Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08. November 2005 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte den Verletztenrentenbetrag des Klägers gemäß § 57 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) um 10 v.H. zu erhöhen hat.
Der 1953 geborene Kläger erlitt am 30.09.1996 infolge seiner Tätigkeit als selbständiger Handelsvertreter mit Außendiensttätigkeit ohne Mitarbeiter einen Arbeitsunfall, als er sich bei dem Versuch, sein fallendes Motorrad abzufangen, eine Verletzung der rechten Schulter zuzog. Nach konservativer Behandlung der Spongiosamikrofraktur rechts trat am 12.11.1996 wieder Arbeitsfähigkeit ein. Die Beklagte gewährte dem Kläger zunächst vom 30.09.1996 bis zum 11.11.1996 Verletztengeld.
Bei Beschwerdeprogredienz begab sich der Kläger Ende April 1997 erneut in ärztliche, Arbeitsunfähigkeit bedingende Behandlung durchgehend bis zum 30.04.1999. In der Folgezeit wurde er mehrfach an der rechten Schulter operiert und seit dem Frühjahr 1999 zudem nervenärztlich wegen ständiger Schulterschmerzen und Konzentrationsschwäche behandelt.
Prof. Dr. P, Leiter der Orthopädischen Klinik des Evangelischen Fachkrankenhauses S, hielt den Kläger in einem Gutachten vom 07.09.1999 nebst Stellungnahme vom 25.10.1999 für arbeitsfähig als selbständiger Finanzberater unter der Voraussetzung, dass er die beratende Tätigkeit bei wirksamer Schmerzmedikation an einem festen Ort verrichten könne. Fahrtüchtigkeit zwecks Berufsausübung bestehe nicht mehr. Allerdings sei er vollschichtig für geistige Arbeiten einsetzbar, die seinem Ausbildungsgrad entsprächen. Die Beklagte gewährte daraufhin erneut Verletztengeld über den 30.04.1999 hinaus (Bescheid vom 07.12.1999). Zum 10.01.2000 stellte sie die Verletztengeldzahlung basierend auf einem Bericht des Berufsförderungswerkes Michaelshoven vom 04.01.2000 ein, da im Hinblick auf die erheblichen Funktionsbeeinträchtigungen des Schultergelenks, das chronifizierte Schmerzsyndrom der Schulter, die erheblichen Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit, Belastbarkeit und der Fahrtüchtigkeit mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit im Beruf als selbständiger Vermögensberater nicht mehr zu rechnen und berufsfördernde Maßnahmen nicht zu erbringen seien (Bescheid vom 17.02.2000). Laut dieses Berichtes sei der Kläger voll einsatzfähig für sehr leichte Tätigkeiten, beschränkt einsatzfähig (4 – 5 Stunden täglich) als Außendienstmitarbeiter in Vermögensberatung bei problematischer Fahrtätigkeit und ebenfalls beschränkt einsatzfähig (5 Stunden täglich) für allgemeine Bürotätigkeiten jeweils unter ergonomischer Arbeitsplatzgestaltung. Im Widerspruchsverfahren trug der Kläger vor, nur unfallchirurgisch sei ein Endzustand erreicht; in schmerztherapeutischer wie psychiatrischer Hinsicht sei er sehr wohl therapierbar und rehabilitationsfähig.
