I. Die Klage gegen den Bescheid vom 23. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Oktober 2009 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme der Kosten für eine Ohrmuschelkorrektur.
Bei der am 1995 geborenen Klägerin besteht eine angeborene Fehlbildung der Ohrmuscheln beidseits in Form von abstehenden Ohren. Bei der Beklagten ging am 01.07.2009 ein Antrag der Dr. H., Fachärztin für Kinderchirurgie, ein. Sie beschreibt beidseits erheblich abstehende Ohren aufgrund einer Ohrmuschelfehlbildung, was die Klägerin zunehmend belaste. Kinderchirurgisch bestehe eine absolute Indikation zur Korrektur. Erfahrungsgemäß sei die Operation unter ambulanten Bedingungen durchführbar. Beigefügt waren Fotos zur Form der Ohren bei zurückgehaltenen Haaren. Die Beklagte schaltete den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Bayern ein. Dr. F. vertrat in einer gutachtlichen Stellungnahme vom 17.07.2009 die Auffassung, dass es sich um keine funktionsverbessernde Operation handele und eine kosmetische Indikation im Vordergrund stehe, die nicht zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu erbringen sei. Nach den Fotos scheine eine Entstellung nicht gegeben, zumal sich die Ohren durch eine entsprechende Frisur bedecken ließen. Die Beklagte lehnte daher gegenüber der Klägerin den Antrag mit Bescheid vom 23.07.2009 ab.
Dagegen legte der Vater der Klägerin am 03.08.2009 Widerspruch ein. Er berief sich auf den Antrag von Dr. H … Seine Tochter leide psychisch massiv unter der Situation und werde zunehmend in Schule und sonstigem sozialen Umfeld gehänselt. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 09.10.2009 zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde, da er zunächst nicht zugegangen war, nochmals am 13.11.2009 versandt.
In einem Telefonat vom 16.12.2009 gab der Vater der Klägerin an, dass die Operation in der nächsten Woche stattfinden solle. Vorgelegt wurde noch ein weiteres Schreiben der Dr. H. vom 20.11.2009. Diese berief sich darauf, dass bereits bei Ohrdeformitäten 1. Grades die medizinische Indikation zur Ohrmuschelkorrektur gestellt werden könne, wenn ein entsprechender Leidensdruck vorhanden sei und daraus resultierende weitreichende Beeinträchtigungen des Betroffenen zu befürchten seien oder sich bereits abzeichneten.
Die Eltern der Klägerin als deren gesetzliche Vertreter haben am 16.12.2009 Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben. Zur Begründung haben sie vorgetragen, dass die Klägerin im letzten Jahr unter der Gesamtsituation so gelitten habe und der Druck einiger Mitschülerinnen so groß gewesen sei, dass ein Zurückstufen von der 8. in die 7. Jahrgangsstufe nicht habe verhindert werden können. Sie sei in ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Persönlichkeitsentwicklung deutlich eingeschränkt. Es könne nicht angehen, dass die Klägerin in absehbarer Zeit auf eine psychotherapeutische Behandlung zusteuere. Auch wäre der Eingriff im Kleinkindalter problemlos bezahlt worden. Die medizinische Indikation liege nach dem Gutachten von Dr. H. eindeutig vor. Die Operation übersteige definitiv die finanziellen Möglichkeiten der Familie. Ergänzend wurde ein Arztbrief der Dr. H. vom 26.06.2009 vorgelegt. Zur Beweiserhebung hat das Gericht einen Befundbericht des Kinderarztes Dr. C. eingeholt.
In der mündlichen Verhandlung hat sich die Kammer durch Augenschein ein eigenes Bild von der Erscheinung der Klägerin gemacht. Hierzu wurde in der Niederschrift folgendes festgehalten:
"Die Vorsitzende stellt in Übereinstimmung mit den ehramtlichen Richtern folgendes fest:
Die Klägerin trägt schulterlange Haare mit Pony. Bei dieser Frisur sind die Ohren nicht erkennbar. Nimmt sie die Haare zurück, wird deutlich, dass die Ohrmuscheln weiter abstehen als üblich. Als so entstellend, dass man sich auf der Straße sofort nach ihr umdrehen würde, wird dies jedoch nicht empfunden."
