenden Familienangehörigen vor Eintritt der Leistungen nach dem AsylbLG aufzubrauchen. Der Begriff des Familienangehörigen im Sinne von § 7 AsylbLG umfasse auch den Bruder des Antragstellers, welcher über Einkommen verfügt habe. Im Übrigen bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis. Denn es gebe für den Zeitraum ab dem 28.09.2009 keine ablehnende Entscheidung der Antragsgegnerin und auch keinen nicht bearbeiteten Leistungsantrag. Ein Bescheid vom 03.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.09.2009 beinhalte nur eine Regelung für die Zeit von März bis Juni 2009. Der Widerspruch des Antragstellers vom 21.07.2009 beziehe sich auch nur auf eine Kürzung für die Monate März und April 2009. Der Antragsteller habe im Widerspruchsverfahren jedoch niemals eine Leistungsgewährung über Juni 2009 hinaus verlangt. Für Juni 2009 sei sein Anspruch sogar in voller Höhe anerkannt worden. Für die Zeit nach Juni 2009 hätte der Antragsteller nur einen Antrag bei der Antragsgegnerin stellen und seiner Mitwirkungspflicht durch Vorlage der Lohnabrechnungen seines Bruders nachkommen müssen, um weitere Leistungen zu erhalten. Man könne nicht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen erzwingen, die man auf einfacherem Wege durch Vorsprache bei der Behörde und vor allem mit der erforderlichen Mitwirkung ohnehin erhalten könnte. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss Bezug genommen.
Gegen den am 15.10.2009 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 16.11.2009 (Montag) Beschwerde eingelegt. Er trägt u.a. vor, ein Leistungsanspruch nach Juni 2009 habe keines weiteren Antrags bedurft, da Leistungen nach dem AsylbLG von Amts wegen zu gewähren seien. Der Vorlage von Lohnabrechnungen seines Bruders hätte es nicht bedurft, da der Begriff des Familienangehörigen in § 7 AsylbLG eng auszulegen sei.
Nachdem der Antragsteller am 15.12.2009 aus dem Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin verzogen ist, beantragt er nunmehr sinngemäß die einstweilige Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihm Leistungen nach dem AsylbLG für die Zeit vom 01.03.2009 bis 15.12.2009 vorläufig zu gewähren.
Die Antragsgegnerin errechnet den Leistungsbedarf des Antragstellers für den Zeitraum vom 28. bis 30.09.2009 mit 36,27 EUR, für November mit 322,73 EUR und für den 01. bis 15.12.2009 mit 161,37 EUR (Summe: 530,37 EUR). Dabei berücksichtigt sie neben Miete und Heizkosten die gesetzliche Höhe der Grundleistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AsylbLG für einen Haushaltsangehörigen. Der Bedarf für Oktober in Höhe von 322,73 EUR sei dem Antragsteller am 03.11.2009 in voller Höhe ausgezahlt worden. Wegen der Einzelheiten der Bedarfsberechnung wird auf den Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 19.08.2010 Bezug genommen. Die Antragsgegnerin ist der Ansicht, es bestehe kein Anordnungsgrund, da lediglich ein abgeschlossener Zeitraum in der Vergangenheit (28.09. bis 15.12.2009) streitig sei.
II. Die Beschwerde des Antragstellers ist jeweils teilweise zulässig und begründet.
1. Für den Monat Oktober 2009 hat die Antragsgegnerin zwischenzeitlich (bereits vor Einlegung der Beschwerde durch den Antragsteller) Leistungen erbracht; insoweit erschließt sich nicht, warum es für diesen zwar nach Antragstellung beim Sozialgericht liegenden Monat noch einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung bedürfen soll. Insoweit besteht bereits kein Rechtsschutzbedürfnis, und die Beschwerde ist diesbezüglich unzulässig.
2. Soweit der Antragsteller weiterhin für die Zeit vom 01.03. bis 27.09.2009 eine vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin begehrt, ist die Beschwerde unbegründet. Es ist dem Antragsteller zuzumuten, für bereits vor Antragstellung beim Sozialgericht (28.09.2009) liegende Zeiträume eine endgültige Klärung im Hauptsacheverfahren abzuwarten.
