Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 04.05.2012 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 29.03.2012 bis zum 31.07.2012 Regelbedarf nach § 20 SGB II in Höhe von 374,00 EUR mtl. zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Der Antragstellerin wird ab dem 15.06.2012 Prozesskostenhilfe ratenfrei bewilligt und Rechtsanwältin T, L, beigeordnet.
Gründe:
I.
Die am 00.00.1984 geborene Antragstellerin ist bulgarische Staatsangehörige. Nach ihren Angaben hält sie sich seit ca. 2002 in der Bundesrepublik Deutschland auf, lebte in C, ca. fünf Jahre in G und seit etwa zwei Jahren in L. In der Zeit vom 05.08. bis 02.10.2007 war die Antragstellerin unter der Adresse U-weg 00, X gemeldet. Gegenüber der Meldebehörde in X gab sie an, dass sie am 00.00.2007 aus Bulgarien ersteingereist sei. Die Abmeldung erfolgte von Amts wegen. Eine Meldung der Antragstellerin in G liegt nach der telefonischen Auskunft des Einwohnermeldeamtes der Stadt G nicht vor. Am 20.03.2012 meldete sich die Antragstellerin unter der Adresse T-straße 00, L an. Wohnungsinhaber ist J T. Laut Vermerk der Meldebehörde gab die Antragstellerin an, dass sie vom U-weg 00, X zugezogen sei. Die Antragstellerin besitzt keine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) und keine ArbeitserlaubnisEU/ArbeitsberechtigungEU nach § 284 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III).
Die Antragstellerin bestritt ihren Lebensunterhalt nach eigenen Angaben bis zum 01.02.2012 durch die Ausübung von Prostitution. Eine Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung e.V. (B) bestätigte schriftlich, dass sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Streetworkerin seit Mai 2011 die Antragstellerin in den Jahren 2011 und 2012 auf dem Straßenstrich im L Süden bei der Ausübung der Prostitutionstätigkeit angetroffen habe. Unter dem 04.06.2012 fertigte die Antragstellerin eine Steuererklärung über Betriebseinnahmen aus Prostitution in Höhe von 8.400,00 im Jahr 2011 an. In der beigefügten Gewinnermittlung. gab sie u. a. an , dass sie in den Monaten Januar bis April 2011 Einkünfte von 610,00 EUR bis 820,00 EUR erzielt habe.
Nach der Diagnose einer HIV-Infektion Anfang Februar 2012 gab die Antragstellerin die Tätigkeit als Prostituierte auf. Zum 15.03.2012 meldete sie sich bei der Bundesagentur für Arbeit online arbeitsuchend. Als gewünschte Tätigkeit gab sie "Reinigungskraft" an. Sie sei seit dem 01.02.2012 voraussichtlich arbeitslos. Eine Bewerbung bei Arbeitgebern sei noch nicht erfolgt. Sie gehe nicht davon aus, in den nächsten drei Monaten eine Stelle zu finden.
Am 10.02.2012 beantragte die Antragstellerin schriftlich beim Antragsgegner die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). In einem Telefon-Vermerk vom 14.02.2012 wurde festgehalten, dass nach Angaben der B sich die Antragstellerin "seit ein paar Wochen wieder in Deutschland" aufhalte. Durch Bescheid vom 15.02.2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag unter Berufung auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab.
Hiergegen legte die Antragstellerin Widerspruch ein, den der Antragsgegner durch Widerspruchsbescheid vom 17.04.2012 zurückwies. Die Antragstellerin erhob Klage, S 17 AS 1761/12, vor dem Sozialgericht Köln mit dem Begehren, den Beklagten zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zu verurteilen.
Am 14.06.2012 beantragte die Antragstellerin bei der Stadt L die Gewährung Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Sie gab an, dass sie sich vorübergehend bei einem Freund in O aufhalte, der sie mit Obdach und Essen versorge, bis sie ihre Ansprüche geklärt habe
Am 29.03.2012 hat die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung beim Sozialgericht Köln gestellt.
