I. Der Bescheid der Beklagten vom 21. April 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. September 2011 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Grundsicherungsleistungen der Klägerin unter teilweiser Aufhebung der entgegenstehenden bestandskräftigen Bescheide ab 1. November 2008 bis 31. Dezember 2010 ohne Anrechnung der staatlichen Invalidenrente als Einkommen neu zu berechnen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand:
Die am 1935 geborene Klägerin ist jüdische Emigrantin. Sie steht seit Jahren im Leistungsbezug bei der Beklagten.
Seit 01.02.2008 (Bescheid vom 28.10.2008) wird die damals noch in Russland bezahlte russische Altersrente als Einkommen angerechnet, allerdings ohne einen Anteil in Höhe von 500 Rubel, der der Klägerin als Überlebende der Leningrad-Blockade im Zweiten Weltkrieg vom Verteidigungsministerium bezahlt wird (sog. DEMO Rente).
Die letzte Bewilligung auf dieser Grundlage erfolgte mit Bescheid vom 06.10.2009 für die Zeit bis 31.03.2009.
Am 02.11.2009 legte die Klägerin eine Rentenbescheinigung vom 20.08.2009 vor, aus der sich ergibt, dass jedenfalls ab 01.11.2008 zusätzlich zur Altersrente eine staatliche Invalidenrente gezahlt wird. Die Klägerin teilte hierzu mit, dass ihr diese aufgrund der Kriegshandlungen im Zweiten Weltkrieg (Leningrad-Blockade) gewährt werde.
Nach Anhörung erließ die Beklagte daraufhin am 16.12.2009 einen Änderungsbescheid, mit dem die seit 30.12.2008 ergangenen Bewilligungsbescheide für die Zeit ab 01.11.2008 bis 31.12.2009 unter Anrechnung der tatsächlich gezahlten Renten einschließlich der Invalidenrente aufgehoben wurde. Die sich hieraus ergebende Überzahlung in Höhe von insgesamt 2.593,60 EUR forderte sie von der Klägerin zurück.
Es folgte Korrespondenz mit der Klägerin, die Bescheinigungen aus Russland vorlegte, wonach ihr diese Rente gemäß Art. 18 des Bundesgesetzes über (Kriegs-) Veteranen als Kriegsveteranin des Zweiten Weltkriegs gewährt wird.
Die Beklagte vertrat hierzu die Auffassung, dass diese Leistungen nur entsprechend der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anrechnungsfrei bleiben könnten. Hierzu sei eine Feststellung des Grads der Beschädigung erforderlich. Im Übrigen seien für zusätzliche Aufwendungen aufgrund der Invalidität Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – SGB XII – (Mehrbedarf oder Pflegegeld) vorgesehen und ausreichend. Auch inländische Invalidenrenten (Erwerbsminderungsrenten) würden angerechnet (Schreiben vom 22.01.2010).
Nachdem die Klägerin mitteilte, dass sie die Überweisung der Rente nach Deutschland beantragt und daher vorübergehend keinen Zugriff auf diese habe, wurde die Anrechnung der Rente ab 01.04.2010 vorübergehend ausgesetzt (Bescheid vom 11.03.2010).
Mit Schreiben vom 15.09.2010 erläuterte die Klägerin die Hintergründe für die Zahlung der Invalidenrente aufgrund des "Föderativen Gesetzes" der Russischen Föderation vom 15.12.2001 mit der Nr. 166-FS. Diese erhielten lediglich Personen, die entweder Kriegsveteranen des Zweiten Weltkriegs seien oder die Auszeichnung als Überlebende der Leningrad-Blockade und zugleich die Behinderung des III., II. oder I. Grades nachweisen könnten. Sie selbst verfüge nach erfolgter Feststellung der Behinderung über eine Behinderungsstufe II und damit über die Voraussetzungen zum Bezug der staatlichen Invalidenrente. Diese diene zum Ausgleich eines aus dem Zweiten Weltkrieg entstandenen gesundheitlichen Schadens und sei mit dem Bundesversorgungsgesetz vergleichbar. Reguläre Erwerbsminderungsrenten würden nach einem anderen Rentengesetz bewilligt.