3. Hinsichtlich der Zeit vom 28. bis 30.09.2009 sowie vom 01.11. bis 15.12.2009 ist die Beschwerde hingegen zulässig und begründet.
a) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin bedarf es insoweit einer vorläufigen Entscheidung; ein Eilbedürfnis für eine solche Entscheidung (Anordnungsgrund) ist nach wie vor anzunehmen, auch wenn das vorliegende Verfahren schon wegen Wegzugs des Antragstellers und damit eines Entfallens der Leistungszuständigkeit der Antragsgegnerin ab 16.12.2009 aus jetziger Sicht nur mehr einen Zeitraum in der Vergangenheit betrifft. Entscheidend muss insofern sein, wann der Antrag auf Gewährung vorläufiger Leistungen beim Sozialgericht eingegangen ist. Denn die Beteiligten haben, sofern sie selbst das Verfahren nicht verzögern, keinen Einfluss auf die Unwägbarkeiten der sozialgerichtlichen und landessozialgerichtlichen Verfahrensdauer. Wollte man vergangene Zeiträume, die jedoch nach Antragstellung beim Sozialgericht liegen, nicht berücksichtigen, liefe der nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgesehene vorläufige Rechtsschutz für solche Zeiträume von vornherein leer; dies wäre mit einem effektiven Rechtsschutz i.S.v. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbaren.
b) Ein Leistungsanspruch in der im Tenor ausgesprochenen Höhe ist ebenfalls glaubhaft gemacht.
aa) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist bei summarischer Prüfung davon auszugehen, dass Einkommen des Bruders des Antragstellers nicht anzurechnen ist, da dieser nicht "Familienangehöriger" des Antragstellers i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist (vgl. zum Folgenden auch LSG Niedersachsen-Bremen; Urteil vom 19.06.2007 – L 11 AY 80/06 (rechtskräftig); SG Aachen, Urteil vom 13.01.2010 – S 19 AY 11/09; SG Dortmund, Beschluss vom 05.09.2008 – S 47 AY 191/08 ER).
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind Einkommen und Vermögen, über das verfügt werden kann, von dem Leistungsberechtigten und seinen Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, vor Eintritt von Leistungen nach dem AsylbLG aufzubrauchen. Der Begriff des Familienangehörigen wird in § 7 AsylbLG nicht näher umrissen. Einen genaueren Hinweis enthält lediglich § 1a AsylbLG, der den Verweis auf den Begriff des "Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6" enthält. § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG wiederum nennt lediglich Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährige Kinder. Ob § 7 AsylbLG im Gegensatz zu dieser Norm nicht nur eine solche "Kernfamilie", sondern auch andere Familienangehörige wie z.B. (erwachsene) Brüder umfasst, lässt sich seinem Wortlaut nicht entnehmen. Wegen der nicht vergleichbaren Regelungsinhalte von § 7 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG sind insoweit darüber hinaus auch systematische Erwägungen unergiebig.
Jedoch kann die Entstehungsgeschichte des AsylbLG insgesamt für eine Auslegung des Begriffs des Familienangehörigen herangezogen werden, die allein die "Kernfamilie" (und damit nicht den erwachsenen Bruder des ebenfalls erwachsenen Klägers) umfasst:
Das seit dem 01.11.1993 geltende AsylbLG löste in seinem Anwendungsbereich das zuvor geltende Leistungsregime des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ab. Dort waren zuvor Leistungsansprüche von Ausländern in § 120 BSHG (in der Neufassung vom 10.01.1991, BGBl. I, S. 94, 113 f.) geregelt. Für diese Ansprüche aber war der im Rahmen des BSHG zugrundegelegte Familienbegriff maßgebend: § 120 BSHG war seit 1982 in seinen Grundzügen unverändert geblieben. § 11 Abs. 1 BSHG in der bis zum 31.10.1993 geltenden Fassung nahm eine "Einsatzgemeinschaft" allein zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern an. Für Leistungen nach § 120 BSHG gab es insoweit keine Sonderregelung; vielmehr erhielt auch der Personenkreis der Ausländer nach § 120 Abs. 1 Satz 1 BSHG Hilfe zum Lebensunterhalt nach Maßgabe der §§ 11 ff. BSHG.
