I. Der Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Schwaben vom 28. September 2005 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger durch Übernahme der Kosten für die konduktive Förderung nach Petö in den Zeiträumen vom 16. bis 27. Mai und vom 1. bis 18. August 2005 Sozialhilfe zu gewähren.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Sozialhilfe in Form von Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem Sechsten Kapitel des Sozialgesetzbuches – Zwölftes Buch (SGB XII).
Der am 1998 geborene Kläger, der seit dem Schuljahr 2004/2005 eine Montessori-Schule besucht, beantragte am 9. Mai 2005 durch seine gesetzlichen Vertreter bei dem Beklagten die Übernahme der Kosten für eine Petö-Therapie, die er im Zeitraum vom 16. bis 27. Mai sowie vom 1. bis 19. August 2005 im konduktiven Förderzentrum FortSchritt in N. in Anspruch genommen hat. Er leidet an einer durch spastische Tetraparese verursachten allgemeinen Entwicklungsverzögerung. Er hat deswegen schon in früheren Zeiträumen von dem Beklagten Sozialhilfeleistungen bezogen und gehört unstrittig zu den körperlich wesentlich behinderten Menschen im Sinne von § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und § 1 Nr. 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung.
Mit Bescheid vom 10. Mai 2005 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, durch die Rechtsprechung sei geklärt, dass die konduktive Förderung nach Petö zu den Heilmitteln im Sinne von § 32 des Sozialgesetzbuches – Fünftes Buch (SGB V) zähle (BSG vom 03.09.2003 – B 1 KR 34/01 R – SozR 4-2500 § 18 Nr. 1 = RegNr 26463 (BSG-Intern) = Breith 2004, 407) und deshalb dem Grunde nach zum Leistungsumfang der Krankenkassen gehöre (BayVGH vom 25.11.2004 – 12 CE 04.2263 – ZFSH/SGB 2005, 168 = FEVS 56, 282). Damit scheide die Therapie jedoch als Leistung der Eingliederungshilfe, namentlich der medizinischen Rehabilitation im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 26 SGB IX aus. Da es sich um eine Leistung nach dem Vierten Kapitel des SGB IX handle, sei es zugleich ausgeschlossen, sie alternativ als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach dem im Siebten Kapitel des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX) stehenden § 55 anzusehen.
Hiergegen legte der Kläger durch seine gesetzlichen Vertreter am 2. Juni 2005 Widerspruch ein. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, der Kläger habe während des Therapieabschnitts vom 16. bis 27. Mai 2005 erhebliche Entwicklungsfortschritte wie jeweils selbständiges Auf-dem-Stuhl-Sitzen, An- und Ausziehen, Stehen an einer Haltemöglichkeit usw. gemacht. Hierbei handle es sich zweifellos um Fähigkeiten, die zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft unbedingt notwendig seien.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. September 2005 wies die Regierung von Schwaben den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde in Ergänzung der Begründung des Beklagten im Wesentlichen ausgeführt, an der vom Beklagten dargestellten Rechtslage ändere sich auch dadurch nichts, dass Kassenärzte die Petö-Therapie nicht verordnen könnten, nachdem der Gemeinsame Bundesausschuss ihren therapeutischen Nutzen nicht anerkannt und nicht in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 des Sozialgesetzbuches – Fünftes Buch (SGB V) Empfehlungen für die Sicherung der Qualität bei der Leistungserbringung abgegeben habe. Denn die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben entsprächen jeweils den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII).
Am 12. Oktober 2005 erhob der Kläger durch seine gesetzlichen Vertreter bei dem Sozialgericht Augsburg Klage mit dem Antrag,
den Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Schwaben vom 28. September 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verur teilen, ihm durch Übernahme der Kosten für die konduktive Förderung nach Petö in den Zeiträumen vom 16. bis 27. Mai und vom 1. bis 18. August 2005 Sozialhilfe zu gewähren.
Zur Begründung wurde auf das Vorbringen im Widerspruchsverfahren verwiesen.
Der Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen (§ 136 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG -).