Sie legte zugleich Kontoauszüge vor, aus denen sich ergibt, dass die Rente erstmals im Juni 2010 auf ihr Konto überwiesen wurde.
Die Beklagte erließ daraufhin am 23.09.2010 einen Änderungsbescheid, mit dem die quartalsweise erfolgten Rentenzahlungen jeweils auf das nachfolgende Quartal angerechnet wurden. Freigelassen wurde weiterhin nur der in Euro umgerechnete DEMO Rentenanteil von 500 Rubel.
Zugleich regte sie an, beim Versorgungsamt einen Antrag auf Feststellung einer Kriegsbeschädigung zu stellen.
Nachdem festgestellt wurde, dass versehentlich der Freibetrag von 15,00 EUR monatlich nicht berücksichtigt worden war, erließ sie am 25.10.2010 einen Änderungsbescheid unter Berücksichtigung des Freibetrags.
Die Klägerin äußerte sich mit Schreiben vom 11.11.2010. Das Versorgungsamt habe ihr keine Beschädigtenversorgung in Aussicht stellen können, da ihr tatsächlich im Zuge der Kriegshandlungen auch kein körperlicher Schaden entstanden sei. Jedoch habe sie die Blockade überlebt und deshalb am 15.03.1990 eine Auszeichnung als Überlebende der Leningrad-Blockade erhalten. Die Möglichkeit, diese Rente zu beanspruchen, gebe es aber erst seit der Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes vom 15.12.2001. Sie selbst habe den Anspruch erst mit Antrag vom 18.06.2008 geltend gemacht, da ihr dies vorher nicht bekannt gewesen sei. Aufgrund ihres Antrags sei auch eine Begutachtung der Krankenunterlagen durch das Versorgungsamt in Russland erfolgt, das im Zusammenhang mit der Beantragung der Staatlichen Invalidenrente auch eine Schwerbehinderung festgestellt habe. Dies könne auch so verstanden werden, dass der Gesetzgeber davon ausgehe, dass Personen, die diese Auszeichnung besitzen, die Voraussetzungen für die Erteilung des Schwerbehindertenausweises bereits aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters auf jeden Fall erfüllen und dass alleine das Erleiden des Überlebens der Leningrad-Blockade, welches die gesundheitlichen Folgen hinterlassen habe, ausreiche, auch wenn kein körperlicher Schaden während der Kriegshandlungen entstanden sei. Es müsse aber das Überleben der Leningrad-Blockade schon als bleibender gesundheitlicher Schaden aus dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden.
Die Beklagte teilte mit Schreiben vom 25.11.2010 mit, dass sie an ihrer Auffassung aus Gleichbehandlungsgründen festhalte.
Mit Schreiben vom 08.12.2010 stellte die Klägerin daraufhin förmlich einen Überprüfungsantrag bezüglich der Anrechnung der Invalidenrente.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 21.04.2011 ab, gegen den die Klägerin am 28.04.2011 Widerspruch einlegte. Zur Begründung führte sie aus, dass der Bescheid des Versorgungsamts bereits deshalb nicht erheblich sei, weil es dabei ausschließlich um Leistungen nach dem BVG gehe. Sie sei auch nicht gefragt worden, ob sie eine kriegsbedingte gesundheitliche Schädigung erlitten habe. Tatsächlich leide sie aber an insulinabhängigem Diabetes, Neuropathie, Hypertonie, Schilddrüsenerweiterung und Wirbelsäulenproblemen, die ihre Ursache nach Aussage der Ärzte in der totalen Nahrungsmittelunterversorgung während der Leningrad-Blockade hätten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 30.09.2011 wies die D. den Widerspruch der Klägerin zurück.
Dagegen wendet sich diese mit ihrer Klage vom 06.10.2011, mit der zugleich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt wird.
Die Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 07.11.2011 und beantragt, die Klage abzuweisen. Entscheidend sei, dass anders als bei den Leistungen nach dem BVG die Ursache für die Behinderung unerheblich sei. Die Invalidenrente sei somit tatsächlich nicht mit einer Grundrente nach dem BVG vergleichbar, sondern mit einer inländischen Invalidenrente (Erwerbsminderungsrente).
