Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 18.08.2004 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.11.2003 verurteilt, die Klägerin gemäß jeweiliger ärztlicher Verordnung mit dem Medikament Parkotil zu versorgen. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Versorgung mit dem Medikament "Parkotil" außerhalb des arzneimittelrechtlich zugelassenen Anwendungsgebietes hat.
Die 1925 geborene Klägerin leidet seit Jahren an einem Restless-Legs-Syndrom (RLS), das 1996 diagnostiziert worden ist. Das einzige zur Behandlung dieser Krankheit zugelassene Arzneimittel ist das Präparat Restex (Wirkstoff L-Dopamin). Die Klägerin wurde zunächst mit dem Medikament Narcom (ebenfalls Wirkstoff L-Dopamin) behandelt, bei dem nach anfänglicher guter Wirkung die Dosis erheblich gesteigert werden musste. Sie wurde im Mai 1998 auf das Präparat Sifrol, einen Dopaminagonisten, umgestellt. Wegen der Nebenwirkungen (Müdigkeit) erfolgt im Dezember 1999 die Umstellung auf den Dopaminagonisten Parkotil (Wirkstoff Pergolid). Dieses Medikament ist nur für die Behandlung des Morbus Parkinson zugelassen.
Die Klägerin erhielt das Medikament Parkotil bis November 2002 aufgrund vertragsärztlicher Verordnung. Da der behandelnde Neurologe Dr. I der Klägerin erklärte, dass er Parkotil nicht mehr verordnen könne, beantragte die Klägerin im Dezember 2002 bei der Beklagten die Bewilligung für eine zulassungsüberschreitende Anwendung (sogenannter off-label-use) von Parkotil. Dr. I gab in einer Bescheinigung an, mit Restex sei keine ausreichende Besserung der Beschwerden zu erzielen. Die Behandlung mit Parkotil folge den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Behandlung des RLS. Die Klägerin wies darauf hin, sie habe kurzfristig Restex eingenommen, nachdem ihr Arzt die weitere Verordnung von Parkotil abgelehnt habe. Ihr Zustand habe sich dadurch erheblich verschlechtert, die Schlafphasen seien kürzer geworden. Sie nehme nunmehr wieder Parkotil, unter dieser Medikation geht es ihr besser.
Die Beklagte holt ein Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein. Dr. U führte im Gutachten vom 09.12.2002 aus: Da kein Behandlungsprotokoll bezüglich des Einsatzes von Restex geführt worden sei, könne nicht beurteilt werden, ob noch eine Therapieoptimierungsmöglichkeit bestehe. Unabhängig davon lägen die Voraussetzungen für einen off-label-use zu Lasten der Krankenversicherung jedoch schon deshalb nicht vor, weil aufgrund der Datenlage nicht die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Die vorliegenden Studien erreichten nicht die "geforderte Evidenzklasse". An dieser Beurteilung hielt er im Gutachten vom 14.02.2003 fest.
Mit Bescheid vom 19.02.2003 lehnte die Beklagte daraufhin die Kostenübernahme für die Behandlung mit Parkotil ab. Mit ihrem Widerspruch übersandte die Klägerin zum einen eine Bestätigung von Dr. I, dass bei ihr ein schwergradiges RLS vorliege. Die Behandlung mit dem Medikament Parkotil sei am geeignetsten. Restex sei bei mehrfachen Versuchen wirkungslos gewesen. Ferner übersandte sie eine (vorgefertigte) Begründung der Deutschen Restless-Legs-Vereineinigung, in der ausführlich zu den Voraussetzungen für einen off-label-use Stellung genommen und die Auffassung vertreten wird, dass Parkotil ein Präparat sei, bei dem eine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe. Bestandteil der Begründung ist eine Konsenserklärung von 12 Experten über den für die Behandlung des RLS nachgewiesenen Nutzen des Wirkstoffs Perkolid. Die Beklagte holte ein weiteres Gutachten von Dr. U ein. Im Gutachten vom 07.10.2003 führte er aus: Nach Sichtung der vorliegenden Studien seien diese als unzureichend einzustufen. Die Fallzahlen seien zum Teil zu gering, ferner sei die Behandlungsdauer zu kurz gewesen. Außerdem bestünden methodische Ungereimtheiten und Unklarheiten bezüglich der unerwünschten Nebenwirkungen und Inkonsistenzen zwischen subjektiv berichteter Wirksamkeit und polysomnographischen Daten. Mit Widerspruchsbescheid vom 06.11.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Zur Begründung der am 01.12.2003 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, entgegen der Auffassung der Beklagten lägen in ihrem Fall die von der Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen für einen off-label-use vor. Sie hat in diesem Zusammenhang ihren Krankheitsverlauf geschildert, wonach seit 1985 eine Unruhe in den Beinen bestehe, die seit 1988 ausgeprägt sei.