Der Chirurg Dr. B, I, beschrieb in seinem auf Veranlassung des Klägers erstatteten Gutachten vom 16.01.2000 als Unfallfolgen eine Funktionseinschränkung des rechten Schultergelenks in allen Bewegungsrichtungen, eine Verschmächtigung der Schultergürtel-, Schulter- und Oberarmmuskulatur, eine Narbenbildung, röntgenografische Veränderungen, eine Herabsetzung der Trage- und Belastungsfähigkeit, Missempfindungen im Bereich des Ellennervenausbreitungsgebietes und ein chronisches Kopfschmerzsyndrom mit Funktionsbeschwerden der Halswirbelsäule nach Intervention durch Spinalanästhesie. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte er mit 30 v. H. ein.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H / Dr. med. Dipl.-Psych. L, Schmerzklinik, Klinik für neurologisch-verhaltensmedizinische Schmerztherapie, L, führten in ihrem Gutachten vom 13.07.2000 aus: Auf neurologisch-psychiatrischem und schmerztherapeutischem Gebiet lägen beim Kläger als Folgen des Unfalls vom 30.09.1996 ein chronisches nozizeptives Schmerzsyndrom im Bereich der rechten Schulter mit Funktionsbeeinträchtigungen des rechten Schultergelenks in allen Bewegungsrichtungen und Verschmächtigungen im Bereich der Schultergürtelmuskulatur, ein Sulcus-Ulnaris Syndrom rechts, ein episodischer Kopfschmerz vom Spannungstyp und eine leichtgradige depressive Episode vor. Auf schmerztherapeutischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sei die MdE seit dem 10.01.2000 befristet auf zwei Jahre mit 50 v.H. zu bemessen. Eine erschöpfende Behandlung des chronischen Schmerzsyndroms sei bislang nicht erfolgt. Daraufhin nahm die Beklagte die Verletztengeldgewährung über den 10.01.2000 hinaus bis zur Beendigung der stationären Behandlung in der Schmerzklinik L wieder auf (Abhilfebescheid vom 23.08.2000), die vom 11.10. bis 01.11.2000 erfolgte. In einem weiteren Gutachten vom 08.11.2000 führte Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H aus, dem Kläger sei am 01.11.2000 (Entlassung aus der stationären schmerztherapeutischen Behandlung) die wettbewerbsfähige Aufnahme seiner zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit nicht möglich. Die depressive Episode sei zwischenzeitlich mittelgradig ausgeprägt. Erst nach zwei Jahren weiterer ambulanter Therapie könnten die beruflichen Einsatzmöglichkeiten erneut geprüft werden. Der Kläger erhielt schließlich bis zum 01.11.2000 Verletztengeld (Bescheid vom 27.12.2000). In einer weiteren Stellungnahme vom 31.01.2001 nahm Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H ab 01.11.2000 eine Gesamt-MdE in Höhe von 60 v.H. an.
Mit Bescheid vom 07.06.2001 bewilligte die Beklagte dem Kläger wegen der Folgen des Versicherungsfalls vom 30.09.1996 Rente auf unbestimmte Zeit ab 02.11.2000 nach einer MdE von 60 v. H … Als Unfallfolgen wurden anerkannt: Funktionseinschränkung des rechten Schultergelenks in allen Bewegungsrichtungen, Verschmächtigung der Muskulatur des Schultergürtels und des Oberarms, Missempfindungen im Bereich des Ellennervenausbreitungsgebiets (Sulcus ulnaris Syndrom), Schulterschiefstand, Entkalkung des Gelenkkopfes des rechten Oberarms, chronisches Schmerzsyndrom im Bereich der rechten Schulter, chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp sowie mittelschwere depressive Episoden nach Weichteilverletzung der rechten Schulter durch Abfangversuch eines umfallenden Motorrades und anschließendem Anpralltrauma durch dieses Motorrad.
Mit Schreiben vom 13.06.2001 machte der Kläger, der keine Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält, geltend, dass die Voraussetzungen des § 57 SGB VII gegeben seien. Er gehe infolge des Versicherungsfalls keiner Erwerbstätigkeit mehr nach und könne ihr nach der Beurteilung von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H bis zum Abschluss der zunächst auf zwei Jahre angelegten Verhaltenstherapie auch nicht wettbewerbsfähig nachgehen. Die Beklagte holte daraufhin eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H ein. Dieser führte am 10.10.2001 aus: Aus neurologisch-schmerztherapeutischer Sicht sei der Kläger noch in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Aufgrund seines chronisch-nozizeptiven Schmerzsyndroms im Bereich der rechten Schulter bestünden Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit insbesondere im Bereich der oberen Extremität hinsichtlich schwerer und mittelschwerer Arbeiten, Arbeiten in Zwangs- oder überwiegend einseitiger Körperhaltung sowie Arbeiten auf Gerüsten oder Leitern und an laufenden Maschinen. Aufsichtsführende oder beratende Arbeiten, die ohne die genannten physischen Belastungsmerkmale einhergingen, seien vom Kläger noch ausführbar. Hinsichtlich des zeitlichen Rahmens seien Arbeiten mit einer Arbeitszeit von vier Stunden täglich bei einer Fünf-Tage-Woche zumutbar.