Mit Schreiben vom 14.11.2011 übersandte die Klägerin eine neue Rentenbescheinigung vom 19.09.2011, in der darauf hingewiesen wird, dass es sich bei der Invalidenrente um eine Kompensation des gesundheitlichen Schadens handle, welcher den Bürgern durch die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg zugefügt worden sei.
Das Gericht hat die Streitsache am 22.12.2011 mündlich verhandelt.
Es hat der Klägerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Beller bewilligt.
In der mündlichen Verhandlung beantragt die Klägerin,
den Bescheid vom 31.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
30.09.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Grundsicherungs-
leistungen ab 01.11.2008 bis 31.12.2010 ohne Anrechnung der staatlichen
Invalidenrente als Einkommen neu zu berechnen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Behördenakten verwiesen. Das Gericht hat außerdem ein Rechtsgutachten des Instituts für Ostrecht (IOR) München vom 31.01.2011 zugezogen, das das Sozialgericht Nürnberg im dortigen Verfahren S 19 SO 100/10 in Auftrag gegeben hat.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet. Die Ablehnung des Überprüfungsantrags vom 08.12.2010 mit Bescheid vom 21.04.2011 durch die Beklagte war rechtswidrig. Die Klägerin hat tatsächlich einen Anspruch auf Überprüfung und Aufhebung der bestandskräftigen Bewilligungsbescheide ab 01.11.2008 bis 31.12.2010, soweit darin die Beklagte neben der Altersrente auch die staatliche Invalidenrente der Klägerin als Einkommen angerechnet hat.
Gemäß § 44 Abs. 1 SGB X werden auch unanfechtbare Verwaltungsakte auf Antrag oder von Amts wegen für die Vergangenheit aufgehoben, soweit sich herausstellt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der rückwirkenden Korrektur nicht begünstigender bestandskräftiger Bescheide über Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung steht auch nicht der Grundsatz entgegen, dass Leistungen für die Vergangenheit nicht erbracht werden (Bundessozialgericht – BSG – vom 26.08.2008 – B 8 SO 26/07 R).
Die Anrechnung der russischen Invalidenrente in den im Zeitpunkt der Antragstellung am 08.12.2010 bestandskräftigen Bewilligungsbescheiden vom 16.12.2009, 20.04.2010 und 25.10.2010 erfolgte im Ergebnis zu Unrecht, so dass die Klägerin einen Anspruch auf Korrektur dieser Bescheide im Rahmen des so genannten Zugunstenverfahrens hat.
Grundsätzlich ist die Anrechnung ausländischer Renten als Einkommen gemäß § 82
Abs. 1 Satz 1 SGB XII auch dann nicht zu beanstanden, wenn diese – wie vorliegend jedenfalls noch im streitgegenständlichen Zeitraum – in Russland zufließen; sie sind in diesem Fall zum Kurswert in Euro umzurechnen. Etwas anderes ergibt sich daher auch nicht aus der Stellung der Klägerin als jüdische Emigrantin (BayLSG vom 20.10.2011 – L 18 SO 79/10).
Dies gilt aber nicht für diejenigen Bestandteile, die vorliegend der Klägerin nach Feststellung der Invalidität nach russischem Recht deshalb bezahlt werden, weil sie als Kind von der dreijährigen Blockade Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht betroffen war. Es handelt sich bei dieser Rente um eine anrechnungsfreie Entschädigungsleistung des russischen Staates, die auch nach Grund und Höhe einer Grundrente nach dem BVG vergleichbar ist.
Dieses Ergebnis ergibt sich aus einem Vergleich der Invalidenrente für den Personenkreis der "Blockadeopfer Leningrads" mit Entschädigungsleistungen, die nach deutschen Rechtsvorschriften gewährt werden.