Das Sozialgericht hat Befundberichte von den behandelnden Neurologen Dr. F und Dr. I eingeholt. Dr. F hat in ihrem Bericht vom 19.01.2004 ausgeführt, es bestünden Durchschlafstörungen und eine vermehrte Unruhe auch im Tagesverlauf. Die Klägerin habe auf bestimmte Abendveranstaltungen – wie etwa das Singen im Chor – verzichtet. Nach der Umstellung auf Parkotil im Jahre 1999 sei es zu einer vermehrten Tagesmüdigkeit und Wirkungsverlust gekommen, auch unter Restex (Herbst 2002) sei keine ausreichende Besserung erzielt worden. Seit September 2003 sei eine Verschlechterung der Symptomatik eingetreten. Aktuell werde die Klägerin unter anderem mit Cabergolin (Cabaseril) behandelt. Dr. I (Bericht vom 21.01.2004) führte aus, die Lebensqualität sei aufgrund des chronischen Leidens deutlich beeinträchtigt. Unter Dopamin-Medikation habe sich keine ausreichende Besserung gezeigt, unter Einsatz von Dopaminagonisten (zuletzt Parkotil) sei eine deutliche Besserung nachweisbar. Im Verlauf der Behandlung habe sich eine insgesamt mäßiggradige Verschlechterung gezeigt, so dass eine Dosisanpassung erforderlich gewesen sei.
Die Beklagte hat ein Gutachten der Ärztin für Neurologie Dr. T (MDK C) vom August 2002 vorgelegt, in der Frau Dr. T unter Würdigung der Studienpublikationen zur Wirksamkeit von Pergolid beim RLS zu dem Ergebnis gelangt, diese ließen keine ausreichende Validität im Hinblick auf einen wissenschaftlich begründeten, klinisch relevanten Wirksamkeitsnachweis erkennen.
Mit Urteil vom 18.08.2004 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat gemeint, im Falle der Klägerin liege keine schwerwiegende Erkrankung vor, da durch den gestörten Schlaf die Lebensqualität nicht auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt sei. Die Klägerin stehe nicht mehr im Erwerbsleben, das besondere Anforderungen an Aufmerksamkeit und Konzentration erfordere. Außerdem sei offen, ob nicht Therapiealternativen bestünden, da die Klägerin nur eine Woche mit Restex behandelt worden sei. Auch die Zweckmäßigkeit der streitigen Medikation sei offen, da es nach dem Befundbericht von Dr. F zu einem Wirkungsverlust von Parkotil gekommen sei.
Mit der fristgerecht eingelegten Berufung rügt die Klägerin, das Sozialgericht habe überraschend das Vorliegen einer schwerwiegenden Krankheit verneint. Sie hat insoweit ausführlich dargestellt, welche Auswirkungen die Krankheit für sie im Alltag hat. Ihr Alltag werde praktisch von der Erkrankung bestimmt. Sie könne keinen Aktivitäten im Sitzen nachgehen. Lesen könne sie allenfalls am Morgen, Fernsehen fast nur im Umhergehen oder im Stehen. Konzert- oder Theaterbesuche seien nicht mehr möglich. Längere Autofahrten seien nur mit einer zusätzlichen Medikamentendosierung möglich. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts sei auch eine erfolglose Behandlung mit L-Dopamin nachgewiesen, da sie zunächst mit Narcom behandelt worden sei, das den gleichen Wirkstoff wie Restex enthalte. Es lägen auch ausreichende Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Pergolid bei der Behandlung des RLS vor. Nach dem Gutachten von Dr. T sei die bislang nur in der Zusammenfassung vorliegende Pearls-Studie im Volltext veröffentlicht worden; aufgrund dieser Studie liege nun eindeutig der geforderte Wirksamkeitsnachweis vor.