Sie hat die Auffassung vertreten, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht eingreife. Sie sei freizügigkeitsberechtigt, da sie ihre Tätigkeit als Prostituierte unfreiwillig habe aufgeben müssen. Jedenfalls ergebe sich ein Leistungsanspruch aus der VO (EG) 883/2004 bzw. dem Europäischen Fürsorgeabkommen.
Sie habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in L. Sie sei von G nach L gezogen. In G sei sie gemeldet gewesen. Der Bordellbetreiber habe sie angemeldet und Steuern für sie abgeführt. Diese seien über die "Miete" für das Zimmer abgerechnet worden. Sie habe zunächst in L in einem Hotel für Wohnungslose gewohnt und im März 2012 bei Freunden, C Straße, L, übernachtet. Ab 15.03.2012 habe sie mit einigen Bekannten eine Wohnung angemietet. Sie habe am 20.04.2012 diese Wohnung verlassen, da sie nicht in der Lage gewesen sei, die Miete zu zahlen. Seit dem 20.04.212 übernachte sie bei einer Freundin, B-straße 00, L.
Der Antragsgegner hat dargelegt, dass die Antragstellerin keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, so dass davon auszugehen sei, dass sie sich lediglich zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte.
Durch Beschluss vom 04.05.2012 hat das Sozialgericht Köln den Antrag abgelehnt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.
Am 04.06.2012 hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt.
Sie verfolgt ihr Begehren weiter.
Sie trägt vor, dass sie aktuell bei Herrn M, F-straße 00, übernachte, zu dem sie eine eher schwierige Beziehung unterhalte. Ihre Kleidung und persönlichen Gegenstände seien noch in der Wohnung ihrer Freundin, B-straße 00, L. Sämtlich Korrespondenz werde über den B e.V. in L geführt. Sie habe ihre gewöhnlichen Wohnsitz nicht in O.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches (d. h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie das Vorliegen des Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO -).
Einen Anordnungsgrund hinsichtlich der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht. Ein solcher kann nur bejaht werden, wenn der Antragstellerin schwere und unzumutbare Nachteile drohen, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr revidiert werden können. Anhaltspunkte für eine aktuelle Gefährdung der Unterkunft der Antragstellerin ergeben sich weder aus dem Akteninhalt noch aus dem Vortrag der Antragstellerin, zumal aus dem pauschalen Vortrag der Antragstellerin nicht ersichtlich ist, dass überhaupt Kosten für Unterkunft und Heizung seit der Antragstellung bei Gericht angefallen sind.
Ein Anordnungsanspruch und – grund auf Gewährung eines Regelbedarfs nach § 20 SGB II als Alleinstehende in Höhe von 374,00 EUR nach § 20 SGB Abs. 2 II ist ab Antragstellung bei Gericht glaubhaft gemacht.
Die Antragsstellerin hat das 15 Lebensjahr vollendet und die Altergrenze des §§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 7a SGB II noch nicht erreicht. Sie ist hilfebedürftig i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts Bezug. Die von Herrn M nach Angaben der Antragstellerin zur Verfügung gestellte Kost und Logis ist nicht als Einkommen zu berücksichtigen (vgl. BSG Urteil 20.12.2011 – B 4 AS 46/11 R = juris Rn 17).
