Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 07.08.2018 geändert. Es wird festgestellt, dass das ursprünglich bei dem Sozialgericht Dortmund unter dem Aktenzeichen S 14 AS 3068/12 geführte Verfahren nicht durch Klagerücknahme beendet wurde und daher fortzuführen ist. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren um die Frage, ob die Klage gemäß § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen gilt.
Im Januar 2012 beantragte die Klägerin Leistungen vom Beklagten. Sie sei Miteigentümerin einer 66 m² großen Eigentumswohnung in D, die ihre Tochter allein bewohne. Da sich ihre Tochter bei Erwerb der Eigentumswohnung in Probezeit befunden habe, habe sie als "Bürgin" fungiert. Die Zinsen des Finanzierungsdarlehens würden von ihrer Tochter bedient. Zur Tilgung des Darlehens seien zwei Bausparverträge auf den Namen ihrer Tochter abgeschlossen worden. Auf den Fortzahlungsantrag vom 22.06.2012 bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Bescheiden vom 26.06.2012 und 10.12.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.07.2012 darlehensweise Leistungen für Juli 2012 bis Dezember 2012. Eine zuschussweise Leistungserbringung komme mangels Hilfebedürftigkeit nicht in Betracht. Aufgrund des erbrachten Eigenanteils von 36.600 EUR sei von einem anteiligen Vermögen der Klägerin iHv 18.300 EUR auszugehen, der den maßgeblichen Vermögensfreibetrag übersteige.
Hiergegen hat die Klägerin am 26.07.2012 Klage bei dem Sozialgericht Dortmund (S 14 AS 3068/12) erhoben und vorgetragen, das zum Erwerb der Eigentumswohnung eingesetzte Eigenkapital iHv 36.000 EUR habe ausschließlich ihrer Tochter gehört. Sie sei nur auf Druck der kreditfinanzierenden Sparkasse als Miteigentümerin und Darlehensnehmerin aufgenommen worden. In einem Erörterungstermin hat die Klägerin am 19.06.2015 erklärt, sie begehre die Umwandlung der Darlehen in Zuschüsse. Sie wäre bereit, ihren Anteil an der Eigentumswohnung an ihre Tochter zu übertragen, jedoch könne die Tochter hierfür keine Gegenleistung erbringen. Die Klägerin könne sich zudem die Notar- und Grundbuchkosten für eine Eigentumsübertragung nicht leisten. Der Klägerin wurde vom Sozialgericht aufgegeben, mittels Bankbestätigungen nachzuweisen, ob eine weitere Beleihung der Eigentumswohnung oder ein Verkauf ohne Vorfälligkeitsentschädigung möglich ist. Zudem solle dargelegt werden, ob die Tochter in der Lage sei, eine Gegenleistung für den Miteigentumsanteil der Klägerin zu erbringen. Die Sparkasse hat der Klägerin am 11.09.2015 bescheinigt, ihr könne kein Privatkredit gestellt werden. Die Klägerin hat diese Bescheinigung dem Sozialgericht vorgelegt.
Mit Verfügung vom 22.10.2015 hat das Sozialgericht die Klägerin darauf hingewiesen, die im Sitzungsprotokoll vom 19.06.2015 genannten Auflagen seien nicht erfüllt worden. Insbesondere sei die übersandte Erklärung der Sparkasse nicht geeignet, nachzuweisen, dass eine Beleihung der Wohnung unmöglich ist. Es seien Bestätigungen verschiedener Banken vorzulegen, aus denen sich ergibt, dass die Klägerin auch bei Eintragung einer Grundschuld kein Darlehen auf ihre Wohnung erhalte. Darüber hinaus sei nachzuweisen, dass die Tochter unter Berücksichtigung ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht in der Lage war, eine Gegenleistung für die Übertragung des hälftigen Miteigentumsanteils zu erbringen. Weiter sei eine Bestätigung der Bank darüber vorzulegen, in welcher Höhe eine Vorfälligkeitsentschädigung im Falle der Weiterveräußerung der Wohnung zu zahlen wäre. Die Klägerin hat auf diese Verfügung nicht reagiert. Unter dem 19.02.2016 hat das Sozialgericht die Klägerin zur Betreibung aufgefordert und die Auflagen aus der Verfügung vom 22.10.2015 wiederholt. Es hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nach Ablauf von drei Monaten nach Zustellung dieser Verfügung als zurückgenommen gelte, wenn die Klägerin der Aufforderung vor dem Ablauf der Frist nicht nachkomme.
Unter dem 02.03.2016 hat die Klägerin mit Bezug auf das Schreiben des Gerichts vom 22.10.2015 vorgetragen, eine Gegenleistung ihrer Tochter sei nicht gerechtfertigt. Die Tochter habe die Wohnung allein gekauft, den Eigenanteil bezahlt, einen Kredit aufgenommen und zahle sämtliche Kreditraten. Die Klägerin sei nur als "Strohfrau" beteiligt worden. Eine unentgeltliche Übertragung der Eigentumswohnung an die Tochter sei geboten, weil diese für die Wohnung sämtliche Verpflichtungen allein übernommen habe. Dementsprechend sei nicht vereinbart worden, welchen Betrag die Klägerin bei einer Weiterveräußerung der Wohnung erhalten soll.