Mit Bescheid vom 10.12.2001 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Erhöhung der Rente gemäß § 57 SGB VII ab, da der Kläger nach der Stellungnahme von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H noch in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, die dem angegriffenen Bescheid zugrunde gelegte Interpretation von § 57 SGB VII liefe darauf hinaus, dass der Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf Versicherte beschränkt wäre, die unfallbedingt zu 100 v. H. in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt seien. Die Schwelle von 50 v. H. liefe leer, da bei einer MdE zwischen 50 und 100 v. H. der Versicherte per definitionem in der Lage sein müsste, irgendeiner Erwerbstätigkeit nachzugehen. Diese Interpretation sei jedoch weder mit dem Wortlaut noch mit dem Normzweck vereinbar. § 57 SGB VII solle einen Teilausgleich für Entgelteinbußen Schwerverletzter schaffen, die – wie er – keinen Ersatz aus eigener Rentenversicherung erhielten. Seinem Wortlaut nach erfordere § 57 SGB VII lediglich, dass der Versicherte infolge des Versicherungsfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehe, was bei ihm der Fall sei. Selbst wenn man den Begriff der Erwerbsunfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung zugrunde lege, bestehe – auch in Anbetracht der von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H aufgestellten zeitlichen Grenzen einer Erwerbstätigkeit – nach der sog. konkreten Betrachtungsweise wegen der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes ein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente.
Mit Widerspruchsbescheid vom 24.06.2002 wies die Beklagte den Rechtsbehelf des Klägers zurück. Sie blieb bei ihrem Standpunkt, dass die Zulage aus § 57 SGB VII nur gewährt werden könne, wenn der Verletzte auf Dauer überhaupt keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen könne.
Zur Begründung der hiergegen am 23.07.2002 vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat Kläger sein bisheriges Vorbringen wiederholt und ergänzend vorgetragen: Die Beurteilung von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H vom 10.10.2001 sei ausweislich der gewählten Formulierung ausschließlich "aus neurologisch-schmerztherapeutischer Sicht" erfolgt. Damit seien die von dem chronisch-nozizeptiven Schmerzsyndrom ausgehenden psychischen Belastungen unberücksichtigt geblieben. Gerade aber die psychische Situation habe sich infolge der insgesamt eher frustran verlaufenden Therapie sowie des fortgesetzten Schmerzmittelkonsums in den vergangenen Monaten zunehmend verschlechtert. Damit sei er, der Kläger, sicherlich nur noch zu einer unter halbschichtigen Erwerbstätigkeit in der Lage, womit entsprechend der im Rentenversicherungsrecht und infolge des Verbalverweises auch für § 57 SGB Vll gebotenen konkreten Betrachtungsweise davon ausgegangen werden müsse, dass ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen und versicherungsrechtlich sogar eine komplette Erwerbsunfähigkeit gegeben sei.
Die Beklagte hat an ihrer Auffassung festgehalten, eine abhängige Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit müsse auf Dauer und vollständig unmöglich sein.
Mit Urteil vom 08.11.2005 hat das SG der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, den Rentenbetrag des Klägers um 10 v. H. zu erhöhen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Der Begriff "Erwerbstätigkeit" in § 57 SGB VII sei inhaltlich mit dem Begriff "erwerbstätig" im Sinne des § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) identisch. Dies stehe auch mit dem Sinn und Zweck des § 57 SGB VII in Einklang, wonach derjenige Versicherte, der wegen der Unfallfolgen auf dem Arbeitsmarkt chancenlos sei und wegen fehlender Anwartschaften keine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehe, zu Kompensationszwecken einen Ausgleich in Form der Erhöhung der MdE erhalte. Da es nach wie vor Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl für Versicherte, die nur noch in Teilzeit arbeiten könnten, nicht gebe, erhielten auch Versicherte, die mehr als drei Stunden, aber nicht mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein könnten, Rente wegen voller Erwerbsminderung. Wer voll erwerbsgemindert im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung sei, könne auch keiner Erwerbstätigkeit im Sinne des § 57 SGB VII nachgehen. Dies treffe auf den Kläger zu, dem wegen der unfallbedingten Leistungseinschränkungen nur noch eine tägliche Arbeitszeit von vier Stunden zumutbar sei.