Zur aktuellen Medikation hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben, sie erhalte derzeit Parkotil und als Begleitmedikation u. a. Dopergin. Diese Medikamente erhalte sie aufgrund vertragsärztlicher Verordnung.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 18.08.2004 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.02.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.11.2003 zu verurteilen, sie künftig mit dem Medikament Parkotil nach jeweiliger ärztlicher Verordnung zu versorgen, hilfsweise ein Gutachten nach § 109 SGG zu der Frage einzuholen, ob bei ihr eine schwerwiegende, die Lebensqualität erheblich beeinträchtigende Erkrankung vorliegt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bezweifelt mit dem Sozialgericht, dass das RLS eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne der Rechtsprechung sei. Ferner hält sie an ihrer Auffassung fest, dass die Datenlage zur Wirksamkeit von Parkotil unzureichend sei. Dazu hat sie ein weiteres Gutachten von Dr. U vom 25.02.2005 vorgelegt, in dem die Pearls-Studie als unzureichend bezeichnet wird. Dr. U meint außerdem, da RLS keine tödliche oder zu gravierenden Behinderungen führende Krankheit sei, sei vor einem breiten Einsatz von Pergolid ein vollständiger Wirksamkeitsnachweis auf höchstem Evidenzniveau zu fordern.
Der Senat hat von Dr. F einen weiteren Befundbericht eingeholt. In dem Bericht vom 20.12.2004 führt sie aus, die Klägerin habe im Februar 2004 über einen Wirkungsverlust über Parkotil berichtet, deshalb sei beschlossen worden, die Dopaminagonisten phasenweise (Cabaseril und Parkotil in monatlichen Abständen) auszutauschen. Bei initialer Besserung zu Beginn der Erkrankung unter Narcom sei ein Wirkungsverlust aufgetreten. L-Dopamin-Präparate führten bei der Klägerin zu keiner Besserung der Beschwerdesymptomatik, so dass eine Indikation zum Einsatz eines Dopaminagonisten bestehe. Bedingt durch das RLS bestünden Schlafstörungen mit vermehrter Tagesmüdigkeit; die geklagten Beschwerden seien glaubhaft, könnten jedoch neurologisch nicht objektiviert werden.
Der Senat hat ferner ein neurologisches Gutachten von Dr. L, Oberarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums F vom 01.08.2005 eingeholt, das der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung erläutert hat. Dr. L hat bei der Klägerin ein mittelgradiges RLS diagnostiziert, das er als mittelschwer eingeschätzt hat. Das RLS führe zu unangenehm elektrisierend ziehenden Sensationen in den Beinen mit Bewegungsdrang. Begleitend träten mäßig ausgeprägte Schlafstörungen auf, die durch den Mittagsschlaf kompensiert würden. Einschränkungen geistiger Art bestünden nicht. Die Erkrankung führe zu einer mäßigen Einschränkung der Lebensqualität. Nachdem es unter der Behandlung mit dem Medikament Narcom zu einem Wirkungsverlust gekommen sei, bestehe bei der Klägerin keine hinreichende Therapiemöglichkeit mit L-Dopamin-Präparaten. Die Wirksamkeit von Pergolid bei der Behandlung des RLS sei jedenfalls seit der sog. Pearls-Studie nachgewiesen. Wegen Einzelheiten des Gutachtens wird auf das schriftliche Gutachten vom 01.08.2005 und die Sitzungsniederschrift vom 20.09.2005 Bezug genommen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, denn der Bescheid vom 19.02.2003, mit dem die Beklagte eine Versorgung der Klägerin mit Parkotil abgelehnt hat, ist rechtswidrig. Da die Klägerin ihren Antrag darauf beschränkt hat, in Zukunft mit dem Medikament Parkotil versorgt zu werden, ist nur über diesen künftigen Sachleistungsanspruch zu entscheiden.