Mit Verfügung vom 09.03.2016 hat das Sozialgericht mitgeteilt, das Schreiben vom 02.03.2015 werde nicht als ausreichend angesehen, die Verfügung vom 19.02.2016 zu erfüllen. Auf die mit Verfügung vom 19.02.2016 gesetzte Frist nach § 102 Abs. 2 SGG werde nochmals hingewiesen. Auf diese Verfügung hat die Klägerin nicht reagiert. Mit Verfügung vom 03.06.2016 hat das Sozialgericht das Verfahren S 14 AS 3068/12 als zurückgenommen austragen lassen und die Beteiligten hierüber unterrichtet. Auf Antrag der Klägerin hat das Sozialgericht das Verfahren wieder aufgenommen und das Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung eingeholt. Mit Urteil vom 07.08.2018 hat das Sozialgericht festgestellt, das Klageverfahren bei dem Sozialgericht Dortmund mit dem Aktenzeichen S 14 AS 3068/12 habe sich durch fiktive Klagerücknahme erledigt.
Gegen das am 14.08.2018 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24.08.2018 Berufung eingelegt. Die Voraussetzungen einer fiktiven Klagerücknahme hätten nicht vorgelegen. Den Anordnungen des Sozialgerichts sei die Klägerin innerhalb der Betreibungsfrist nachgekommen. An die Tochter adressierte Auflagen des Sozialgerichts könne die Klägerin nicht erledigen. Die übrigen Auflagen seien erledigt worden bzw. nicht sachgerecht.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 07.08.2018 zu ändern und festzustellen, dass sich das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Dortmund mit dem Aktenzeichen S 14 AS 3068/12 nicht erledigt hat.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist allein die Frage, ob der Rechtsstreit S 14 AS 3068/12 durch Klagerücknahme erledigt ist. Denn nur über diese Frage hat das Sozialgericht mit dem angefochtenen Urteil entschieden. Der Senat prüft nach § 157 Satz 1 SGG den Streitfall im gleichen Umfang wie das Sozialgericht. Eine Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch auf zuschussweise Leistungen ist daher nicht zulässig (LSG Nordrhein-Westfalen Urteile vom 28.05.2018 – L 20 SO 431/17 und vom 19.05.2017 – L 17 U 315/16). Mit diesem Berufungsbegehren ist die Klägerin erfolgreich. Das erstinstanzliche Klageverfahren ist nicht durch eine fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG beendet worden, denn die Voraussetzungen hierfür lagen nicht vor.
Nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Eine solche fiktive Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs. 2 Satz 2 iVm Abs. 1 Satz 2). Die Annahme einer fiktiven Klagerücknahme ist – unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) – nur in eindeutigen Fällen weggefallenen Rechtsschutzinteresses möglich (Beschluss des Senats vom 18.11.2019 – L 7 AS 1678/19 B).
Ein Nichtbetreiben des Verfahrens iSd § 102 Abs. 2 SGG liegt nicht vor. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat ausdrücklich nach der Betreibungsaufforderung vom 19.02.2016 mit Schriftsatz vom 02.03.2016 zeitnah reagiert. Ob die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten zur Vermögensproblematik nach der Rechtsauffassung des Gerichts erheblich sind, ist für die Frage, ob das Verfahren iSd § 102 Abs. 2 SGG nicht betrieben wird, unbeachtlich. Zudem lassen die anwaltliche Erwiderung und auch der vorherige ausführliche Sachvortrag des Prozessbevollmächtigten keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Rechtsschutzinteresse der Klägerin an einer Umwandlung des Darlehens in Zuschussleistungen ungebrochen fortbestand. Die Klägerin hat von Anfang an ein Treuhandverhältnis dargelegt, wonach sie nur wegen der Außenhaftung als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen und als Darlehensnehmerin aufgenommen worden sei. Würde ein solches Treuhandverhältnis tatsächlich bestehen, würde ein Erlös aus einem Verkauf oder einer Beleihung im Innenverhältnis der Treuhandvertragspartner alleine der Tochter zukommen, sodass bei der Klägerin kein verwertbares Vermögen zur Verfügung gestanden hätte. Einem Kläger ist es auch unter Berücksichtigung seiner prozessualen Mitwirkungspflichten möglich, nur zu den aus seiner Sicht relevanten Umständen vorzutragen, ohne dass angenommen werden kann, das Rechtsschutzinteresse fehle. Fehlerhaften Rechtsansichten kann das Gericht durch die Anwendungen von Präklusionsfristen (§ 106a Abs. 2 SGG) begegnen.
Wurde das erstinstanzliche Verfahren nicht durch Klagerücknahme beendet, so ist der ursprünglich geführte Rechtsstreit fortzusetzen, ohne dass es einer Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG bedarf (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen Urteile vom 28.05.2018 – L 20 SO 431/17 und vom 19.05.2017 – L 17 U 315/16; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 15.03.2017 – L 18 AS 2584/16; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 17.04.2013 – L 5 KR 605/12; LSG Sachsen Urteil vom 28.02.2013 – L 7 AS 523/09; LSG Bayern Urteil vom 12.07.2011 – L 11 AS 582/10). Ist allein die Frage, ob das Sozialgericht zu Recht den Eintritt der Rücknahmefiktion festgestellt hat, Gegenstand der Überprüfung in der Berufungsinstanz, wird mit der Aufhebung des Urteils vom 07.08.2018 das erstinstanzliche Verfahren unmittelbar wieder in den Stand versetzt, in dem es sich vor seiner nur vermeintlichen Erledigung iSv § 102 Abs. 2 Satz 1 iVm Abs. 1 Satz 2 SGG befand.
Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, weil der Fortsetzungsstreit kein Rechtsmittel, sondern ein Zwischenstreit ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen Urteile vom 28.05.2018 – L 20 SO 431/17 und vom 19.05.2017 – L 17 U 315/16).
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG lagen nicht vor.
Erstellt am: 23.06.2020
Zuletzt verändert am: 23.06.2020