Die Beschwerden des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 18.07.2011 werden zurückgewiesen. Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I. Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens strittig, ob die Antragsgegnerin (Ag) dem Antragsteller (As) vorläufig Krankengeld zu gewähren hat.
Der am 00.00.1969 geborene As war von November 2004 bis April 2011 als Berufskraftfahrer bei der Firma X GmbH & Co.KG in M sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Ab 21.12.2009 bescheinigte ihm der Allgemeinmediziner Dr. N Arbeitsunfähigkeit (AU) wegen gesteigertem Schlafbedürfnis (bis 31.12.2010) und sodann wegen somatoformer Störungen. Nach Beendigung der Lohnfortzahlung leistete die Ag ab 02.02.2010 – mit Unterbrechung während einer Zahlung von Überbrückungsgeld vom 28.09. bis 02.11.2010 wegen Teilnahme an einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme – Krankengeld bis einschließlich 10.04.2011.
Auf Veranlassung der Ag erstellte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. E unter dem 11.01.2011 ein Gutachten. Nach Untersuchung des As habe sie bei ihm eine leichte depressive Symptomatik bei narzistischer Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Aus psychiatrischer Sicht sei der As fähig, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Tätigkeiten vollschichtig zu verrichten, die "ohne hohe Konzentrationanforderungen, Leistungsdruck und in einem wohlwollenden Arbeitsklima angeboten" würden. Hohe Anforderungen an die Umstellungs- und Anpassungsvorgänge sowie hohe Verantwortung, Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten sowie hohe Anforderungen an die soziale Kompetenz sollten ausgeschlossen werden.
Vom 11.04. bis 20.06.2011 nahm der As mit erneutem Bezug von Überbrückungsgeld an einer beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahme teil, die nach Angaben des As aus medizinischen Gründen abgebrochen werden musste.
Am 08.06.2011 bescheinigt Dr. N AU wegen Hypersomnie für die Zeit vom 08.06.2011 bis 15.06.2011. Vom 16.06.2011 bis 21.06.2011 war die Praxis wegen Umbauarbeiten und EDV-Sanierung geschlossen. An der Haustür der Praxis hing (zumindest) am 16.06.2011 ein Zettel, auf dem der Grund der Schließung genannt und Vertretungsärzte aufgelistet waren. Der As wurde sodann am 21.06.2011 bei Dr. N vorstellig, der erneut AU wegen einer mittelgradigen depressiven Episode und gesteigertem Schlafbedürfnis bescheinigte. Die Ag lehnte eine Krankengeldzahlung mit Bescheid vom 24.06.2011 unter Hinweis darauf ab, dass die Mitgliedschaft des As am 21.06.2011 geendet habe.
Der Widerspruch des As, mit dem er geltend machte, er sei aufgrund seiner Erkrankung nicht in der Lage gewesen (am 16.06.2011) zu erkennen, dass er einen anderen Arzt hätte aufsuchen müssen, um sich die AU bestätigen zu lassen, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27.07.2011).
Am 05.07.2011 hat der As beim Sozialgericht (SG) Münster unter Wiederholung seiner Widerspruchsbegründung einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt und im Wege der einstweiligen Anordnung die Weiterzahlung des Krankengeldes begehrt. In dem vom As zur Glaubhaftmachung vorgelegten vorgelegten Schreiben führt Dr. N unter dem 04.07.2011 aus, es sei durchaus denkbar, dass dem As die Konsequenzen seines Aufschubs krankheitsbedingt nicht einsehbar gewesen seien. Bei deutlich vermindertem Antrieb wegen seiner Depressionen sei die Vorstellung bei einem vertretenden Facharzt eine größere Hürde. Hausärztlicherseits sei die AU für den nicht abgedeckten Zeitraum "sicherlich vorauszusetzen". Unter Vorlage einer von Dr. N unter dem 01.07.2011 unter Angaben der bekannten Diagnosen ausgestellten Verordnung von Krankenhausbehandlung trägt er vor, dass "derzeit" Suizidgefahr bestehe. Unter Hinweis auf die von ihm vorgelegten PKH-Unterlagen hat der As weiter geltend gemacht, er könne das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens nicht abwarten, da er, seine Ehefrau und die drei Kinder den Lebensunterhalt nicht bestreiten könnten.