I. Die Klage ist zulässig. Die Klägerin ist durch diesen Bescheid beschwert. Ihr Rechtsschutzbedürfnis kann nicht deshalb verneint werden, weil ihre behandelnden Ärzte ihr derzeit ungeachtet der Entscheidung der Beklagten das Medikament im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung verordnen, so dass es die Klägerin zu Lasten der Beklagten erhält. Da die Beklagte eindeutig einen materiellen Leistungsanspruch der Klägerin bestreitet, droht jederzeit die Beendigung der Verordnung aufgrund einer Intervention der Beklagten (z. B. durch Geltendmachung von Regressansprüchen gegen die behandelnden Ärzte). Somit muss die Klägerin die Möglichkeit haben, ihren materiellen Leistungsanspruch gerichtlich zu verfolgen.
II. Die Klägerin kann von der Beklagten die Versorgung mit dem Medikament Parkotil verlangen. Gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit diese verschreibungspflichtig sind (arg. § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V).
1. Ein Anspruch besteht allerdings nur für solche Arzneimitteltherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn das Fertig-arzneimittel nicht über die nach dem Arzneimittelrecht erforderliche Zulassung verfügt (BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 3, 5) oder wenn es in einem Anwendungsgebiet eingesetzt wird, für den es nicht zugelassen ist (so grundsätzlich BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 8). Um einen solchen zulassungsüberschreitenden Einsatz geht es hier, da das streitige Präparat Parkotil nicht für die Behandlung des RLS zugelassen ist.
2. Ausnahmsweise kommt jedoch nach der Rechtsprechung des BSG (a. a. O.) die Leistungspflicht der Krankenkasse auch bei einem off-label-use in Betracht, wenn die in Frage stehende Pharmakotherapie für die Behandlung der Erkrankung unverzichtbar und erwiesenermaßen wirksam ist. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder paliativ) erzielt werden kann. Letzteres kann nur angenommen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit bzw. einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG a. a. O. S. 36).
Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
a) Das bei der Klägerin vorliegende mittelgradige RLS ist als schwerwiegende Erkrankung einzustufen. Schwerwiegende Erkrankungen in diesem Sinne sind nicht nur lebensbedrohliche Erkrankungen oder solche Erkrankungen, deren Auswirkungen einer Lebensbedrohung gleichkommen (etwa wegen des Ausfalls von Sinnesorganen, dem Verlust wesentlicher Körperfunktionen oder einer psychischen Dekompensation), sondern auch solche Dauererkrankungen, die in Folge ihrer Auswirkungen den Patienten nachhaltig bei seinen Alltagsaktivitäten behindern und zumindest teilweise vom gesellschaftlichen Leben ausschließen. Von einem solchen Verständnis der schwerwiegenden Erkrankung geht auch offenbar der Gesetzgeber aus. Nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V gilt der Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel nicht für solche Präparate, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, wobei der Gemeinsame Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V diese Ausnahmen festlegen muss. In der Gesetzesbegründung zu dieser Bestimmung (BT-Drucksache 15/1525 S. 86) wird als Beispiel schwerwiegender Erkrankungen neben onkologischen Erkrankungen und der Nachsorge nach einem Herzinfarkt auch die Behandlung des Klimakteriums genannt, also einer Gesundheitsstörung, bei der es allenfalls um Unannehmlichkeiten und Beeinträchtigungen im Alltag geht.
Der Sachverständige Dr. L hat bei der Klägerin ein mittelgradiges RLS mit mittelschweren Auswirkungen festgestellt. Diese – von der eigenen Einschätzung der Klägerin in dem Fragebogen abweichende – Bewertung hat er bei seiner Anhörung damit begründet, dass die RLS-Beschwerden vor allem nachts ausgeprägt seien und sich die Klägerin durch Bewegung tagsüber weitgehend Beruhigung verschaffen könne. Er hat aber nicht bezweifelt, dass die Klägerin von Aktivitäten, die mit einem längeren Stillsitzen verbunden sind, ausgeschlossen und dass ihr Schlaf gestört sei. Diese Schlafbeschwerden der Klägerin, deren Gesamtschlafzeit nur noch 5 Stunden beträgt, wobei sie nur etwa 4 Stunden ununterbrochen schläft, sind ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht mehr im Erwerbsleben steht, als nachhaltige Einschränkung ihrer Lebensqualität anzusehen. Eine vermehrte Tagesmüdigkeit, wie sie in dem Befundbericht von Dr. F vom 20.12.2002 angegeben wird, ist zwangsläufig mit einer Einschränkung der Fähigkeit verbunden, ein befriedigendes familiäres und häusliches Leben zu führen. Auch wenn sich die Klägerin in ihren Aktivitäten hierauf eingestellt haben mag, beeinträchtigt sie die durch das RLS hervorgerufene Unruhe mit Bewegungsdrang im Alltag. Der Umstand, dass die Krankheit praktisch ihre Aktivitäten bestimmt und die Klägerin früher gepflegte Hobbys (Teppichknüpfen, Singen im Chor) aufgeben musste, bedeutet eine erhebliche Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten und mindert die Lebensqualität.