Die Antragstellerin hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik glaubhaft gemacht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Dabei kann dahinstehen, ob die Auffassung der Bevollmächtigten zutrifft, dass für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts i.S.d. § 7 Abs. 1 SGB II allein die tatsächlichen Umstände maßgebend sind, oder ob der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts bereichsspezifisch dahin auszulegen ist, dass ein prognostisch auf Dauer gesicherter Aufenthalt zu fordern ist, der ein Erreichen des Regelungsziels des SGB II – Beseitigung der Bedürftigkeit durch die Aufnahme einer Tätigkeit mit existenzsichernden Ertrag – ungefährdet erscheinen lässt (vgl. hierzu LSG NRW Beschluss vom 22.06.2012 – L 19 AS 845/12 B ER). Auch wenn für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 12 Nr. 4 SGB II gefordert wird, dass einem Ausländer ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik zusteht, hat die Antragstellerin das Bestehen eines solchen Aufenthaltsrechts glaubhaft gemacht. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, d. h. vorliegend die gute Möglichkeit, dass ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin nach dem FreizügG/EU besteht, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl. zum Begriff der Glaubhaftmachung: BSG Beschluss vom 07.04.2011 – B 9 VG 15/10 B -). Zwar verfügt die Antragsstellerin nicht über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU (vgl. hierzu BSG Urteil vom 25.01.2012 – B 14 AS 138/11 R = juris Rn 17 m.w.N). Jedoch ist das Bestehen eines Aufenthaltsrechts der Antragstellerin nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB II FreizügG/EU hinreichend wahrscheinlich. Danach bleibt das Recht nach Abs. 1 – Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) – für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit.
Das Sozialgericht hat zutreffend festgestellt, dass nach derzeitiger Aktenlage die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Aufgabe ihrer Tätigkeit als Prostituierte nicht abhängig beschäftigt und keine Arbeitnehmerin i.S.v. § 2 FreizügG/EU war (vgl. zu den Anforderungen an eine abhängige Beschäftigung zur Begründung des Arbeitnehmerstatus: BSG Urteil vom 16.10.2010 – B 14 AS 23/10 R – m.w.N.).
Jedoch ist die Antragsstellerin bis Anfang Februar 2012 selbständig tätig gewesen. Denn sie übte als Straßenprostituierte eine selbständige Erwerbstätigkeit aus. Die tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit als Straßenprostituierte ist durch die eigenen Angaben der Antragstellerin, die eine Streetworkerin, deren Einsatzbereich der Straßenstrich im L Süden war, bestätigt hat, hinreichend belegt. Die Tätigkeit wurde entgeltlich erbracht und stellte auch einen Teil des Wirtschaftslebens dar (vgl. zu dazu OVG Bremen, Beschluss vom 21.06.2010 – 1 B 137/10 = juris 7 m.w.N.; EuGH Urteil vom 20.11.2011 – C -268/99 Jany = NVwZ 2002, 327). Im Hinblick auf den in der Steuererklärung angegeben Gewinn von 8.400,00 EUR im Jahr 2011 handelte es sich nicht um eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit. Eine Deckung des Existenzminimums durch den Gewinn aus der selbständigen Tätigkeit ist nicht erforderlich (BSG Urteil vom 16.10.2010 – B 14 As 23/10 R = juris Rn 19). Auch ist die Kontinuität dieser Tätigkeit hinreichend belegt.
Die selbständige Tätigkeit als Straßenprostituierte begründet zwar nicht ein Aufenthaltsrecht der Antragstellerin als niedergelassene selbständige Erwerbstätige nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 SGB II, da eine solche Tätigkeit eine feste Einrichtung bezogen auf die selbständige Tätigkeit, d. h. eine organisatorisch verfestigte Existenz, erfordert (BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R = juris Rn 19; vgl auch VG Gelsenkirchen Beschluss vom 21.10.2011 – 16 L 874/11 – zur Ausübung von Straßenprostitution). Die Existenz einer solchen Niederlassung, wie z. B. durch Anmietung eines Raums, ist im Fall der Antragstellerin zumindest im Hinblick auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht belegt.