Nach Zustellung am 05.12.2005 hat die Beklagte am 23.12.2005 Berufung gegen dieses Urteil eingelegt. Sie ist der Auffassung, das Urteil stehe im Widerspruch zu ihrem Rechtsverständnis und der ihr zugänglichen Kommentarliteratur.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Düsseldorf vom 08.11.2005 zu ändern und die Klage gegen den Bescheid vom 20.12.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2002 abzuweisen.
Der Kläger, der das angefochtene Urteil für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Der Senat hat im Verhandlungstermin vom 04.10.2006 darauf hingewiesen, dass – selbst wenn man der Rechtsauffassung des SG folge – nach den medizinischen Gutachten und Stellungnahmen von Dr. B und Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H noch nicht feststehe, dass der Kläger erwerbsunfähig im Sinne des § 43 SGB VI sei und Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes tatsächlich gar nicht oder nur halbschichtig ausüben könne und diese Einbuße auf Dauer, d. h. für nicht absehbare Zeit bestehe. Zudem sei auch zu berücksichtigen, dass sich – dem eigenen Vortrag des Klägers zufolge – die Unfallfolgen auf psychiatrischem Gebiet verschlimmert hätten.
Sodann hat der Senat von Amts wegen nach Aktenlage – da dem Kläger nach einem Attest seines behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. L1, W, vom 13.10.2006 eine Untersuchung gesundheitlich nicht zumutbar sei – ein Gutachten von Dr. L2, Arzt für Neurologie und Psychiatrie, D, vom 05.03.2007 über das körperliche und geistige Leistungsvermögen des Klägers in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht seit Juni 2001 eingeholt. Der Sachverständige (SV) hat insbesondere das Fehlen einer psychiatrischen Befunderhebung in den Gutachten von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H bemängelt. Aufgrund der Aktenlage ist er zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger nur eine Anpassungsstörung mit depressiver Färbung und anamnestischen Ängsten (F 23.11 ICD-10) im Rahmen eines langwierigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens, im geringeren Maße im Rahmen der langwierigen Behandlungsmaßnahmen, eine somatoforme Schmerzstörung (F 45.4 ICD-10) und die Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen vorliege (F 68.0 ICD-10). Der Kläger könne noch 6 Stunden und mehr täglich regelmäßig an fünf Tagen in der Woche jedenfalls körperlich leichte Tätigkeiten wechselweise im Stehen, Gehen und Sitzen unter Vermeidung bestimmter Zwangshaltungen verrichten. Der Kläger sei auch in der Lage, Tätigkeiten mit durchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit zu verrichten. In der Benutzung eines Kfz sei er nicht eingeschränkt.
Ferner hat der Senat einen Befundbericht von Dr. L1 vom 11.09.2007 eingeholt. Der Kläger leidet laut Dr. L1 an einem chronischen Schmerzsyndrom nach mehrfacher Operation und Trauma der rechten Schulter sowie an einer mittel- bis hochgradigen depressiven Episode mit ständig drohender Dekompensation. Die Depression werde in einem Teufelskreis durch die Schmerzen ständig unterhalten und verstärkt. Sämtliche Therapien hätten zu keiner Besserung geführt. Der Kläger könne nur noch unterhalbschichtig nach den Maßstäben des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.