b) Eine andere Therapie zur Behandlung des RLS ist im Falle der Klägerin nicht verfügbar. Die Klägerin ist anfänglich mit dem Medikament Narcom behandelt worden, das ebenfalls wie das zugelassene Präparat Restex zur Gruppe der L-Dopamin-Präparate gehört. Die Behandlung war nach den Berichten der behandelnden Ärzte Dr. F und Dr. I nur initial erfolgreich, die Wirkung der L-Dopamin-Medikamente nahm jedoch über eine längere Dauer ab. Der Sachverständige Dr. L hat dementsprechend auch bestätigt, dass im Falle der Klägerin eine hinreichende Therapiemöglichkeit mit L-Dopamin-Präparaten nicht (mehr) besteht. Eine Behandlungsmöglichkeit mittels Opiaten oder Benzodiazepinen kommt unabhängig davon, dass diese Präparate ebenfalls nicht für die Behandlung des RLS zugelassen sind, nur bei schweren Formen des RLS als Behandlungsalternative in Betracht.
c) Entgegen der Ansicht der Beklagten ist auch die dritte Voraussetzung erfüllt und die Wirksamkeit der Therapie mittels Parkotil in einem ausreichenden Maß nachgewiesen. Dr. T, auf deren umfangreiche Gutachten sich die Beklagte im Wesentlichen stützt, nimmt zu Unrecht an, dass grundsätzlich für einen off-label-use die veröffentlichten Studienergebnisse den Prüfkriterien der Zulassungsbehörden entsprechen müssten und in jedem Fall eine Studie der Phase III vorliegen müsse (s. etwa S. 38 ihres "Up-date" vom September 2004; ähnlich wohl Dr. U im Gutachten vom 25.02.2005, wo er einen vollständigen Wirksamkeitsnachweis auf höchstem Evidenzniveau fordert). Es ist unrichtig, wenn Dr. T in ihrer Aktualisierung des Gutachtens vom Juli 2005 ausführt, das BSG fordere zur Wirksamkeit von Arzneimitteln in einer bisher nicht von der Zulassung erfassten Indikation einen Forschungsstand, der sich bezüglich der Anforderungen an die Qualität der Studien an der arzneimittelbehördlichen Prüfung der Phase III orientiere (Seite 24 des genannten Gutachtens). Zwar scheint die zitierte Formulierung in dem Urteil des BSG (a.a.O.), dass die vorliegenden Forschungsergebnisse erwarten lassen müssten, dass eine Zulassung für die betreffende Indikation erfolgen könne, darauf hinzudeuten, dass insoweit an die Evidenz der Wirksamkeitsnachweise Anforderungen wie in einem Zulassungsverfahren zu stellen seien und damit (im Regelfall) eine klinische Prüfung der Phase III vorliegen müsse. Die weiteren Ausführungen des BSG zeigen jedoch, dass außerhalb eines Zulassungsverfahrens ein off-label-use auch dann in Betracht kommt, wenn die klinischen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Zulassungsantrag noch nicht vorliegen, mit anderen Worten eine "Zulassungsreife" noch nicht erreicht ist.