Es spricht aber viel dafür, dass die Antragstellerin bei der Ausübung der Tätigkeit als Prostituierte auf dem Straßenstrich in L ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügigG/EU hatte. Danach sind Unionsbürger, die, ohne sich niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen im Sinne des Artikels 50 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erbringen, freizügigkeitsberechtigt, wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind. Es spricht viel dafür , dass die Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU nicht nur Selbständige, die die gemeinschaftsrechtliche Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AUEV , in Anspruch nehmen – also Unternehmer, die Leistungen außerhalb des Staates ihrer Niederlassung erbringen – erfasst (so VG Gelsenkirchen Beschluss vom 21.10.2011 – 16 L 874/11 – m.w.N.; LSG Hessen Beschluss vom 13.09.2007 – L 9 AS 44/07 ER), sondern auch selbständigen Erwerbstätige ohne Niederlassung, die sich ständig in einem Aufnahmemitgliedstaat aufhalten. Denn mit dem FreizügG/EU wird die Unionsbürgerrichtlinie RL 2004/38 EG vom 29.04.2004 in nationales Recht umsetzt. Diese Richtlinie regelt das in Art. 21 AUEV statuierte Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern und sieht ein abgestuftes System der Aufenthaltsrechte vor (vgl. EuGH Urteil vom 21.12.2011 – C – 424/10 – und C – 425/10). Nach Art. 7 Abs. 1 Nr. a der Unionsbürgerrichtlinie RL 2004/38 EG vom 29.04.2004 hat jeder Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedsstaat ist. In der Richtlinie wird nicht zwischen Selbständigen mit Niederlassung und ohne Niederlassung unterschieden. Ob der in Art. 7 der RL 2004/38 EG verwandte Begriff "Selbständiger" nunmehr im Hinblick auf die in Art. 49 AEUV (seit dem 01.12.2009 in Kraft) geregelte Niederlassungsfreiheit (siehe hierzu Müller-Graff in Streinz, EUV/AEUV, 2 Aufl., § 49 AuEV , insbesondere Rn 17ff) und die in Art. 56 AEUV geregelte Dienstleistungsfreiheit Selbständige ohne Niederlassung mit ständigem Aufenthalt nicht erfassen soll, ist offen. Insoweit spricht viel dafür, die Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass sie auch auf selbständige Unionsbürger ohne Niederlassung, die sich ständig im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, bezieht, zumal die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im heutigen Wirtschaftsleben nicht zwangsläufig die Innehabung einer festen Niederlassung bedingt. Die Ausübung der Prostitution ist vom Schutzbereich europarechtlicher Vorschriften erfasst (vgl. EuGH Urteil vom 20.11.2001 – C-268/99, Jany u.a., a.a.O.; BVerwG, Beschluss vom 24.10.2002 – 1 C 31/02). Die Antragstellerin übte nach derzeitiger Aktenlage ihre selbständige Tätigkeit auch erlaubt aus, da nicht erkennbar ist, dass sie diese in einem Sperrbezirk ausgeübt hat. Die Ausübung von Prostitution ist generell in der Bundesrepublik nicht verboten (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 06.05.2009 – B 11 AL 11/08 R). Mithin hatte die Antragstellerin während der Ausübung der Tätigkeit als Straßenprostituierte ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU inne.
Die Antragstellerin stellte ihre selbständige Tätigkeit Anfang Februar 2012 ein infolge von Umständen, nämlich der Diagnose einer HIV-Infektion, auf die sie keinen Einfluss hatte.
Nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte übte die Antragstellerin, ihre das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU begründende Tätigkeit vor Einstellung ihrer Tätigkeit mehr als ein Jahr aus. Die vorgelegte Steuererklärung für das Jahr 2011 weist die Erzielung von Einnahmen aus Prostitution in jedem Monat dieses Jahres aus. Die schriftliche Erklärung der Streetworkerin bestätigt die Angaben der Antragstellerin zu ihrer Tätigkeit bis zur Diagnose einer HIV-Infektion. Damit ist zur Überzeugung des Senats hinreichend belegt, dass die Antragstellerin vor Einstellung ihrer selbständigen Tätigkeit Anfang Februar 2012 mehr als ein Jahr als selbständige Prostituierte in der Bundesrepublik tätig war. Die im Telefonvermerk festgehaltenen Angaben des B e.V., wonach sich die Antragstellerin "seit ein paar Wochen wieder in Deutschland" aufhalte, begründen zwar Zweifel an der Kontinuität der Ausübung der Straßenprostitution durch die Antragstellerin. Dies genügt aber nicht, um eine Glaubhaftmachung der Dauer der selbständigen Tätigkeit zu verneinen. Insoweit sind diese Zweifel im Hauptsacheverfahren etwa durch die Befragung der Antragstellerin und der Mitarbeiter des B e.V. zu klären.
