Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 28.10.1997 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an dieses Sozialgericht zu rückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers streitig.
Mit Bescheid vom 02.12.1991 hatte der Beklagte bei dem 1942 geborenen Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt.
Im November 1994 beantragte der Kläger unter Vorlage eines Kurberichtes aus 1994 die Feststellung eines höheren GdB. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 30.01.1995 mit der Begründung ab, in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers sei keine wesentliche Änderung eingetreten.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Daraufhin holte der Beklagte Befundberichte von den behandelnden Ärzten sowie eine Stellungnahme seines Ärztlichen Dienstes vom 12.08.1996 ein.
Mit Abhilfebescheid vom 30.08.1996 erhöhte der Beklagte den GdB auf 40 wegen
"1. Herzrhyhtmusstörungen mit Kollapsneigung,
2. Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenschaden,Schultergelenksarthrose links, Varizenoperation, Bewegungseinschränkung rechtes Schultergelenk, Ileosakral-Gelenksarthrose beidseits,
3. Hörminderung, Tinnitus.
Im übrigen wies der Beklagte den Widerspruch am 13.12.1996 als unbegründet zurück.
Mit der am 10.01.1997 vor dem Sozialgericht Köln erhobenen Klage hat der Kläger die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft begehrt.
Er ist der Auffassung, daß die im Bereich des Funktionssystemes "Rumpf" sowie in den Schultergelenken bestehenden Behinderungen nicht sachgerecht bewertet worden seien.
Mit Gerichtsbescheid vom 28.10.1997 hat das Sozialgericht Köln den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 30.01.1995 und 30.08.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.12.1996 verurteilt, bei dem Kläger einen Gesamtgrad der Behinderung von 50 ab Antragstellung anzuerkennen.
Es hat u.a. ausgeführt, der Ärztliche Dienst des Beklagten habe die Leidensbezeichnung zu 3. mit einem GdB von 30 sowie die Leidensbezeichnung zu 1. und zu 2. jeweils mit einem Einzel-GdB von 20 in der Stellungnahme vom 12.08.1996 bewertet. Ausgehend von der Behinderung "Hörminderung, Tinnitus" mit einem Einzel-GdB von 30 führten die Leidensbezeichnung zu 1. und zu 2. nach den Vorgaben der Nr. 19 "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) jeweils zu einer Erhöhung um 10, so daß der Gesamt-GdB mit 50 festzusetzen sei. Denn nach Nr. 19 AP führten Funktionsbehinderungen mit einem Einzel-GdB von 20 jeweils zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB s um 10. Eine Erhöhung komme nur dann ausnahmsweise nicht in Betracht, wenn sich die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen überschnitten oder wenn die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung, die den höchsten Einzel-GdB bedinge, durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt werde. In der ärztlichen Stellungnahme vom 12.08.1996 sei ein solcher Ausnahmefall nicht beschrieben.
Gegen den am 19.11.1997 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 09.12.1997 Berufung eingelegt.
Er macht geltend, daß unter Berücksichtigung der aktenkundigen medizinischen Unterlagen die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft nicht vertretbar sei.
Der Beklagte beantragt,
die Klage unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Köln vom 28.10.1997 abzuweisen,
hilfsweise, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 28.10.1997 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Schwerbehindertenakte des Beklagten, Gz. , Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.
Der Gerichtsbescheid leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln, so daß der Senat von der nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeräumten Möglichkeit der Zurückverweisung Gebrauch gemacht hat.
Das Sozialgericht hat gegen seine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes aus § 103 SGG verstoßen sowie die Grenzen seines Rechtes auf freie Beweiswürdigung nach § 128 SGG überschritten. Es hat die Feststellung und Bewertung der beim Kläger vorliegenden Behinderungen durch den Beklagten abgeändert, ohne Beweis durch Sachverständige erhoben zu haben und für seine auf medizinischem Gebiet liegende Beurteilung die eigene Kompetenz darzulegen.