Grundsätzlich sind gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XII alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert als Einkommen berücksichtigungsfähig. Ausgenommen von der Einkommensanrechnung sind nach § 82 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz SGB XII lediglich Leistungen nach dem SGB XII, die Grundrechte nach dem BVG und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des BVG vorsehen, und die Renten oder Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schäden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit erbracht werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem BVG. Im Wesentlichen ist damit beabsichtigt, gerade diese Renten, die im besonderen Maße ein mit dem Verlust körperlicher Unversehrtheit einhergehendes Sonderopfer für die Allgemeinheit auszugleichen, nicht durch Anrechnung auf Grundsicherungsleistungen zu entwerten (BayLSG, a.a.O.)
Daneben sind aufgrund ausdrücklicher Anordnung in den jeweiligen Gesetzen bestimmte Entschädigungsleistungen nicht oder nur teilweise auf die Grundsicherung anzurechnen. Insoweit wird auf die Auflistung in den Empfehlungen für den Einsatz von Einkommen und Vermögen in der Sozialhilfe (SGB XII) des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. verwiesen (Rn. 15 zu A) III.). Als vergleichbare Leistungen kommen danach insbesondere Renten oder Beihilfen in Betracht, die nach dem Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit geleistet werden und die bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem BVG ebenfalls anrechnungsfrei sind. Anrechnungsfrei sind ferner Leistungen auf Grundlage des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" nach § 15 Abs. 1 dieses Gesetzes sowie die Entschädigungsrenten und Leistungen nach dem Gesetz über Entschädigungen für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet zur Hälfte (§ 4 EntschRG).
Anrechnungsfrei sind gemäß § 83 Abs. 1 SGB XII aber auch Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, soweit nicht die Sozialhilfe im Einzelfall demselben Zweck dient. Soweit die oben genannten Entschädigungsleistungen nicht schon aufgrund ausdrücklicher Regelung anrechnungsfrei sind, wird teilweise auch diese Rechtsgrundlage als Begründung für eine Anrechnungsfreiheit herangezogen (Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 17. Auflage,
Rn. 12 f. zu § 83).
Der Beklagten wird eingeräumt, dass tatsächlich die weit überwiegende Anzahl der in
§ 82 Abs. 1 SGB XII aufgezählten Leistungen auf eine konkrete Schädigung abstellt, wie auch nach dem BVG anrechnungsfreie Leistungen nur dann gewährt werden, wenn ein ursächlicher Zusammenhang im Sinne einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung durch einen bestimmten Sachverhalt (Kriegseinwirkung) jedenfalls wahrscheinlich ist (§§ 1 Abs. 3, 30 BVG).
Diese Voraussetzungen können vorliegend tatsächlich nicht festgestellt werden.
Zwar scheiterte die Gewährung von Leistungen nach dem BVG, worauf die Klägerin auch zutreffend hingewiesen hat, zunächst daran, dass sie schon aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis gehört, daneben an einer nicht feststellbaren Schädigung im Sinne des BVG. Abgesehen davon könnten Schädigungen, die kausal durch eine Situation wie die Leningrad-Blockade verursacht worden sind, wohl grundsätzlich als Schädigung aufgrund unmittelbarer Kriegseinwirkung anerkannt werden, wobei dann im Weiteren die Frage einer Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG zu prüfen wäre.
Hieraus folgt aber noch nicht zugleich, dass Entschädigungsleistungen, die Angehörigen anderer Staaten von ihrem Herkunftsland gewährt werden, wie die streitgegenständliche Invalidenrente, nicht auch anrechnungsfreie Entschädigungsleistungen, vergleichbar einer Grundrente nach dem BVG, darstellen können. Entscheidend sind danach vor allem Grund und Zweck der Invalidenrente und deren Vergleichbarkeit mit anderen anrechnungsfreien inländischen Leistungen, die nach deutschem Recht für Opfer von Krieg und Verfolgung geleistet werden.
Im Einzelnen handelt es sich dabei insbesondere um folgende Leistungen:
Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erhalten Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, die aus Gründen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus oder aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden sind und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in ihrem beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen erlitten haben (§ 1 BEG). Die Leistungen werden aber gemäß § 4 BEG nur bestimmten Personenkreisen gewährt (insbesondere deutschen beziehungsweise vertriebenen Personen), zu denen die Klägerin nicht gehört.