Die Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II ist gegeben (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 8 SGB II). Dem Sachverhalt sind keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Krankheit, die sie an der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens drei Stunden täglich hindern könnten, zu entnehmen. Allein die Diagnose einer HIV-Infektion begründet nicht die Annahme einer Erwerbsunfähigkeit i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II.
Nach der im einstweiligen Rechtschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte ist die Antragstellerin auch erwerbsfähig i.S.v. § 8 Abs. 2 SGB II. Danach können Ausländer nur erwerbsfähig i.S.v. § 8 Abs. 1 SGB II sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Die rechtliche Möglichkeit, eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) aufzunehmen, ist ausreichend (Satz 2). Als bulgarische Staatsangehörige benötigt die Antragstellerin zur Beschäftigungsaufnahme in der Bundesrepublik bis zum 31.12.2013 grundsätzlich eine sog. Arbeitsgenehmigung/EU nach § 284 SGB III von der Bundesagentur für Arbeit (§ 13 FreizügG/EU, vgl. zur Rechtlage für bulgarische Staatsangehörige: LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 23.05.2012 – L 9 AS 47/12 B ER). Dies kann in Form einer unbefristeten ArbeitsberechtigungEU nach § 284 Abs. 5 SGB III i.V.m. § 12a ArGV nach einer mindestens einjährigen Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt oder einer befristeten Arbeitserlaubnis/EU nach § 284 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 39 Abs. 2-4 u. 6 AufenthG erfolgen (siehe Hackenthal in juris-LPK, § 8 SGB II Rn 34). Die Antragstellerin hat zwar bislang weder eine ArbeitserlaubnisEU/ArbeitsberechtigungEU nach § 284 SGB III beantragt noch ist sie im Besitz einer solchen. Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 2. Alt., Satz 2 SGB II kann aber eine Beschäftigung erlaubt werden und damit die rechtliche Erwerbsfähigkeit gegeben sein, wenn für den Ausländer, orientiert am Maßstab des Arbeitsgenehmigungsrechts eine abstrakt-generelle Aussicht auf Erteilung einer solche Erlaubnis besteht, also die Bundesagentur einer Beschäftigungsaufnahme "zumindest rechtlich-theoretisch" zustimmen könnte (vgl. BT-Drs. 17/3404 S. 93; LSG Hessen Beschluss vom 06.09.2011 – L 7 AS 334/11 B ER -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.05.2011 – L 28 AS 566/11 B ER). Da sich die Antragstellerin für eine Tätigkeit als Reinigungskraft arbeitssuchend gemeldet hat und nach Aktenlage auch über keine für den Arbeitsmarkt relevante Berufsqualifikation verfügt, kommt allenfalls eine Erteilung einer Arbeitsleistung/EU für Beschäftigungen ohne qualifizierte Berufsausbildung nach § 284 Abs. 3 SGB III i.V.m. § 39 Abs. 2 bis 4 und 6 AufenthG in Betracht, die eine Vorrangprüfung beinhaltet. Neue Unionsbürger, wie z. B. die Antragstellerin, sind zwar gegenüber Drittstaatenangehörigen vorrangig, gegenüber inländischen Arbeitskräften und Staatsangehörigen aus den alten EU-Mitgliedstaaten aber nachrangig zu behandeln. Ob rechtlich-theoretisch eine Möglichkeit der Erteilung einer Arbeitsleistung/EU für eine Beschäftigung als Reinigungskraft oder für eine sonstige Tätigkeit ohne qualifizierte Berufsausbildung im Hinblick auf den Arbeitsmarkt nach § 284 Abs. 3 SGB III im vorliegenden Fall besteht, ist nach derzeitiger Aktenlage offen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass in der Rechtsprechung und Literatur auch die Auffassung vertreten wird, dass § 8 Abs. 2 SGB II nicht eingreift, wenn ein Antragsteller ein von der Arbeitsuche unabhängiges Recht auf Freizügigkeit erworben hat (vgl. LSG Berlin- Brandenburg Beschluss vom 20.05.2008 – L 15 B 54/08 SO ER -; Hackenthal in juris-LPK, § 8 SGB II Rn 34).
