Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 78.140,00 EUR zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 16.01.2018. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Tatbestand:
Die Klägerin, die über eine Großhandelserlaubnis nach § 52a des Arzneimittelgesetzes (AMG) verfügt und keine Produkte direkt an Endverbraucher vertreibt, streitet mit der beklagten Krankenkasse über die Kaufpreishöhe für in den Jahren 2015 bis 2017 gelieferten Sprechstundenbedarf (SSB).
Die 1992 gegründete Klägerin verfügt nicht über einen Katalog oder eine sonstige für Ärzte abrufbare Preisliste. Die Lieferung von SSB rechnet sie seit ihrer Gründung direkt gegenüber der Beklagten ab. Dabei bringt sie die Abgabepreise des Unternehmens (APU) gemäß Lauer-Taxe in Ansatz. Sofern kein solcher Preis in der Lauer-Taxe ausgewiesen ist, werden die Preislisten des Herstellers zugrunde gelegt. Diese Abrechnungspraxis, der die Klägerin auch gegenüber niedergelassenen Ärzten beim Bezug von dem SSB entsprechenden Arznei- und Verbandmitteln zur Verwendung bei Privatpatienten folgt, wurde von der Beklagten bis zum Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums nicht im Sinne von Rechnungskürzungen beanstandet. Jedoch forderte die Beklagte unter anderem die Klägerin 2006 auf, nur auf Grundlage des Apothekeneinkaufspreises (AEP) abzurechnen. Zudem lassen sich einer unter dem 10.01.2014 erstellten, der Klägerin am 17.08.2015 übersandten Information der Beklagten für Vertragsärzte die aus Sicht der Beklagten angemessene Preise für einzelne SSB-Artikel entnehmen. Am Ende des Informationsschreibens heißt es auszugsweise:
"Wir sind überzeugt davon, dass SSB-Prüfverfahren weitgehend ausgeschlossen werden, wenn Sie sich an unseren Informationen orientieren und ihre Verordnungspraxis ggf. entsprechend anpassen."
Aufgrund zulasten der Beklagten erfolgter Verordnungen lieferte die Klägerin in den Jahren 2015 bis 2017 SSB an diverse in Westfalen-Lippe niedergelassene Vertragsärzte. Die Beklagte kürzte 251 der von der Klägerin erteilten Rechnungen, die letzte Rechnung am 18.12.2017. Der Brutto-Gesamtbetrag der Rechnungen betrug 468.842,84 EUR. Diesen Betrag kürzte die Beklagte um insgesamt jedenfalls 78.140,00 EUR, also 16,67 %, weil einzelne Artikel nicht preisgünstig abgerechnet worden seien. Wegen der Einzelheiten wird gemäß §§ 105 Abs. 1 Satz 3, 136 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Bezug genommen auf die als Anlagen zum Schriftsatz der Klägerin vom 16.05.2019 vorgelegten Rechnungen und Verordnungen nebst Zusätzen der Beklagten, denen sich die von den Kürzungen betroffenen Artikel und der jeweilige Umfang der Kürzung entnehmen lassen.
Die Klägerin hat am 04.03.2019 Klage erhoben. Sie meint, dass die Beklagte die Rechnungen zu Unrecht gekürzt habe.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 78.140,00 EUR zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 16.01.2018.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie meint, dass die Klägerin nicht aktivlegitimiert sei, sie selbst jedoch berechtigt und verpflichtet, bei ihr eingereichte Rechnungen auch auf Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Dabei sei zu fordern, dass die Artikel "preisgünstig" sind i. S. d. § 6 Abs. 3 der Vereinbarung zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe und den Verbänden der Kranken- und Ersatzkassen über die ärztliche Verordnung von SSB (SSB-V). Was preisgünstig sei, ergebe sich aus dem von der Beklagten unter dem 10.01.2014 erstellten Information für Vertragsärzte. Zudem sei der in der Lauer-Taxe ausgewiesene APU unrealistisch, weil er für die streitgegenständlichen Artikel dem AEK entspreche.