Die Amtsermittlungspflicht aus § 103 SGG ist verletzt, wenn der dem Sozialgericht bekannte Sachverhalt von seinem materiell-rechtlichen Standpunkt aus nicht für das gefällte Urteil ausreichte, sondern das Gericht sich zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (vgl. BSG, Urteil vom 24.11.1988, 9/9a RV 42/87; SozSich 1989, 220; Urteil vom 24.06.1993, 11 RAr 75/92, AuB 1994, 26 m. w. N.). Ausweislich seiner Urteilsbegründung ist das Sozialgericht der Auffassung, daß ein Gesamt-GdB von 50 festzustellen ist, wenn bei einem Kläger Funktionsbeeinträchtigungen mit Einzel-GdB s von jeweils 30, 20 und 20 vorliegen, sofern sich die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen nicht überschneiden. Ausgehend von diesem materiell-rechtlichen Standpunkt ist es für das Sozialgericht erforderlich gewesen, Feststellungen bezüglich der beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen, der Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen und ihrer GdB-Bewertung sowie der wechselseitigen Auswirkungen zu treffen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Bewertung des GdB s vorrangig Aufgabe des Gerichtes ist, wobei die ärztliche Beurteilung der Gesundheits- und Funktionsstörungen sowie deren Auswirkungen in Beruf, Arbeit und Gesellschaft wichtige und in der Regel unentbehrliche Grundlage für die richterliche Bewertung ist (vgl. BSG, Urteil vom 09.03.1988, 9/9a RVs 14/86 SozSich 1988, 381; Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RVs 2/92 SozR 3- 3870 § 4 SchwbG Nr. 5; Urteil vom 23.06.1993, 9/9a RVs 1/92 m. w. N.) insbesondere, wenn ein Kläger von Ärzten mehrerer Fachrichtungen behandelt wird. Deshalb ist in der Regel der Gesundheitszustand eines Klägers im Schwerbehindertenverfahren durch Anhörung geeigneter Sachverständiger ab zuklären. Von der Anhörung eines Sachverständigen kann nur abgesehen werden, wenn das Sozialgericht die erforderliche Sachkunde selbst besitzt und in den Entscheidungsgründen darlegt, worauf diese beruht (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Sozialgerichtsgesetz, § 144 SGG Rdz. 211 m. w. N.; BSG, Urteil vom 02.06.1959, 2 RU 20/56 SozR § 103 SGG Nr. 33). Das Sozialgericht hat von der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Abklärung der beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen abgesehen. Bei seinen Ausführungen bezüglich der beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen stützt er sich ausschließlich auf die Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes des Beklagten vom 12.08.1996, der als Urkunde nur eine begrenzte Beweiskraft zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 28.03.1984, 9a RV 29/83, SozR 1500 § 128 SGG Nr. 24). Die Stellungnahme enthält keine ausreichenden Feststellungen bezüglich der Funktionsbeeinträchtigung und ihrer wechselseitigen Auswirkungen, da sie sich auf die Wiedergabe von Diagnosen, zusammengefaßt nach ärztlichen Fachgebieten (internistisch, orthopädisch und hno-ärztlich), beschränkt, also nur die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen beschreibt. Es fehlen Feststellungen über die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, insbesondere über ihre wechselseitige Einflußnahme. Desweiteren ist die vom ärztlichen Dienst vorgenommene GdB-Bewertung nicht nachvollziehbar begründet und steht teilweise in Widerspruch zu den Vorgaben der AP, die rechtsnormähnliche Wirkung haben. Nach Nr. 18 Abs. 4 AP hat die GdB-Bewertung getrennt nach Funktionssystemen zu erfolgen, die Bildung eines Zwischen-GdB s auf einem Fachgebiet ist nicht zulässig (vgl. BSG, Urteil vom 16.03.1994 9 RVs 6/93 SozR 33870 § 4 SchwbG Nr. 9). Unter der Leidensbezeichnung zu 2. sind jedoch die Funktionssysteme "Rumpf", "Beine" und "Arme" zusammenfassend mit einem GdB bewertet worden. Auch enthält die Stellungnahme keine Äußerung zur GdB-Bewertung der Gesundheitsstörung des Klägers nach den Vorgaben der AP Stand 1996, die seit Januar 1997 anzuwenden sind und geänderte Maßstäbe bezüglich der GdB-Bewertung von Wirbelsäulenschäden, Funktionsbeeinträchtigungen der Schulter, Herzrhythmusstörungen und des Tinnitus enthalten. Das Sozialgericht ist aber verpflichtet gewesen, auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung, also im Oktober 1997, abzustellen. Deshalb hätte sich das Sozialgericht wegen der unzureichenden Feststellungen in der Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 12.08.1996 und unter Beachtung der begrenzten Beweiskraft dieser Stellungnahme gedrängt fühlen müssen, den Gesundheitszustand des Klägers durch die Einholung von Sachverständigengutachten abklären zu lassen. Durch die ungeprüfte Übernahme der unzureichenden Feststellungen des Ärztlichen Dienstes des Beklagten hat das Sozialgericht seine Pflicht aus § 103 SGG, eigene Festsstellungen zu treffen, verletzt (vgl. Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 6. Auflage, § 103 SGG Rdz. 11 m. w. N.).
Das Sozialgericht hat auch die Grenzen seines Rechtes auf freie Beweiswürdigung aus § 128 SGG insoweit überschritten, als es Tatsachen ohne ausreichende Ermittlungen unterstellt hat (vgl. Peters-Sautter-Wolff, a.a.O., § 144 SGG Rdz. 238 m. w. N.) und eine kritische Überprüfung der Feststellungen des Beklagten unter lassen hat (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 128 SGG Rdz. 7).
Es ist ohne ausreichende Ermittlungen davon ausgegangen, daß beim Kläger Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von jeweils 30, 20 und 20 vorliegen, deren Auswirkungen sich nicht über schneiden. Sofern das Sozialgericht diese Feststellungen aufgrund eigener Sachkunde getroffen hat, hat es in den Entscheidungsgrün den weder seine Sachkunde noch deren Gründe ausreichend dargelegt. Desweiteren fehlt es an einer kritischen Überprüfung der Feststellungen des Beklagten.
Die angefochtene Entscheidung kann auch auf den Verfahrensmängeln beruhen, da nicht auszuschließen ist, daß das Soziaglericht bei ordnungsgemäßer Sachaufklärung und kritischer Beweiswürdigung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Die gemäß § 159 Abs. 1 SGG im Ermessen des Senates stehende Zurückverweisung erscheint angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens sowie der Schwere der Verfahrensfehler zur Erhaltung einer zweiten Tatsacheninstanz geboten.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Anlaß, die Revision zuzulassen, besteht nicht ( § 160 Abs. 2 SGG).
Erstellt am: 13.12.2012
Zuletzt verändert am: 13.12.2012