Mit Schaffung des AsylbLG wurde zwar der Kreis der nach § 1 AsylbLG Leistungsberechtigten aus dem Anwendungsbereich des § 120 BSHG herausgenommen und seitdem dem neuen Leistungsregime des AsylbLG unterworfen. Dabei wurde jedoch ein bedarfsorientiertes Grundsystem beibehalten. Denn Ziel des AsylbLG war zwar eine Neuregelung der Leistungen für Ausländer, welche zuvor Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG erhalten hatten, wobei das Leistungsniveau für bestimmte Ausländergruppen auf das Niveau unterhalb desjenigen nach dem BSHG abgesenkt wurde. Ein Wille des Gesetzgebers, nunmehr vom bisherigen sozialhilferechtlichen System der Einsatzgemeinschaft abzuweichen, ist jedoch nicht erkennbar. Diese sozialhilferechtliche Einsatzgemeinschaft aber umfasste schon nach dem BSHG – wie auch heute nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII; vgl. etwa dessen § 19 Abs. 1) – allein Ehegatten bzw. Lebenspartner und minderjährige Kinder der Leistungsberechtigten. Volljährige Kinder oder sonstige Verwandte gehören hingegen nicht zu dieser Einsatzgemeinschaft.
Hätte der Gesetzgeber den Willen gehabt, im AsylbLG diese Einsatzgemeinschaft über den bereits aus dem BSHG überkommenen Rahmen hinaus auf Familienmitglieder außerhalb der "Kernfamilie" auszuweiten, so wäre im Rahmen der nach dem 01.11.1993 mehrfachen Änderungen des AsylbLG Gelegenheit gewesen, dies durch Neufassung des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG klarzustellen. Dass eine Neufassung gerade nicht erfolgt ist, zeigt, dass es bei dem schon aus dem BSHG überkommenen engen Familienbegriff bleiben sollte.
Hierfür spricht im Übrigen auch, dass das Einkommen von Familienmitgliedern in § 7 Abs. 2 AsylbLG nur in einem sehr geringen Maße freigestellt wird. Eine Rechtfertigung dafür, nicht zur Kernfamilie gehörende Familienangehörige eines nach dem AsylbLG Leistungsberechtigten wirtschaftlich in einem weiteren Umfang in die Pflicht zu nehmen als in anderen gesetzlichen Grundleistungsregimes, ist jedenfalls dann nicht erkennbar, wenn dieses Familienmitglied (wie der Bruder des Klägers) seinen Lebensunterhalt allein aus Erwerbseinkommen bestreitet und keiner ergänzenden Sozialleistungen bedarf.
bb) Ob dem Antragsteller oberhalb der zugesprochenen Leistungen weitere Leistungen deshalb zustehen, weil er i.S.v. § 3 Abs. 2 Satz AsylbLG nicht als Haushaltsangehöriger (Nr. 3 der Vorschrift), sondern als Haushaltsvorstand (Nr. 1) anzusehen ist, muss demgegenüber einer Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben:
Für die Qualifizierung des Bruders des Antragstellers als Haushaltsvorstand und dementsprechend des Antragsteller als Haushaltsangehörigen könnte zwar sprechen, dass allein er über bedarfsdeckendes Einkommen verfügte, und dass der Kläger bei ihm nur zeitweilig untergekommen war. Gleichwohl könnte es sich verbieten, den Antragsteller als bloßen Haushaltsangehörigen anzusehen. Denn der Kläger und sein Bruder bildeten lediglich eine zeitweilige Wohngemeinschaft zweier erwachsener Geschwister. In einem solchen Fall können jedenfalls nach dem Recht des SGB XII Einsparungen bei gemeinsamer Haushaltsführung nur dann angenommen werden, wenn die zusammenlebenden Personen im Falle von Bedürftigkeit eine Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch(SGB XII) oder eine Einsatzgemeinschaft i.S.d. § 19 SGB XII bilden (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23.03.2010 – B 8 SO 17/09 R zu Rn. 20 ff. (JURIS) m.w.N.). Ob allerdings diese zum Recht des SGB XII getroffenen Erwägungen auch im Rahmen des § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG tragen, muss der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Der Antragsteller selbst ist im Übrigen der Berechnung der Beklagten, die lediglich Leistungen für einen Haushaltsangehörigen berücksichtigt, auch nicht entgegengetreten.
Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 20.10.2010
Zuletzt verändert am: 20.10.2010