Nach den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer nationalsozialistischer Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG-Härterichtlinien) erhalten Personen, die wegen ihrer körperlichen oder geistigen Verfassung oder wegen ihres gesellschaftlichen oder persönlichen Verhaltens vom NS-Regime als Einzelner oder als Angehöriger von Gruppen angefeindet wurden und denen deswegen Unrecht zugefügt worden ist, einmalige beziehungsweise laufende Leistungen. Anerkannt sind danach Schäden an Gesundheit oder Freiheit, die nachzuweisen sind. Im Falle außergewöhnlicher Umstände (Inhaftierung, Lagerhaft oder Verstecktleben) kommen weitere Leistungen in Betracht. Allerdings werden auch diese Leistungen ausschließlich an Personen gewährt, die im Zeitpunkt der Schädigung deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige waren.
Entschädigungsleistungen an ausländische Opfer des NS-Regimes werden insbesondere auf Grundlage des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" geleistet. Weitere Voraussetzung ist danach eine Inhaftierung in einem Konzentrationslager oder Ghetto unter vergleichbaren Bedingungen mit Arbeitsverpflichtung, ein Arbeitseinsatz im Zusammenhang mit einer Deportation oder ein Vermögensschaden.
Zur Hälfte auf die Leistungen nach dem SGB XII angerechnet werden die sog. Entschädigungsrenten nach dem Entschädigungsrentengesetz, die eine Fortführung von Entschädigungsleistungen der früheren Deutschen Demokratischen Republik an Kämpfer gegen den Faschismus und Verfolgte des Faschismus sowie deren Hinterbliebene darstellen. Diese Leistungen setzen neben der Anerkennung als Verfolgte nach den in § 2 der Anordnung über ihre Intentionen genannten Vorschriften den Eintritt von Invalidität oder des Pensionsalters voraus. Die Höhe dieser Renten liegt mit 717,50 EUR allerdings deutlich über der Grundrente nach dem BVG, die bei einem Grad der Beschädigung von 30 derzeit 124,00 EUR beträgt.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass allen diesen Leistungen gemeinsam ist, dass eine Schädigung eingetreten ist, wobei diese unter Umständen aber auch in einer Verfolgungssituation oder in einer Freiheitsentziehung bestehen kann, ohne dass ein hierauf beruhender Gesundheitsschaden festgestellt werden muss. Bezüglich des Tatbestands der Verfolgung wird darauf abgestellt, dass es sich um Personen handelt, die entweder aktiv Widerstand geleistet haben oder aufgrund einer Zugehörigkeit zu angefeindeten Gruppen verfolgt worden sind. Beide Voraussetzungen liegen im Falle der Klägerin zwar unmittelbar nicht vor. Allerdings wäre diese als Jüdin an jedem anderen Ort im Zugriffsbereich des NS-Regimes aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt worden und es stellt sich die Frage, ob die Situation des Lebens und Überlebens in der dem Hungertod preisgegebenen Stadt Leningrad nicht ohnehin eine vergleichbare Verfolgungssituation darstellt. Nachdem die Klägerin auch auf diese Leistungen aber schon aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit keinen Anspruch hätte, ist nach Überzeugung der Kammer nur zu prüfen, ob es sich bei dem vom russischen Staat als Grundlage für die Entschädigung herangezogenen Ereignis, nämlich der Blockade Leningrads mit ihren Folgen, um ein Ereignis gehandelt hat, das in gleicher Weise "entschädigungswürdig" ist und ob diese Leistung auch ausdrücklich im Sinne einer Entschädigung, also zusätzlich zu anderen Leistungen, gewährt wird. Beide Voraussetzungen sind im Ergebnis erfüllt.
Die der Klägerin von der staatlichen Rentenversorgung gewährte Invalidenrente ist mit Entschädigungsleistungen nach deutschem Recht und einer Grundrente nach dem BVG dem Grunde und der Höhe nach vergleichbar, was sich aus dem Rechtsgutachten des Instituts für Ostrecht (IOR) München e.V. im Wissenschaftszentrum Ost- und Südosteuropa vom 31.01.2011 ergibt.