Das BSG fordert das Vorliegen einer Studie der Phase III nur für den Fall, dass die Zulassung bereits beantragt ist (1. Alt.). Nach der zweiten Alternative reicht aber die "Veröffentlichung von außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen Erkenntnissen" aus. Die vorgenommene Differenzierung erscheint nur sinnvoll, wenn für die Erfüllung der zweiten Alternative eine "Zulassungsreife" noch nicht erforderlich ist und es insoweit ausreicht, dass wissenschaftlich nachprüfbare Erkenntnisse vorliegen, die zu einem Konsens innerhalb der beteiligten Fachkreise geführt haben. Dementsprechend hat das BSG in seinem Beschluss vom 04.01.2005 (B 1 KR 81/03 B) ausgeführt, dass die Krankenkassen zwar auch bei seltenen lebensbedrohenden Krankheiten im Arzneimittelbereich nur Leistungen gewähren müssten, die einem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und bei denen ein Mindestmaß an Arzneimittelsicherheit und -wirksamkeit gewährleistet sei. Zugleich hat es darauf hingewiesen, dass der rechtlichen und ethischen Problematik von (fehlenden) Arzneimittel-Studien in der Rechtsprechung dadurch Rechnung getragen worden sei, dass die Anforderungen an die Evidenz herabgesetzt worden seien, indem auch die Heranziehung von außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen wissenschaftlich untermauerten Erkenntnissen für zulässig erachtet worden sei. Diese Ausführung zeigen, dass das BSG im Rahmen der zweiten Alternative auch wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise unterhalb der Ebene einer Phase-III-Studie ausreichen lässt, also die für die Zulassung eines Arzneimittels erforderlichen Wirksamkeitsnachweise noch nicht vorliegen müssen. Es ist daher unerheblich, ob die zu Pergolid vorliegenden Studien für eine generelle Zulassung zur Behandlung des RLS ausreichen würden (was auch Dr. L bezweifelt hat).
Jedenfalls seit der Veröffentlichung der sog. Pearls-Studie (Neurology 2004; 62: 1391 – 1397) liegen wissenschaftlich ausreichend untermauerte Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Parkotil bei der Behandlung des RLS vor. Der Sachverständige Dr. L hat darauf hingewiesen, dass die Datenlage zu Pergolid die beste von allen Dopaminagonisten sei. Wenn er auch die früheren Studien, die ein relativ kleines Patientenkollektiv einschlossen (zwischen 8 bis 30 Patienten) als (noch nicht ausreichende) Pilotstudien qualifiziert hat, liegt nach seiner Beurteilung nunmehr aber mit der Pearls-Studie, die 100 Patienten umfasst hat, eine aussagekräftige Studie vor, die auch qualitativ hochwertig veröffentlicht worden ist. Die Ergebnisse der Studie zeigen eine statistisch signifikante Besserung bezüglich der RLS-Auswirkungen nachts und tags sowie bezüglich der Schlafzufriedenheit. Bereits vor der Veröffentlichung der Pearls-Studie war in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Stand 15.05.2002) zum Wirkstoff Pergolid die positive Aussage zur Wirksamkeit bei der Behandlung der RLS als (durch drei adäquate, klinisch valide Studien) "gut belegt" beurteilt wurden. Dies spricht für die Beurteilung des Sachverständigen Dr. L, dass nunmehr mit der Pearls-Studie (endgültig) ein ausreichender Wirksamkeitsnachweis erbracht sei. Soweit Dr. T in dem "Up-date" von September 2004 die Studie wegen verschiedener methodischer Mängel (Inkonsistenz bei der Wahl geeigneter, auf die Zielsetzung gerichteter Prüfparameter, Unsicherheit in der Aufrechterhaltung der Verblindung während des Studienverlaufs, hohe Placeboeffekte auch im Bezug auf sog. objektive Parameter) sowie wegen der fehlenden zuverlässigen Erfassung von Augmentation und einer Prüfung der Langzeitwirksamkeit kritisiert und daher zu dem Schluss kommt, dass eine ausreichende Validität für die Annahme eines "vollständigen" Wirksamkeitsnachweises bei vertretbaren Risiken auch aus dieser Studie nicht ableitbar sei (Seite 50 ihres Gutachtens) stellt sie an den Wirksamkeitsnachweis zu hohe Anforderungen.