Auf Antrag des Klägers hat der Senat sodann gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein neurologisches Aktengutachten von Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H vom 01.02.2008 eingeholt. Der SV hat folgende Gesundheitsstörungen ausgemacht: chronisches nozizeptives Schmerzsyndrom im Bereich der rechten Schulter (M 75.8 ICD-10), depressive mittelschwere Episode (F 32.1 ICD-10), schmerzbedingte Persönlichkeitsstörung mit biopsychologischen Konsequenzen (F 62.8 ICD-10), sulcus-ulnaris-Syndrom mit Parästhesien im Bereich des 5. Fingers der rechten oberen Extremität (G 56.2 ICD-10), myofasziales Schmerzsyndrom der Schulter- und Nackenmuskulatur als Aggravationsfaktor eines chronischen Kopfschmerzes vom Spannungstyp (M 62.8, G 44.22 ICD-10). Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger aus neurologisch-schmerztherapeutischer Sicht noch in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Sachlich sei seine körperliche Leistungsfähigkeit durch Vermeidung schwerer und mittelschwerer Arbeiten in bestimmten Zwangshaltungen eingeschränkt. Aufsichtsführende oder beratende Arbeiten ohne Zeitdruck seien noch ausführbar beschränkt durch psychisch verminderte Belastbarkeit und Durchhaltevermögen infolge der depressiven Symptomatik mit chronifiziertem Schmerzsyndrom. In zeitlicher Hinsicht könne der Kläger noch vier Stunden arbeitstäglich bei einer 5-Tage-Woche regelmäßig erwerbstätig sei. Ein Kfz solle er nur maximal 30 Minuten am Stück, insgesamt täglich 2 Stunden selbst fahren.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet.
Zu Unrecht hat das SG der Klage stattgegeben. Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 20.12.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2002 nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beschwert, denn dieser Bescheid ist nicht rechtswidrig. Zu Recht hat die Beklagte es abgelehnt, dem Kläger eine Erhöhung seiner Verletztenrente um 10 v. H. zu gewähren.
Gemäß § 57 SGB VII erhöht sich bei Versicherten mit Anspruch auf eine Rente nach einer MdE von 50 v. H. oder mehr (Schwerverletzte), die infolge des Versicherungsfalls einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen können und die keinen Anspruch auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung haben, um 10 v. H …
Dass der Kläger aufgrund des Bescheides der Beklagten vom 07.06.2001 wegen der Folgen des Versicherungsfalls vom 30.09.1996 Anspruch auf Verletztenrente ab 02.11.2000 nach einer MdE von 60 v. H. hat, ist ebenso unstreitig wie die Tatsache, dass ihm kein Anspruch auf eine Rentenleistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung zusteht.
Weiter erfordert der "Erhöhungsanspruch" aus § 57 SGB VII, dass der Versicherte einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen kann und zwar infolge des Versicherungsfall nicht mehr nachgehen kann. Zwischen dem Versicherungsfall und der Unfähigkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, muss ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang bestehen (s. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, § 57 Rdnr. 4). Diese – im vorliegenden Fall entscheidende – Voraussetzung des § 57 SGB VII ist – anknüpfend an die Rechtsprechung des BSG zu § 582 RVO, der Vorgängervorschrift des § 57 SGB VII, – erst dann zu bejahen, wenn der Versicherte – infolge des Arbeitsunfalls – auf Dauer überhaupt keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen kann (vgl. BSGE 36, 96). Gemeint ist damit eine dauerhafte Unfähigkeit, durch eine berufliche Tätigkeit Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, d. h. der Versicherte muss unfallbedingt endgültig und vollständig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sein (Ricke in: Kasseler Kommentar zum SGB VII, § 57 Rdnr. 4; Burchardt in: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, § 57 Rdnr. 13, siehe aber auch Rdnr. 18; Sacher in: Lauterbach, Kommentar zum SGB VII, Bd. 3, § 57 Rdnr. 3; Bereiter-Hahn/Mehrtens a.a.O., § 57 Rdnr. 5; Kranig, in: Hauck, Kommentar zur Gesetzlichen Unfallversicherung, § 57 Rdnr. 7 mit der Erläuterung, dass selbst die Möglichkeit einer nur geringfügigen Beschäftigung im Sinne von § 8 SGB IV die Erhöhung der Verletztenrente nach § 57 SGB VII ausschließe).