Danach wurde eine zusätzliche Invalidenrente zunächst nur an Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs bezahlt, wozu auch diejenigen Personen gehörten, die mit der Medaille "Für die Verteidigung Leningrads" ausgezeichnet wurden, nicht jedoch Personen, die mit dem Zeichen "Blockadeopfer Leningrads" ausgezeichnet wurden, da sie nicht aktiv an Kriegshandlungen teilgenommen haben. Voraussetzung für eine Auszeichnung mit dem Zeichen "Blockadeopfer Leningrads" ist danach, dass jemand während der deutschen Blockade Leningrads, die vom 08.09.1941 bis zum 27.01.1944 dauerte, mindestens 4 Monate in Leningrad gelebt hat und nicht mit der Medaille "Für die Verteidigung Leningrads" ausgezeichnet worden ist. Erst im Jahr 2008 wurde der Kreis der Personen, die einen Rentenanspruch aus der staatlichen Rentenversorgung haben, um diesen Personenkreis ergänzt. Diese konnten in der Folgezeit eine Invalidenrente nach Art. 5.4 des StaatsRentenG 2001 erhalten, wenn sie in ihrer Arbeitsfähigkeit eine Einschränkung des III., II. oder I. Grades nachweisen konnten, wobei der Grund der Invalidität grundsätzlich ohne Bedeutung ist, die Invalidität insbesondere nicht mit einer Verletzung im Zusammenhang stehen muss. Diese Vorschriften wurden in der Folgezeit mehrfach modifiziert und die Rentenleistungen insbesondere in der Höhe mehrfach angehoben. Das Gutachten führt weiter aus, dass es sich bei dieser Invalidenrente nicht um eine allgemeine Invalidenrente handelt, die allein aufgrund des Eintritts von Invalidität zur Sicherung des allgemeinen Lebensunterhaltes aufgrund des ArbeitsRentenG gewährt wird, sondern um eine einkommensunabhängige soziale Leistung, die auch unabhängig davon ausgezahlt wird, ob eine bezahlte Arbeit ausgeübt wird. Es sollten mit der Festsetzung dieser Invalidenrente zunächst die Teilnehmer des "Großen Vaterländischen Krieges" für ihre besonderen Verdienste gegenüber dem Staat während des Zweiten Weltkriegs eine zusätzliche soziale Unterstützung erhalten. Der Grund für die finanzielle Gleichstellung der Blockadeopfer mit den ausgezeichneten Kriegsveteranen (und damit deren finanzielle Besserstellung) beruhte danach auf der Erwägung, dass die Blockade Leningrads in den Kriegsjahren für diese Kategorie von Personen, die in dieser Zeit minderjährige Kinder waren und unter den Bedingungen der Blockade Leningrads herangewachsen sind, ein schwerer moralischer und physischer Schicksalsschlag gewesen ist. Dies sei auch der Grund dafür, dass der Prozentsatz an Invaliden unter dieser Kategorie von Personen besonders hoch sei. Der Gesetzgeber wollte danach diese Gruppe besser stellen als andere Invaliden. Er ging dabei davon aus, dass die Blockadeopfer in Folge der Belagerung Leningrads typischerweise einem hohen Risiko der Invalidität ausgesetzt waren und sind, weswegen das Gutachten zusammenfassend zu dem Ergebnis kommt, dass die Regelung die Funktion einer Entschädigung für infolge des durch das nationalsozialistische Deutschland verübten Unrechts der Blockade Leningrads erlittene gesundheitliche Schäden erfülle.
Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an.
Ausschlaggebend sind dafür folgende Erwägungen:
Die Invalidenrente aus der staatlichen Rentenversorgung stellt nach ihrem Zweck eine zusätzliche Versorgung im Sinne einer Entschädigung dar. Die Überlebenden der Leningrad-Blockade sollen gegenüber anderen Invaliden ausdrücklich besser gestellt werden. Es soll mit dieser Rente ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass auch diejenigen, die damals im Kindesalter waren, erheblich und dauerhaft unter der Blockade und ihren Folgen gelitten haben. Der Gesetzgeber hat dabei auf Erhebungen verwiesen, wonach die in der Russischen Föderation lebenden Personen, die mit dem Zeichen "Blockadeopfer Leningrads" ausgezeichnet worden sind, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich oft in ihrer Arbeitsfähigkeit beschränkt waren.