Das Gericht hat die Beteiligten angehört zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid.
Wegen des weitergehenden Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gegenstand der Entscheidung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht entscheidet gemäß § 105 Abs. 1 SGG durch Gerichtsbescheid, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher gehört worden.
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig, insbesondere als allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG statthaft. Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von 78.140,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 16.01.2018.
Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung von 78.140,00 EUR folgt aus § 433 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), der entsprechend anwendbar ist, weil gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V) die Bestimmungen des BGB für die Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern entsprechend gelten und die Klägerin zwar nicht zu den im SGB V vorgesehenen Leistungserbringern gehört, jedoch diesen Leistungserbringern nach § 1 Nr. 1.6 der Richtlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen nach § 302 Abs. 2 SGB V über Form und Inhalt des Abrechnungsverfahrens mit "Sonstigen Leistungserbringern" sowie mit Hebammen und Entbindungspflegern (AbrRL) gleichgestellt ist. Nach § 433 Abs. 2 BGB ist der Käufer verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen. Zwischen der Klägerin als Verkäuferin und der Beklagten als Käuferin bestehen Kaufverträge über den in den Jahren 2015 bis 2017 gelieferten SSB zu einem Preis von weiteren insgesamt 78.140,00 EUR.
Zu Unrecht wendet die Beklagte ein, dass Vertragspartnerin der Klägerin nicht sie, sondern der jeweilige Vertragsarzt sei. Durch die Einlösung eines Rezepts kommt grundsätzlich ein Vertrag zwischen Krankenkasse und Leistungserbringer zustande (Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 24.02.2011, L 1 KR 32/08, juris, Rn. 16 f.). Nichts anderes folgt aus § 6 Abs. 4 Satz 3 SSB-V. Im Anwendungsbereich des § 6 Abs. 4 Satz 3 SSB-V besteht zwar in der Tat kein Direktanspruch des Leistungserbringers gegen die Krankenkasse auf Zahlung des Kaufpreises für SSB. Vielmehr hat sich der Leistungserbringer an den Vertragsarzt zu halten (Sozialgericht Dortmund, Gerichtsbescheid vom 12.09.2019, S 16 KA 71/19, juris, Rn. 13). Vorliegend ist der Anwendungsbereich der Norm allerdings nicht eröffnet. § 6 Abs. 4 SSB-V bezieht sich insgesamt nur – was sich aus den Worten "aus anderen Quellen" in dessen Satz 1 ergibt – auf den Bezug von SSB von anderen Lieferanten als Herstellern und Großhändlern. Vorliegend geht es um den Bezug von einem Großhändler, weil die Klägerin über eine Großhandelserlaubnis nach § 52a AMG verfügt und keine Produkte direkt an Endverbraucher vertreibt.
Ebenfalls zu Unrecht wendet die Beklagte ein, dass als Kaufpreis geringere als die von der Klägerin abgerechneten Preise geschuldet seien. Da eine ausdrückliche Preisabrede nicht erfolgt ist, ist zur Bestimmung des Vertragsinhalts insoweit auf die bisherige Übung der Vertragsparteien abzustellen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 05.08.1999, B 3 KR 12/98 R, juris, Rn. 11; Arndt, NZS 2009, 367, 370). Die bisherige Übung entspricht dem Abrechnungsverhalten der Beklagten im streitgegenständlichen Zeitraum. Aus § 6 Abs. 3 SSB-V, wonach SSB so preisgünstig wie möglich bezogen werden soll, lässt sich nichts Abweichendes herleiten. Es handelt sich lediglich um ein vom Arzt bei der Verordnung von SSB zu berücksichtigendes Optimierungsgebot.