Da die Antragstellerin das Bestehen eines Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 FreizügG/EU glaubhaft gemacht hat, greift der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht ein. Klarstellend weist der Senat daraufhin, dass er seine Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebotes nach Art. 4 der VO (EG) 883/2004 aufrecht hält, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bei bulgarischen Staatsangehörigen ohne ArbeitserlaubnisEU/ArbeitsberechtigungEU nach § 284 SGB III eingreift, wenn als Aufenthaltszweck allein der der Arbeitsuche in Betracht kommt (vgl. LSG NRW Beschluss vom 22.06.2012 – L 19 AS 845/12 B ER).
Mithin ist das Vorliegen Leistungsvoraussetzungen des § 7 SGB II glaubhaft gemacht. Der Anspruch auf Regelbedarf als Alleinstehende nach § 20 Abs. 2 SGB II beläuft sich seit dem 01.02012 auf 374,00 EUR. Nach Aktenlage ist der Antragsgegner auch bislang örtlich für die Leistungserbringung nach § 36 SGB II zuständig.
Besteht demnach dem Grunde nach mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Anordnungsanspruch für die Antragstellerin, hat wegen der bestehenden Existenzgefährdung für die Antragstellerin, das Erstattungsrisiko des Antragsgegners bei der gebotenen Folgenabwägung zurückzustehen.
Der Senat hat die vorläufige Leistungsverpflichtung des Antragsgegners auf den 31.07.2012 begrenzt. Maßgebend dafür ist, dass nicht abzusehen ist, ob sich die Antragstellerin weiter im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners aufhält. Auch ist das Ergebnis der weiteren Ermittlungen hinsichtlich des Aufenthaltsrechts und der rechtlichen Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin nach dem FreizügG/EU, der örtlichen Zuständigkeit des Antragsgegners sowie des Eingreifens des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4a SGB II abzuwarten. Insoweit ist die Antragstellerin verpflichtet, an der Aufklärung des Sachverhalts, z.B. durch persönliche Vorsprache beim Antragsgegner mitzuwirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Dabei hat der Senat unter Beachtung des Veranlassungsgrundsatzes berücksichtigt, dass die Antragstellerin erst im Beschwerdeverfahren ihren Vortrag hinsichtlich der Ausübung einer Tätigkeit als Prostituierte von mehr als einem Jahr durch die Vorlage einer Gewinnermittlung zu den Einkünften aus gewerblicher Tätigkeit substantiiert hat.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren ab dem 15.06.2012 bewilligt und Rechtsanwältin T beigeordnet. Die Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht i.S.v. § 73a SGG i.V.m. § 114 ZPO. Der Prozesskostenhilfeantrag ist am 15.06.2012 mit der Vorlage der Erklärung der Antragstellerin über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bewilligungsreif gewesen (vgl. zum Begriff der Bewilligungsreife: BVerfG Beschluss vom 14.04.2010 – 1 BvR 362/10 – m.w.N.).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Erstellt am: 10.07.2012
Zuletzt verändert am: 10.07.2012