Es hat sich bei der Blockade Leningrads auch um eine gezielte Verfolgung der Leningrader Bevölkerung durch das NS-Regime in dem Sinn gehandelt, dass diese gewollt und bewusst dem Hungertod preisgegeben worden ist. Es hat sich bei der Belagerung gerade nicht um eine "reguläre" Kriegshandlung gehandelt. Denn danach hätte die Stadt entweder im Zuge "regulärer" Kriegshandlungen erobert oder gegebenenfalls nach Kapitulation besetzt werden müssen. In beiden Fällen wäre das Heer für die Ernährung der Bevölkerung und der Kriegsgefangenen verantwortlich gewesen (Art. 7 der Anlage des Haager Abkommens von 1907). Tatsächlich war aber die Besetzung Leningrads mit der Folge, nach allgemeinem Kriegsrecht auch für die Versorgung der Bevölkerung verantwortlich zu sein, von der deutschen Heeresführung zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt. Das den Truppen vor Ort erst nach und nach offenbarte Ziel war von vornherein die "Bereinigung" Leningrads nur durch Hunger und nicht durch Waffengewalt (Johannes Hürter, Die Wehrmacht vor Leningrad, Krieg und Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42, in Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte, 49 (2001), Heft 3, S. 377). Wohl nicht zuletzt deshalb, weil man nicht bereit war, für die hungernde Bevölkerung aufzukommen, war eine Eroberung nicht angeordnet und infolge unzureichender Ausstattung der Truppen später auch nicht mehr möglich. Die Heeresführung vor Ort war ausdrücklich angewiesen, auch eine Kapitulation nicht zu akzeptieren und auch auf aus der Stadt fliehende Frauen und Kinder zu schießen (Johannes Hürter, a.a.O.). In der Folge starben nach westlichen Schätzungen bis zu 1,1 Millionen zivile Bewohner der Stadt, überwiegend an Hunger und Entbehrung (http://de.wikipedia.org/wiki/Leningrader Blockade
cite note-0). Historisch ist die Blockade Leningrads als Kriegsverbrechen anerkannt (Hamburger Institut für Sozialforschung: Verbrechen der Wehrmacht – Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Ausstellungskatalog der korrigierten Fassung der Wehrmachtsausstellung, Hamburger Edition 2002, ISBN 3-930908-74-3, S. 308).
Auch die Wertung des russischen Gesetzgebers, die in der Folgezeit eingetretene Invalidität sozusagen pauschal zu entschädigen, ohne im Einzelfall einen Nachweis für eine Kausalität zu verlangen, entwertet weder den Charakter als Entschädigungsleistung an sich noch ist danach ein Vergleich mit Entschädigungsleistungen nach deutschem Recht ausgeschlossen. So wird auch bei den sog. Entschädigungsrenten nach früheren Rechtsvorschriften der DDR, die im Rahmen der Wiedervereinigung übernommen und fortgeführt worden sind, diese Kausalität im Sinne einer Ursächlichkeit der Verfolgung nicht vorausgesetzt. Auch in diesem Fall genügt die Zugehörigkeit zum anspruchsberechtigten Personenkreis und der spätere Eintritt von Invalidität. Diese Leistungen sind zwar nur zur Hälfte anrechnungsfrei, liegen aber mit über 700 EUR auch erheblich über vergleichbaren anrechnungsfreien Leistungen nach dem BVG und anderen Rechtsvorschriften. Der Gesetzgeber hat sich im Zuge der Fortführung dieser Regelungen ausdrücklich für eine Übernahme der ausgesprochenen Anerkennungen und gegen eine Regelung im Rahmen des BEG deshalb entschieden, weil das Wiedergutmachungsrecht des BEG mit seinen Anforderungen an den Nachweis konkreter Rechtsgutverletzungen im haftungsbegründenden und an individualisierende Schadensbemessung im haftungsausfüllenden Tatbestand angesichts des sehr hohen Alters des größten Teils der Betroffenen und der sehr weit zurückliegenden maßgeblichen Sachverhalte im Beitrittsgebiet nicht mehr sachgerecht eingeführt werden könnte (BSG vom 30.01.1997 – 4 RA 33/95 – unter Hinweis auf BT-Drucks. 12/1790, 5).