Entscheidungsgründe:
Über die Klage konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. August 2006 entschieden werden, obwohl außer einem Vertreter des Beklagten keiner der Beteiligten erschienen ist. Denn in der form- und fristgerecht erfolgten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass sogar nach Lage der Akten entschieden werden kann, wenn in einem Termin keiner der Beteiligten erscheint oder beim Ausbleiben von Beteiligten die erschienenen Beteiligten es beantragen (§ 110 Abs. 1 Satz 2, § 126 SGG).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von Schwaben vom 28. September 2005 ist rechtswidrig. Dem Kläger steht für die konduktive Förderung nach Petö in den Zeiträumen vom 16. bis 27. Mai und vom 1. bis 18. August 2005 Sozialhilfe durch Übernahme der Kosten für diesen Eingliederungsbedarf zu.
Nach § 54 Abs. 1 SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe u.a. die Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 des SGB IX. Nach § 55 Abs. 1 SGB IX werden als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation) bis 6 (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen) nicht erbracht werden. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 Abs. 1 SGB IX sind daher grundsätzlich gegenüber den Leistungen nach den Kapiteln 4 bis 6 nachrangig (Schütze in Hauck/Noftz, SGB IX, K 55, Rdnr. 20). Indem die Vorrangregelung daran anknüpft, dass die vergleichbare Leistung nach den Kapiteln 4 bis 6 "erbracht" wird, werden Ansprüche nach § 55 SGB IX aber nicht schon dann verdrängt, wenn vergleichbare Leistungen von einem anderen Träger beansprucht werden können. Auf den Nachrang kann sich ein nach § 55 SGB IX verpflichteter Rehabilitationsträger vielmehr nur dann berufen, wenn der Anspruchsteller die begehrte Leistung von einem anderen, nach § 55 Abs. 1 Halbsatz 2 SGB IX vorrangig leistungsverpflichteten Träger tatsächlich erhält. Ob der andere Träger die Leistung mit Grund oder rechtsgrundlos verweigert, ist ohne Bedeutung (Schütze, a.a.O., Rdnr. 21). Da im vorliegenden Fall Leistungen zur medizinischen Rehabilitation im Sinne von § 26 SGB IX nach der bereits zitierten Rechtsprechung des BSG und des BayVGH nicht zu erbringen sind, folgt daraus, dass nach § 55 SGB IX ein Anspruch auf eine Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft in Betracht kommt.
Der gegenteiligen Auffassung des BayVGH in der Entscheidung vom 25. November 2004 (a.a.O.), wonach die begehrte Therapie auch nicht als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 BSHG, § 55 SGB IX oder als im Leistungskatalog des § 40 Abs. 1 BSHG nicht benannte, ergänzende Hilfe gewährt werden könne, weil andernfalls die gesetzliche Begrenzung medizinischer Leistungen in § 40 Abs. 1 Satz 2 BSHG (jetzt: § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) umgangen würde, kann nicht gefolgt werden. § 54 Abs. 1 Satz 2 SGB XII bezieht sich nach seinem eindeutigen Wortlaut ausschließlich auf die in § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII genannten Fälle des § 26 SGB IX (Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach Kapitel 4) und des § 33 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach Kapitel 5), lässt aber den Fall des § 55 SGB IX (Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach Kapitel 7) unerwähnt. Daraus folgt, dass dann, wenn eine Leistung nach dem Kapitel 7 in Betracht kommt, die nach dem Kapitel 4 ausscheidet, weil es sich bei ihr um keine Kassenleistung handelt, keine Umgehung der gesetzlichen Begrenzung medizinischer Leistungen stattfindet.
Da der Kläger bereits seit September 2004 eingeschult ist, kann er nicht nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX Leistungen im Sinne von § 55 Abs. 1 SGB IX erhalten. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX kommen als Leistungen jedoch Hilfen zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten in Betracht, die erforderlich und geeignet sind, behinderten Menschen die für sie erreichbare Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Von dieser auf § 15 EingliederungshilfeVO F. 1975 zurückgehenden Katalogleistung sind alle Unterrichtungen und Unterweisungen erfasst, die dem Behinderten im Rahmen des für ihn Möglichen Selbständigkeit in Verrichtungen und Begegnungen des täglichen Lebens erlauben. Die Leistungen sind daher auf eine Milderung von Pflegebedürftigkeit ausgerichtet und beschränken sich nach der das Leben in der Gesellschaft übergreifenden Aufgabenstellung des Lebens in der "Gemeinschaft" nicht auf das für gesellschaftliche Begegnungen Erforderliche, sondern erstrecken sich auch auf die personale Seite der mit § 55 SGB IX verfolgten Ziele im Sinne von § 55 Abs. 1 Halbsatz 1 Fall 2 SGB IX (Schütze, a.a.O., § 55, Rdnr. 25). Diese Voraussetzungen sieht die Kammer im vorliegenden Fall als erfüllt an.