Der Antragsteller hat schriftsätzlich beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm ab 05.07.2011 Krankengeld gemäß den Bestimmungen des SGB V zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat schriftsätzlich beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Unter Verweis auf Gesprächsvermerke vom 03.11.2010 und 16.03.2011 vertritt die Ag die Ansicht, der As sei durchaus in der Lage gewesen, die Zusammenhänge des gegliederten Sozialversicherungssystems zu erkennen. Daher habe er auch erkennen können, dass er bei Schließung der Praxis von Dr. N eine andere Praxis hätte aufsuchen müssen, damit die AU durchgängig bescheinigt worden wäre.
Das SG hat den Antrag des As mit Beschluss vom 18.07.2011 abgelehnt. Dieser habe nicht glaubhaft gemacht, dass sich die von der Fachärztin für Psychiatrie Dr. van E und der Kurklinik festgestellten gesundheitlichen Probleme so aktuell dramatisch kumuliert bzw. angehäuft hätten, dass er am 16.07.2011 nicht in der Lage gewesen wäre, einen Vertretungsarzt aufzusuchen. Er habe im Übrigen auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da er mit Erfolg einen Antrag auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) stellen könne. Mangels Erfolgsaussicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren hat das SG mit gleichem Beschluss auch die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) abgelehnt.
Mit seinen am 20.07.2011 eingegangenen Beschwerden wendet sich der As gegen diese Entscheidungen. Er sei am 16.06.2011 in der Praxis gewesen, aber psychisch nicht in der Lage gewesen, einen Vertretungsarzt aufzusuchen. Seine Depression zeichne sich durch seine Antriebslosigkeit aus. Er habe an diesem Morgen bereits seine letzten Reserven mobilisiert und sich auf den Weg zu seinem Hausarzt gemacht. Es habe ihm an der Einsicht gefehlt, dass es nicht ausreichend sei, dass Dr. N ihm die AU am 21.06.2011 nachträglich bestätigte. Er habe sich zu diesem Zeitpunkt mit dem Gedanken getragen, sich selbst zu töten. Entgegen der Auffassung des SG bestehe auch ein Anordnungsgrund. Ein solcher könne wegen des Vorrangs der begehrten Sozialversicherungsleistung nicht in Hinblick auf einen Anspruch nach dem SGB II verneint werden. Anderenfalls würde der durch § 86b Sozialgerichtsgesetz (SGG) bezweckte effektive Rechtsschutz ausgehöhlt und die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz verletzt.
Die Ag verweist auf die ihrer Auffassung nach zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses. Zudem wäre ihrer Ansicht nach gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bei erfolgter ärztlicher Feststellung der AU am 16.06.2011 der Anspruch am darauffolgenden Tag entstanden.
II. Die vom As (1) unter dem Az. L 11 KR 416/11 B ER gegen die Ablehnung der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und (2) unter dem Az. L 11 KR 407/11 B gegen die Ablehnung von PKH in diesem Verfahren eingelegten Beschwerden sind nach § 172 SGG zulässig, aber nicht begründet.
(1) Das SG hat zu Recht, den Erlass einer auf Zahlung von Krankengeld gerichteten einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 86b Abs. 2 SGG (Regelungsanordnung). Danach kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts eines Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG). Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs (materielles Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz begehrt wird) und eines Anordnungsgrundes (Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, wenn ein Abwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist). Dabei stehen sich Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert gegenüber, vielmehr besteht zwischen ihnen eine funktionelle Wechselbeziehung dergestalt, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Eingriffs (Anordnungsgrund) zu verringern sind oder umgekehrt; dabei dürfen keine zu hohen Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Eilverfahren gestellt werden, die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschlüsse vom 29.07.2003 – 2 BvR 311/03 – und vom 19.03.2004 – 1 BvR 131/04 – ). Ist dagegen dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung unter umfassender Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange aller Beteiligter zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -; Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 86b Rn. 27 f m.w.N.).
Die danach zum Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung notwendigen Voraussetzungen liegen nicht vor.