Dieses Begriffsverständnis ist vom Wortlaut ebenso wie vom Wortsinn des "einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen Könnens" gedeckt. Entgegen der Auffassung des Klägers stehen diesem weder systematische noch teleologische Bedenken entgegen. Insbesondere ist es keine zwingende Konsequenz dieser Rechtsauffassung, dass nur Schwerverletzte mit einer MdE von 100 v. H. in den Genuss der Rentenerhöhung nach § 57 SGB VII kommen. Auch eine Unfallfolge, die wie der Verlust beider Hände eine MdE von 100 v. H. nach sich zieht, muss nicht zwingend zur Unfähigkeit, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, führen. So wird der freiberufliche Sänger ebenso noch einer singenden Erwerbstätigkeit nachgehen können wie der angestellte Rechtsanwalt mit den Hilfsmitteln des Diktierens unter Fußpedaleinsatz nebst PC bei Spracherkennung. Demgegenüber sind psychische Erkrankungen – auch unabhängig von der Lage des Arbeitsmarktes – denkbar, die eine MdE von 50 bis 70 v. H. bedingen und aufgrund der Schwere der Störungen mit erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten eine Erwerbstätigkeit im Sinne der Eingliederung in einen Arbeitsprozess zum Zwecke der Erzielung eines Entgeltes bzw. Einkommens unmöglich machen. In diesem Kontext steht auch die Rechtsprechung des BSG zu § 561 RVO in der Fassung vom 14.07.1925, wonach Verletzte, die schon zur Zeit des Unfalls dauernd völlig erwerbsunfähig waren, nur Anspruch auf Krankenbehandlung, nicht aber auf Verletztenrente hatten (BSGE 17, 160; BSG SozR Nr. 15 zu § 581 RVO). Völlige Erwerbsunfähigkeit ist danach erst dann anzunehmen, wenn die Fähigkeit fehlt, trotz Nutzung aller nach den Kenntnissen und Fähigkeiten des Versicherten gegebenen Arbeitsmöglichkeiten im gesamten Wirtschaftsleben keinen nennenswerten Verdienst mehr zu erzielen. So hat das BSG bei einer bereits vor dem Arbeitsunfall auf beiden Augen blinden Klägerin – die beidseitige Blindheit wird mit einer MdE von 100 v. H. bewertet – keine völlige Erwerbsunfähigkeit angenommen. Diese Vorschrift ist zwischenzeitlich aufgehoben worden, da ihr Regelungsgehalt bereits Bestandteil der unfallversicherungsrechtlichen Kausalitätslehre ist und damit bereits in § 581 RVO bzw. § 56 SGB VII mitenthalten ist (siehe BSG SozR Nr. 17 zu § 581 RVO).
Entgegen der Auffassung des Klägers ist § 57 SGB VII nicht dahin auszulegen, dass allein auf die zuletzt vor dem Versicherungsfall ausgeübte konkrete Erwerbstätigkeit abgestellt wird. Ein solches Begriffsverständnis wäre weder vom Wortlaut, der von "einer Erwerbstätigkeit" spricht, noch vom Wortsinn gedeckt, wäre es doch gleichbedeutend mit demjenigen der Arbeitsunfähigkeit nach § 45 Abs. 1 SGB VII. Insofern ist es vorliegend unerheblich, ob der Kläger seine Tätigkeit als selbständiger Handelsvertreter mit Außendienstanteilen nicht mehr ausüben kann.
Ebenso wenig ist – im Unterschied zur Rechtsauffassung des SG, für die es in Teilen der Literatur Anknüpfungspunkte gibt (vgl. Lauterbach, Kommentar zur Gesetzlichen Unfallversicherung, Bd. 2, Stand: 01.01.1996, § 573 RVO Rdnrn. 19 f; Burchardt, a.a.O., Rdnr. 18) – die "Unfähigkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen", nicht gleichbedeutend mit dem Begriff der "vollen Erwerbsminderung" im Sinne des § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI und dieser – von der Leistungsgewährung – gleichgestellter Fälle, in denen trotz eines Restleistungsvermögens von mehr als drei aber weniger als sechs Stunden arbeitstäglich allein wegen der Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes eine volle Erwerbsminderung angenommen wird. § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI bestimmt, dass voll erwerbsgemindert Versicherte sind, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Aus dieser Definition heraus wird bereits deutlich, dass ein Versicherter sehr wohl noch erwerbstätig (von weniger als 3 Stunden arbeitstäglich) sein kann und trotzdem im Sinne des Rentenversicherungsrechts als voll erwerbsgemindert angesehen wird.