Die Erforderlichkeit ergibt sich aus dem Vorbringen der Eltern des Klägers, dass dessen Teilnahme an zwei oder mehreren mehrwöchigen Intensivkursen, in denen bei ihm die Petö-Methode angewandt worden sei, zu jeweils selbständigem Auf-dem-Stuhl-Sitzen, An- und Ausziehen, Stehen an einer Haltemöglichkeit usw. geführt hätten. Der Kläger wies daher offenbar noch im Sommer 2005 Entwicklungsdefizite gegenüber Gleichaltrigen auf, die der Behebung bedurften.
Auch die Geeignetheit sieht die Kammer als nachgewiesen an. Die Beschlussbegründung über eine Änderung der Richtlinien über die Verordnung von Heilmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Heilmittel-Richtlinien) vom 21. Dezember 2004 (www.g-ba.de/ cms/upload/pdf/abs5/beschluesse/2004-12-21-Petoe-Begruendung. pdf) führt insoweit aus, die Konduktive Förderung nach Petö sei ein multimodaler Interventionsansatz mit Elementen der Pädagogik, Physikalischen Therapie, Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie, Ergotherapie und sozialer Anleitung. Sie diene der Behandlung von Personen mit cerebralen Bewegungsstörungen, insbesondere der infantilen Zerebralparese. Aus den wissenschaftlichen Unterlagen ergäben sich zwar Hinweise auf positive Wirkungen einer Konduktiven Förderung nach Petö bei Kindern mit einer infantilen Zerebralparese. Mangels methodisch sauberer Vergleichsuntersuchungen sei jedoch kein valider Nachweis des therapeutischen Nutzens hinsichtlich medizinisch relevanter Parameter der konduktiven Förderung nach Petö im Vergleich zu anderen bereits etablierten medizinischen Behandlungsmethoden (u.a. Heilmittel aus dem Bereich der physikalischen Therapie, der Ergotherapie und der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie) möglich. Die Intervention Konduktive Förderung nach Petö habe, unabhängig davon, in welcher Form (Art und Umfang) sie erfolgte, in den Studien für die Indikation Infantile Zerebralparese (Tetraparese-, Di- oder Hemiplegie) keine Überlegenheit gegenüber den jeweiligen Vergleichsinterventionen gezeigt.
Nach Auffassung des Gerichts reichen die bescheinigten "Hinweise auf positive Wirkungen einer Konduktiven Förderung nach Petö bei Kindern mit einer infantilen Zerebralparese" aus, um die Geeignetheit im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX zu begründen. Eine Überlegenheit gegenüber den anderen bereits etablierten medizinischen Behandlungsmethoden, wie sie für die Anerkennung als Kassenleistung Voraussetzung zu sein scheint, ist hier nicht erforderlich. Das entspricht auch der früheren – und durch die Entscheidung des BSG vom 3. September 2003 keineswegs überholten – Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Danach ist die Beurteilung der Eignung heilpädagogischer Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§ 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG i.V.m. § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO F. 1975) nicht – wie die Gewährung heilpädagogischer Maßnahmen für Kinder im Vorschulalter (§ 40 Abs. 1 Nr. 2a BSHG i.V.m. § 11 Satz 1 EingliederungshilfeVO F. 1975) – an den Maßstab der allgemeinen ärztlichen oder sonstigen fachlichen Erkenntnis gebunden gewesen (BVerwG vom 30.05.2002 – 5 C 36.01 – NDV-RD 2002, 79 = FEVS 53, 499 = Buchholz 436.01 § 12 EingliederungshilfeVO Nr. 1 = NVwZ-RR 2003, 43 = DVBl 2003, 148). Dieser Maßstab der allgemeinen ärztlichen oder sonstigen fachlichen Erkenntnis gilt nicht mehr. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 SGB IX genügt ebenfalls die Geeignetheit und Erforderlichkeit, die hier gewährleistet ist.
Der Klage war daher mit der nach § 193 Abs. 1 SGG auszusprechenden Kostenfolge, dass es nach dem Verfahrensergebnis geboten ist, dem Beklagten die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Klägers aufzuerlegen, stattzugeben.
Erstellt am: 12.05.2011
Zuletzt verändert am: 12.05.2011