Der Anspruch auf Krankengeld entsteht nach dem insoweit allein in Betracht kommenden § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V von dem Tag an, der auf den Tag der ärztlichen Feststellung der AU folgt. Danach kommt es für die Entstehung des Anspruchs nicht auf den Zeitpunkt des "wirklichen" oder vom Arzt attestierten Beginns der AU an, weswegen es auch unerheblich ist, wenn der Arzt an diesem Tag einen früheren Beginn der AU bescheinigt. Die Erlangung der ärztlichen Feststellung gehört zu den Obliegenheiten des Versicherten. Die Folgen einer unterbliebenen oder wie hier nicht rechtzeitig getroffenen ärztlichen Feststellung sind deshalb von dem Versicherten selbst zu tragen. Der As hat nicht glaubhaft gemacht, dass er an der rechtzeitigen Feststellung oder Meldung der Arbeitsunfähigkeit durch Umstände verhindert war, die nicht seinem Verantwortungsbereich zuzurechnen sind. Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche verfügbare Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist, d.h. mehr für als gegen sie spricht, wobei gewisse noch verbleibende Zweifel unschädlich sind (vgl. Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B -). Soweit der As vorgetragen hat, er sei aufgrund seiner psychischen Beschwerden an der rechtzeitigen Feststellung gehindert gewesen, ist dies nicht glaubhaft gemacht. Es liegen – auch unter Zugrundelegung nicht zu hoher Anforderungen an die Glaubhaftmachung – nicht ansatzweise objektivierbare Anhaltspunkte dafür vor, dass der As am 16.06.2011 psychisch nicht in der Lage gewesen wäre, einen Vertretungsarzt aufzusuchen. Rückschlüsse aus einer am 01.07.2011 verordneten Krankenhausbehandlung können nicht zu Gunsten des As gezogen werden, zumal der behandelnde Arzt Dr. N bei der Untersuchung des As am 21.06.2011 noch keine Veranlassung zu einer solchen Maßnahme sah, was darauf hindeutet, dass eine dramatische Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu einem früheren Zeitpunkt noch nicht zu verzeichnen war. Auch die übrigen ärztlichen Unterlagen lassen nicht darauf schließen, dass der As psychisch bedingt aufgrund von Depressionen zwar am 16.06.2011 seinen Hausarzt, aber keinen Vertretungsarzt aufsuchen konnte. Dr. N hat in seinem – vom As zur Glaubhaftmachung vorgelegten – Schreiben vom 04.07.2011 lediglich dargestellt, dass es krankheitsbedingt für den As eine größere Hürde sei, einen Vertretungsarzt aufzusuchen, nicht aber, dass es ihm krankheitsbedingt auch unmöglich gewesen sei, diese Hürde zu überwinden. Soweit er es für "durchaus denkbar" gehalten hat, dass dem As die Konsequenzen seines Aufschubs krankheitsbedingt nicht einsehbar waren, ist dies nicht zur Glaubhaftmachung geeignet. Auch unter Berücksichtigung dieser Ausführungen ist lediglich eine bloße Möglichkeit, aber keinesfalls eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des psychischen Unvermögens des As im oben dargestellten Sinn dargelegt.
Es kann vor diesem Hintergrund dahin gestellt bleiben, ob es sich, wie die Ag in ihrer Beschwerdeerwiderung andeutet, bei der AU-Feststellung nach dem Bezug von Überbrückungsgeld um eine Erstbescheinigung i.S.d. § 46 Satz 1 Nr. 2 SGB V gehandelt hätte, so dass wegen des Karenztages und der dadurch bedingten Beendigung der Mitgliedschaft auch in diesem Fall kein Anspruch auf Krankengeldzahlung bestanden hätte.
Da unabhängig davon, wie ausgeführt, kein Anordnungsgrund vorliegt, kann auch die vom As aufgeworfene Rechtsfrage, ob zur Verneinung des Anordnungsanspruchs auf Leistungen nach dem SGB II verwiesen werden kann, hier offen bleiben.
(2) Das Sozialgericht hat – den obigen Ausführungen folgend – mit dem angefochtenen Beschluss auch zu Recht den auf Bewilligung von PKH gerichteten Antrag des As mangels Erfolgsaussicht abgelehnt.
III. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der Beschwerde gegen die Ablehnung einstweiligen Rechtsschutzes auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und ergibt sich aus dem Unterliegen der As. Die außergerichtlichen Kosten des PKH-Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (vgl. § 202 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 Zivilprozessordnung).
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 26.10.2011
Zuletzt verändert am: 26.10.2011