Selbst wenn man insofern – zugunsten des schwerverletzten Versicherten – bereits dann die maßgebliche Voraussetzung des § 57 SGB VII als gegeben annähme, wenn eine volle Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI infolge des Arbeitsunfalls eingetreten wäre, so erschließt es sich jedenfalls aus der unfallversicherungsrechtlichen Systematik heraus nicht, bei der Beurteilung, ob der Verletzte noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, darüber hinaus noch die konkrete (Teilzeit-)Arbeitsmarktlage zu berücksichtigen. Hinzu kommt, dass vorliegend nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme keiner der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gehörten Gutachter und Sachverständigen, auch nicht der den Kläger mehrfach stationär behandelnde und als Vertrauensarzt nach § 109 SGG benannte Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. H, das Restleistungsvermögen des Klägers mit weniger als drei Stunden arbeitstäglich bewertet hat.
Eine Würdigung der medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren dahingehend, ob der Kläger nach Maßgabe der Kriterien des Rentenversicherungsrechts noch mehr als sechs Stunden oder mehr als drei, aber weniger als sechs Stunden arbeitstäglich unter Berücksichtigung seiner Leistungseinschränkungen einer Erwerbstätigkeit nachgehen kann, war daher ebenso entbehrlich wie eine Prüfung, welche der die Erwerbsfähigkeit in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht ab November 2000 einschränkenden Leistungsbeeinträchtigungen des Klägers wesentlich unfallbedingt sind. Ebenso wenig musste der Beantwortung der Frage nachgegangen werden, wann bei einer teilweisen Erwerbsminderung (Restleistungsvermögen von mehr als drei, aber weniger als sechs Stunden im Sinne von § 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI) der (Teilzeit-)Arbeitsmarktes – auch unter Berücksichtigung von Tätigkeiten in Selbständigkeit – als verschlossen anzusehen ist, um aus diesem Grunde eine "quasi volle" Erwerbsminderung zu bejahen.
Der Berufung war daher mit der sich aus § 193 SGG ergebenden Kostenfolge stattzugeben.
Die Revision ist gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Zwar hat das BSG in seiner Entscheidung vom 26.07.1973 (BSGE 36, 96) die Vorgängernorm des § 57 SGB VII, nämlich § 582 RVO, in dem vorstehend beschriebenen Sinne ausgelegt, ist also von einer dauerhaften Unfähigkeit des Versicherten, durch eine berufliche Tätigkeit Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, d. h. von dessen unfallbedingt endgültigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ausgegangen. Gleichwohl hat es zur Prüfung des konkreten Falls darauf abgestellt, ob der betreffende Kläger nur zeitweise (oder dauerhaft) erwerbsunfähig im Sinne von § 1247 RVO gewesen ist. Damit hat das BSG eine Tür zum Begriff der Erwerbunfähigkeit bzw. Erwerbsminderung im Sinne des Rentenversicherungsrechts zumindest einen Spalt weit geöffnet. Das zur Zeit dieser Entscheidung des BSG geltende Rentenversicherungsrecht wiederum hat sich zwischenzeitlich – unter der Geltung des zum 01.01.1997 in Kraft getretenen § 57 SGB VII – jedenfalls durch die Neufassung des § 43 SGB VI mit dem Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl. I 1827) zum 01.01.2001 grundlegend geändert. So ist der Begriff der "Erwerbsminderung" ins Zentrum des Rentenversicherungsrechts gerückt und hat denjenigen der Berufsunfähigkeit – von Fällen mit Bestandsschutz abgesehen – verdrängt. Ferner ist eine gesetzliche Begriffsbestimmung der vollen und teilweisen Erwerbsminderung nunmehr durch Regelung konkreter zeitlicher Vorgaben (§ 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 SGB VI) unter Berücksichtigung des Gesundheitszustandes des Versicherten und der konkreten Lage des (Teilzeit-)Arbeitsmarktes (arg. e contrario § 43 Abs. 3 zweiter Halbsatz SGB VI) erfolgt. Schließlich können auch Selbständige erwerbsgemindert sein.
Erstellt am: 19.02.2010
Zuletzt verändert am: 19.02.2010