Im Übrigen ist ihre Kritik, was die Risiken und Problematik der Augmentation (Wirkverlust bei längerer Anwendung) anbelangt, nicht ganz verständlich. Was die Arzneimittelsicherheit anbelangt, hat Dr. L zu Recht darauf hingewiesen, dass die Langzeitverträglichkeit bei dem Einsatz gegen die Parkinsonerkrankung hinreichend überprüft worden und unerwünschte Wirkungen aus dem Einsatz zur Behandlung dieser Krankheit bekannt sein müssten. Dr. T weist zwar auf das Vorkommen seltener, jedoch schwerwiegender Nebenwirkungen beim Einsatz von Dopaminagonisten (Seite 84 des "Up-date") hin. Wenn sie insoweit angesichts des aus neuropathologischer Sicht benignen Charakters des RLS eine "konsequente Erfassung" der unerwünschten Arzneimittelwirkungen und einen "möglichst vollständigen" Wirksamkeitsnachweis fordert, mag diese Forderung für die Zulassung des Medikaments berechtigt sein. Insoweit trifft zu, dass Nebenwirkungen immer im Vergleich mit der Schwere der Krankheit und dem Nutzen des Einsatzes bewertet werden müssen. Wenn jedoch ein off-label-use bereits vor der "Zulassungsreife" in Betracht kommt, kann sich nur die Frage stellen, ob die bekannten Nebenwirkungen im Vergleich mit dem bekannten Nutzen den Einsatz verbieten. Das behauptet aber selbst Dr. T nicht. In der Aktualisierung zu ihrem Gutachten vom Juli 2005 führt sie dementsprechend zu Veröffentlichungen zu potenziell schwerwiegenden Cabergolin-induzierten cardiopulmonalen und peritinonealen fibriotischen/inflammatorischen Nebenwirkungen aus, diese seien nicht in dem Sinne zu interpretieren, dass grundsätzlich von dieser Substanz Abstand genommen werden müsse.
Was die Langzeitwirkung und das Problem einer möglichen Augmentation anbelangt, sind diese Aspekte kein Argument gegen einen Einsatz eines Medikaments in einer Situation, in der das zugelassene Präparat (wegen der schon eingetretenen Augmentation) nicht mehr hilft, es also darum geht, für eine unter Umständen begrenzte Dauer Beschwerden entgegenzuwirken. Es ist nicht verständlich, warum nicht auch eine zeitlich begrenzte Linderung der Beschwerden ausreichen soll, um eine Behandlung mittels dieses Präparats durchzuführen. Auch Dr. T dürfte kaum der Ansicht sein, dass auf eine zunächst erfolgreiche Behandlung verzichtet werden müsste, nur weil in mehr oder weniger absehbarer Zeit das Medikament nicht mehr helfen könnte. Ob und in welchem Umfang eine Klärung der Augmentation für eine arzneimittelrechtliche Zulassung erforderlich ist, kann in diesem Zusammenhang dahinstehen.
Auch der geforderte Konsens der einschlägigen Fachkreise über den Nutzen des Einsatzes von Pergolid zur Behandllung des RLS liegt vor. Die Klägerin hat bereits im Verwaltungsverfahren eine entsprechende Erklärung von auf dem Gebiet der Behandlung des RLS maßgeblichen Ärzten vorgelegt. Der Sachverständige Dr. L hat einen solchen Konsens innerhalb der beteiligten Fachkreise bestätigt. Ebenso weist Dr. T in ihrer Aktualisierung des Gutachtens von Juli 2005 darauf hin, dass aktuelle Expertenempfehlungen – einen Bedarf nach einer Pharmakotherapie vorausgesetzt – den Einsatz von Dopaminagonisten als Mittel erster Wahl favorisieren (Seite 20 des genannten Gutachtens). Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bestand selbst vor der Pearls-Studie schon ein Konsens in den maßgeblichen Fachkreisen darüber, dass die Aussage zur Wirksamkeit von Pergolid bei der Behandlung des RLS positiv gut belegt sei (wenn auch in der Leitlinie eingeräumt wird, dass die Dopaminagonisten sich noch in der klinischen Prüfung befinden). Die Beklagte hat auch nicht geltend gemacht, dass von – eventuell wenigen kritischen Gegenstimmen abgesehen – der Einsatz von Dopaminagonisten umstritten sei.
Da somit die Voraussetzungen für einen off-label-use zu Lasten der Krankenkassen vorliegen, kann die Klägerin von der Beklagten die Versorgung mit dem Medikament Parkotil verlangen, sofern es ihr ärztlich verordnet worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat den hierzu entscheidenden Fragen grundsätzliche Bedeutung beigemessen und daher die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Erstellt am: 23.05.2006
Zuletzt verändert am: 23.05.2006