Auch nach deutschen Rechtsvorschriften werden also Entschädigungsleistungen gewährt, die nicht davon abhängig sind, dass die Ursächlichkeit einer Verfolgungssituation für einen bleibenden Gesundheitsschaden noch nachgewiesen werden kann.
Schließlich ist auch der Einwand der Klägerin nicht unbeachtlich, es habe bereits die zur Anerkennung als Blockadeopfer führende Situation, nämlich die Tatsache, dass sie als Kind in der durch deutsche Belagerung dem Hungertod preisgegebenen Stadt Leningrad gelebt hat, eine anerkennungswürdige Schädigung dargestellt. So ist auch nach anderen Vorschriften neben dem Gesundheitsschaden der Freiheitsschaden unabhängig von einer hierauf beruhenden Gesundheitsschädigung als ein eine Entschädigung auslösendes Ereignis anerkannt (vergleiche etwa AKG-Richtlinien).
Nicht zuletzt wird auch darauf verwiesen, dass die Entschädigungsleistung, die der Klägerin nach russischem öffentlichem Recht gewährt wird, zu einem Zweck gewährt wird, der ausdrücklich nicht mit dem der Grundsicherungsleistungen identisch ist. Ausgehend von der in dem Rechtsgutachten untersuchten Zielsetzung geht es nämlich bei der Invalidenrente gerade nicht darum, dass damit bestimmte Mehrausgaben, für die das SGB XII ebenfalls entsprechende Leistungen vorsieht, abgegolten werden sollen. Es geht ausschließlich darum, die Betroffenen im Vergleich zu anderen Alters- und Invalidenrentnern materiell besser zu stellen und damit einen Ausgleich für das erlittene Leid auch in psychischer Hinsicht und die nach den statistischen Erhebungen überdurchschnittlich oft aufgetretenen gesundheitlichen Probleme zu schaffen. Es wäre daher nach Überzeugung der Kammer die Leistung auch dann gemäß § 83 Abs. 1 SGB XII anrechnungsfrei, wenn sie nicht als eine einer Grundrente nach BVG vergleichbare Leistung anzusehen wäre.
Nachdem die der Klägerin gewährte Entschädigungsleistung nach den letzten aktenkundigen Beträgen auch nicht über den Grundrentenbeträgen liegen, die bei mindestens 124,00 EUR liegen (§ 31 BVG), ist jedenfalls eine Vergleichbarkeit mit einer Grundrente nach dem BVG auch der Höhe nach gegeben. Es braucht daher im vorliegenden Fall auch nicht geprüft zu werden, ob bei einem höheren Grad der Invalidität nach deutschem Recht ein höherer Betrag anrechnungsfrei wäre oder ob überhaupt die Höchstbeträge nach dem BVG als Grundlage für den Umfang der Anrechnungsfreiheit heranzuziehen sind.
Die Klägerin hat daher im streitgegenständlichen Zeitraum ab 01.11.2008 bis 31.12.2010 einen Anspruch auf Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII ohne Anrechnung der staatlichen Invalidenrente als Einkommen. Nachdem die Beklagte damit die Überprüfung und Aufhebung der bestandskräftigen Bewilligungsbescheide zu Unrecht abgelehnt hat, war der streitgegenständliche Bescheid vom 21.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.09.2011 aufzuheben und die Beklagte antragsgemäß zur Neuberechnung der Leistungen ab 01.11.2008 bis 31.12.2010 zu verpflichten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Erstellt am: 23.01.2012
Zuletzt verändert am: 23.01.2012