Der Annahme einer stillschweigenden Preisvereinbarung im Sinne der bisherigen Abrechnungspraxis der Klägerin stehen nicht die Aufforderung der Beklagten aus dem Jahr 2006 und ihr Informationsschreiben vom 10.01.2014 entgegen. Das gilt für die Aufforderung aus 2006 schon deshalb, weil sie zwischen den Beteiligten ersichtlich nicht gelebt worden ist. Auch in der Folgezeit – über immerhin knapp neun Jahre – hat die Beklagte nicht die Abrechnungspraxis der Klägerin beanstandet. Dem Informationsschreiben vom 10.01.2014 lässt sich nicht entnehmen, dass die Beklagte höhere Preise als dort angegeben in Zukunft nicht akzeptieren werde. Vielmehr handelt es sich ersichtlich nur um eine Empfehlung an die Vertragsärzte bei der Auswahl der SSB-Lieferanten, um das Risiko eines SSB-Regresses zu minimieren. Dies folgt aus der Verwendung der Formulierungen "orientieren" und "ggf. entsprechend anpassen".
Der Annahme einer stillschweigenden Preisvereinbarung steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte durch die erstmalige Rechnungskürzung zum Ausdruck gebracht hat, die bisherige Abrechnungspraxis künftig nicht mehr unverändert zu akzeptieren. Dieser Umstand ist nicht zur Vertragsauslegung heranzuziehen. Verträge sind gemäß § 157 BGB auszulegen nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte. Es ist treuwidrig, die Erklärung der Beklagten zur Rechnungskürzung im Rahmen der Vertragsauslegung heranzuziehen, weil die Beklagte sich insoweit eine ihr nicht zustehende Zuständigkeit angemaßt hat. In der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.09.2019, B 6 KA 21/19 R, juris, Rn. 30 f.; Urteil vom 11.09.2019, B 6 KA 15/18 R, juris, Rn. 31) ist geklärt, dass im Anwendungsbereich der Richtgrößenprüfung kein Raum ist für eine – hier von der Beklagten vorgenommene – Einzelfallprüfung bezüglich der Wirtschaftlichkeit von Verordnungen. Zwar wird SSB nicht nach Richtgrößen, sondern nach Durchschnittswerten geprüft. Insoweit gilt jedoch nichts anderes (vgl. BSG, Urteil vom 13.05.2015, B 6 KA 18/14 R, juris, Rn. 45). Die Prüfung der Wirtschaftlichkeit von SSB-Verordnungen nach Durchschnittswerten obliegt ausschließlich den Prüfgremien nach § 106c Abs. 1 Satz 1 SGB V in der heutigen Fassung bzw. § 106 Abs. 4 Satz 1 SGB V in der bis 31.12.2016 geltenden Fassung. Darüber hinaus erschließt sich nicht, weshalb die Vertragspartner in § 5 Abs. 3 Satz 1 SSB-V ein Ausschreibungsverfahren und in § 6 Abs. 5 SSB-V ein Verfahren zur gemeinsamen Festlegung von Orientierungspreisen vorgesehen haben, wenn die Beklagte es – wie sie meint – in der Hand haben sollte, einseitig Preise festzulegen.
Anhaltspunkte dafür, dass die von der Klägerin abgerechneten Preise sittenwidrig sind i. S. d. § 138 BGB, sind trotz der von der Beklagten erhobenen Einwände gegen die Preisbildung – insbesondere des APU im Verhältnis zum AEK – nicht ersichtlich. Dabei berücksichtigt das Gericht maßgeblich, dass der Umfang der von der Beklagten vorgenommenen Kürzungen "nur" 16,67 % beträgt.
Der Zinsanspruch folgt aus § 288 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB. Die Beklagte befindet sich gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB jedenfalls seit dem beantragten Zinsbeginn – 16.01.2018 – in Verzug, weil auch für die letzte der streitgegenständlichen Rechnungen die vierwöchige Zahlungsfrist des § 7 Abs. 2 Satz 1 AbrRL vor diesem Zeitpunkt geendet hat.
Die gemäß § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 161 Abs. 1 Alt. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zu treffende Kostengrundentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und folgt der Entscheidung in der Sache.
Erstellt am: 08.09.2020
Zuletzt verändert am: 08.09.2020