Der gesetzliche Vertreter der Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.10.2009 zu verurteilen, die Kosten für die geplante Ohrmuschelkorrektur als Sachleistung zu übernehmen.
Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Akte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Das angerufene Gericht ist gemäß §§ 57 Abs. 1, 51 Abs. 1, 8 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Entscheidung des Rechtsstreits örtlich und sachlich zuständig. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 23.07.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.10.2009 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte die Kosten für eine Ohrmuschelkorrektur in ambulanter oder stationärer Form übernimmt, da eine behandlungsbedürftige Krankheit nicht vorliegt.
Nach § 27 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) besteht ein Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (st. Rspr., vgl. z.B. BSG v. 19.10.2004 – B 1 KR 3/03 R – in SozR 4-2500 § 27 Nr. 3). Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird oder dass er an einer Abweichung vom Regelfall leidet, die entstellend wirkt. Um eine Entstellung annehmen zu können, genügt nicht jede körperliche Anormalität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, so dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein. Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorübergehen" bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (vgl. BSG v. 28.02.2008 – B 1 KR 19/07 R m.w.N.).
Ausgehend von diesen Maßstäben konnte die Kammer anhand des Augenscheins in der mündlichen Verhandlung feststellen, dass die Klägerin nicht entstellt ist.
Die Klägerin trägt eine zu ihrem Gesicht passende schulterlange Frisur, die ihre Ohren vollständig verdeckt. Aber selbst bei zurückgenommenen Haaren liegt zur Überzeugung des Gerichts keine Entstellung vor. Es ist zwar erkennbar, dass die Ohren etwas weiter als üblich abstehen. Ihre Ohren sind jedoch keineswegs so hervorstechend, dass sie deswegen schon bei flüchtiger Begegnung im Alltag interessierte Blicke anderer Menschen auf sich fixieren würde.
Die psychische Belastung der Klägerin rechtfertigt ebenfalls keinen operativen Eingriff auf Kosten der GKV. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG können psychische Leiden einen Anspruch auf eine Operation nicht begründen (B 1 KR 3/03 R, a.a.O.). Überdies ist eine psychische Belastung nicht nachgewiesen. Der behandelnde Kinderarzt hat hierzu keinerlei psychopathologische Befunde erhoben.
Auch der Hinweis, die Kosten für eine spätere psychotherapeutische Behandlung seien sicherlich höher, führt nicht zu einem Anspruch auf Kostenerstattung. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG zu § 13 Abs. 3 SGB V werden nur die beim Versicherten konkret entstandenen Kosten erfasst, nicht aber die fiktiven Kosten für eine Leistung, die ebenfalls infrage gekommen wäre oder die Ersparnis der Krankenkasse (BSG v. 21.02.2006 – B 1 KR 29/04 R m.w.N.). Ein Kostenerstattungsanspruch besteht nicht schon deshalb, weil die Krankenkasse dadurch, dass eine Versicherte Leistungen außerhalb des Leistungssystems der GKV nimmt, vermeintlich Aufwendungen anderer Art erspart; denn sonst könnte die krankenversicherungsrechtliche Beschränkung auf bestimmte Formen der Leistungserbringung letztlich durch den Anspruch auf (teilweise) Kostenerstattung ohne weiteres durchbrochen werden (BSG v. 26.07.2004 – B 1 KR 30/04 B). Das Recht der GKV beruht auf dem Gedanken des Solidarausgleichs innerhalb der Versichertengemeinschaft. Es kennt nicht das Prinzip des Finanzausgleichs zwischen Versichertenvermögen und Kassenvermögen mit dem Effekt, dass angeblich ersparte Aufwendungen der Kasse den Versicherten gutzubringen sind (BSG v. 10.11.1977 – 3 RK 68/76 – in SozR 2200 § 185 Nr. 2).
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Erstellt am: 24.01.2012
Zuletzt verändert am: 24.01.2012