I. Die Klage gegen den Bescheid vom 26. November 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2005 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist, ob es sich beim Kläger um einen chronisch Kranken im Sinne von § 62 Abs. 1 Satz 2, 2. Halbsatz Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) handelt, dessen Zuzahlung auf 1 v. H. der jährlichen Bruttoeinnahmen beschränkt ist.
Der am 1941 geborene Kläger ist schwerbehindert mit einem anerkannten Grad der Behinderung von 50. Er beantragte am 26.08.2004 die Befreiung von Zuzahlungen über der Belastungsgrenze. Er legte eine ärztliche Bescheinigung zur Feststellung einer schwerwiegenden chronischen Krankheit im Sinne des § 62 SGB V vor, die von seinem behandelnden Urologen Praxis Dr. E. am 27.08.2004 ausgestellt war. Danach befindet er sich seit 1977 wegen derselben Krankheit in Dauerbehandlung, nämlich wegen einer chronischen rezidivierenden Harnröhrenstriktur. Die Frage, ob eine kontinuierliche Behandlung der Krankheit erforderlich sei, da ohne Behandlung nach ärztlicher Einschätzung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität zu erwarten wäre, wurde bejaht. Die Beklagte schaltete zur Beurteilung, ob eine schwerwiegende chronische Krankheit im Sinne von § 62 SGB V vorliege, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein, der dies am 02.09.2004 verneinte. Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 16.09.2004 eine persönliche Belastungsgrenze von 355,30 EUR (= 2 v. H. der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt) fest und lehnte eine Befreiung ab, da lediglich Zuzahlungen in Höhe von 50,00 EUR nachgewiesen waren. Der Bescheid enthielt keine Rechtsbehelfsbelehrung. Mit weiterem Bescheid vom 26.11.2004 unter der Überschrift "Befreiung von Zuzahlungen" stellte die Beklagte fest, dass eine schwerwiegende chronische Erkrankung beim Kläger nicht vorliege.
Hiergegen legte der Kläger am 29.11.2004 Widerspruch ein. Er müsse alle vier Wochen zum Bougieren, da andernfalls eine tödliche Urinvergiftung vorprogrammiert wäre. Die Beklagte befragte daraufhin nochmals den MDK, für den Dr. E. am 06.12.2004 gutachtlich Stellung nahm. Dr. E. gab an, es handele sich weder um eine Erkrankung, die einen GdB von mindestens 60 begründe, noch um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R), auf das der Gemeinsame Bundesausschuss in der Beschlussbegründung zur Interpretation des Begriffes verweise. Die Bevollmächtigte des Klägers legte ebenfalls am 11.01.2005 Widerspruch gegen den Bescheid vom 26.11.2004 ein. Zur Begründung berief sie sich auf die in drei- bis vierwöchigen Abständen regelmäßig notwendigen Bougierungen der Harnröhre. Die Beklagte schaltete nochmals den MDK ein, der am 13.01.2005 weiterhin eine schwerwiegende chronische Erkrankung verneinte. Die Beklagte teilte dieses Ergebnis am 24.01.2005 mit und wies den Widerspruch mit Bescheid vom 01.03.2005 zurück.
Hiergegen hat die Bevollmächtigte am 01.04.2005 Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben. Begehrt wird die Anerkennung des Vorliegens einer schweren chronischen Erkrankung und entsprechende Befreiung von einer Zuzahlung oberhalb der Belastungsgrenze. Zur Begründung hat sie sich darauf berufen, dass eine lebensbedrohliche Situation eintreten würde, wenn die regelmäßigen Bougierungen nicht stattfinden. Wenn die Krankheit ohne Behandlung lebensbedrohend sei und nicht nur die Lebensqualität einschränke, seien die Voraussetzungen erfüllt. Die Beklagte hat sich demgegenüber auf die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Definition schwerwiegender chronischer Krankheiten im Sinne des § 62 SGB V und die hierzu ergangene Beschlussbegründung berufen. Auf gerichtliche Nachfrage hat die Klägerbevollmächtigte Unterlagen über die Zuzahlungen des Klägers im Jahr 2004 vorgelegt und vorgetragen, dass er im Jahr 2005 mit Sicherheit die 1-%-Grenze übersteigen werde. Zur Beweiserhebung hat das Gericht einen Befundbericht der Urologen Dres. E. beigezogen. Die Beklagte hat hierzu eine weitere Stellungnahme des Dr. H. (MDK) vom 18.08.2005 vorgelegt. Dieser bestätigt die Ausführungen des Urologen, dass im Falle konsequenter Nichtbehandlung lebensbedrohliche Folgezustände zu erwarten wären. Dies sei jedoch bei jeder chronischen Erkrankung, beispielsweise auch bei einem medikamentös behandelten Bluthochdruckleiden der Fall, wo eine unterlassene Behandlung zu einer verkürzten Lebenserwartung führe. Ihm sei grundsätzlich keine chronische Erkrankung bekannt, die im Falle unterlassener Dauerbehandlung nicht mindestens eines der Kriterien "lebensbedrohliche Verschlimmerung, Minderung der Lebenserwartung, dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität" erülle.
Die Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 26.11.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.03.2005 aufzuheben und festzustellen, dass eine schwerwiegende chronische Erkrankung im Sinne von § 62 Abs. 1 Satz 2 und 4 SGB V beim Kläger gegeben ist.
Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Akte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Das angerufene Gericht ist gemäß §§ 57 Abs. 1, 51 Abs. 1, 8 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Entscheidung des Rechtsstreits örtlich und sachlich zuständig. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist als Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig. Die Beklagte hatte mit dem angefochtenen Bescheid vom 26.11.2004 einen Verwaltungsakt erlassen, mit dem eine Feststellung über das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer "schwerwiegenden chronischen Erkrankung" im Sinne von § 62 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz SGB V getroffen wurde, dagegen keine Aussage zur konkreten Höhe der Belastungsgrenze im Jahr 2004 und der Höhe der anerkannten Zuzahlungen. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an einer Feststellung der Frage, ob eine chronische Erkrankung im Sinne des § 62 SGB V vorliegt, da nach den Angaben der Bevollmächtigten im Jahr 2005 die Zuzahlungsgrenze von 1 v. H. der Bruttoeinnahmen überschritten wurde.
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 26.11.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.03.2005 ist rechtmäßig.
Nach § 62 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz SGB V beträgt die Belastungsgrenze der Zuzahlungen für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, 1 v. H. der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Das Nähere zur Definition einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 SGB V (§ 62 Abs. 1 Satz 4 SGB V). In der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Definition schwerwiegender chronischer Krankheiten im Sinn des § 62 SGB V definiert der Bundesausschuss eine schwerwiegende chronische Krankheit in § 2 Abs. 2 folgendermaßen: "Eine Krankheit ist schwerwiegend chronisch, wenn sie wenigstens ein Jahr lang, mindestens einmal pro Quartal ärztlich behandelt wurde (Dauerbehandlung) und eines der folgenden Merkmale vorhanden ist:
a) Es liegt eine Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe 2 oder 3 nach dem zweiten Kapitel SGB XI vor.
b) Es liegt ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 60 oder eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 60 % vor, wobei der GdB oder die MdE nach den Maßstäben des § 30 Abs. 1 BVG oder des § 56 Abs. 2 SGB VII festgestellt und zumindest auch durch die Krankheit nach Satz 1 begründet sein muss.
c) Es ist eine kontinuierliche medizinische Versorgung (ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung, Arzneimitteltherapie, Behandlungspflege, Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln) erforderlich, ohne die nach ärztlicher Einschätzung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die aufgrund der Krankheit nach Satz 1 verursachte Gesundheitsstörung zu erwarten ist."
Das Kriterium der Dauerbehandlung ist für die Harnröhrenstriktur erfüllt, da diese monatlich ein Bougieren erfordert. Jedoch liegt weder Pflegebedürftigkeit vor, noch ist ein GdB von wenigstens 60 anerkannt. Zur Überzeugung des Gerichts handelt es sich auch nicht um eine Erkrankung im Sinne des Buchstaben c).
Zur Begriffsdefinition hat der Bundesausschuss in seiner Beschlussbegründung zur Richtlinie in der Fassung vom 22.01.2004 ausgeführt: "Die Erfordernis umfassender kontinuierlicher medizinischer Versorgung führt zu einer Fokussierung auf schwerwiegende Fälle. Begriffliche Grundlage für die zusätzliche Bedingung "ohne die nach ärztlicher Einschätzung eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung … zu erwarten ist" bildet die Interpretationshilfe des BSG-Urteils zum Off Label Use." Der Bundesausschuss wollte also – genauso wie der Gesetzgeber – nicht jede Krankheit erfassen, die einer Dauerbehandlung bedarf, sondern nur tatsächlich schwerwiegende Erkrankungen. Denn wie Dr. H. vom MDK in seiner Stellungnahme vom 18.08.2005 ausgeführt hat, ist praktisch kaum eine Krankheit denkbar, die der Dauerbehandlung bedarf, und die nicht bei konsequenter Nichtbehandlung zu einer Beeinträchtigung der Lebensqualität, Behinderung oder letztlich zum Tod führen könnte. Die vom MDK unter Buchstabe c) gegebene Definition ist also letztlich zur Abgrenzung und Definition einer schwerwiegenden chronischen Krankheit nicht wirklich tauglich. Als korrigierendes Kriterium ist deshalb danach zu fragen, ob tatsächlich eine schwerwiegende Krankheit vorliegt, und zwar objektiv und nicht nur aus der Sicht des betroffenen Erkrankten. Die Orientierung an der Definition im Urteil des BSG vom 19.03.2002 zum Off Label Use (B 1 KR 37/00 R in SozR 3-2500 § 31 Nr. 8) erscheint dabei grundsätzlich tauglich. Schwerwiegende Krankheit ist danach eine lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Eine solche die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung darf sich aber zur Anwendbarkeit der Chronikerregelung nicht erst dann äußern, wenn eine Nichtbehandlung zu weitreichenden gesundheitlichen Folgen führt, sondern die Beeinträchtigung der Lebensqualität muss bereits bei konsequenter Behandlung und Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe vorliegen.
Zur Überzeugung des Gerichts ist im Fall des Klägers nicht von einer schwerwiegenden chronischen Erkrankung auszugehen. Die Behandlung der Harnröhrenstriktur beschränkt sich auf eine – sicherlich unangenehme – Bougierung einmal pro Monat. Etwa eine Woche vorher beschreibt der Kläger ein Nachlassen des Harnstrahles und ein gelegentliches Brennen als Indiz für einen Harnröhreninfekt, der aber keine gesonderte Behandlung, beispielsweise in medikamentöser Form erfordert, wie dem Befundbericht der Urologen für die Behandlung im Jahr 2004 zu entnehmen ist. Die Erkrankung führt also zu keiner wesentlichen Einschränkung im täglichen Leben. Eine Beeinträchtigung ergibt sich lediglich in einer von vier Wochen beim Wasserlassen, ansonsten kann der Kläger sein Leben "normal" weiterführen. Dies erfüllt zur Überzeugung des Gerichts nicht die Anforderungen, die an eine schwerwiegende Krankheit im Sinne von § 62 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz SGB V zu stellen wären.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Erstellt am: 25.04.2008
Zuletzt verändert am: 25.04.2008