Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29.08.2013 geändert: Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern ab dem 02.12.2013 vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über ihre Klage (Az S 35 AS 3436/13) gegen den Bescheid vom 03.07.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2013, längstens jedoch bis zum 02.03.2014 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften in derzeitiger Höhe von monatlich 427,84 Euro für die Antragstellerin zu 1) und 105,00 Euro für den Antragsteller zu 2) zu gewähren sowie die Beiträge für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung der Antragsteller bei der IKK Classic im oben genannten Zeitraum zu übernehmen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Der Antragsgegner trägt die Hälfte der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren ab 08.10.2013 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin T, L, zu den Bedingungen einer im Bezirk des Sozialgerichts Düsseldorf ansässigen Rechtsanwältin gewährt.
Gründe:
I.
Die 1965 geborene Antragstellerin zu 1) und ihr 1999 geborener Sohn T (Antragsteller zu 2), sind polnische Staatsangehörige. Sie reisten im Oktober 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein, um in der Nähe der hier wohnenden weiteren Kinder der Antragstellerin, dem 1983 geborenen M L (M.L.) und der 1985 geborenen B G (B.G.) zu leben. Diese hatten sie bereits in Polen unterstützt und unterstützten sie zunächst auch in Deutschland. Die Antragsteller bewohnten zunächst bis Mai 2013 eine Wohnung unter der Anschrift T-straße 00 in X. Dieses Mietverhältnis wurde aufgrund unregelmäßiger Mietzahlungen gekündigt. Seither leben die Antragsteller in der Wohnung des Sohnes M.L. Der Ehemann der Antragstellerin und Vater der Kinder (N L, geb. am 00.00.1958) verstarb im Februar 2013 in Polen nach jahrelanger Alkoholerkrankung. Der Antragsteller zu 2), für den die Antragstellerin zu 1) von der Familienkasse Kindergeld in Höhe von 184 Euro monatlich erhält, besucht die 8. Klasse einer Realschule in X. Die Antragsteller sind seit dem 01.10.2012 freiwillig bei der IKK Classic krankenversichert. Dort ruhen die Leistungsansprüche derzeit wegen eines Beitragsrückstandes.
Die Antragsteller beantragten am 28.05.2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, wobei sie angaben, mietfrei zu wohnen. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 03.07.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2013 unter Hinweis auf die Ausschlussvorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II abgelehnt. Hiergegen haben die Antragsteller am 02.10.2013 Klage beim Sozialgericht Düsseldorf (SG) unter dem Aktenzeichen S 35 AS 3436/13 erhoben.
Am 23.07.2013 haben die Antragstellerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei dem SG gestellt und beantragt, ihnen vorläufige Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Das SG hat den Eilantrag mit Beschluss vom 29.08.2013 abgelehnt. Die Antragsteller seien gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Ein Aufenthaltsrecht folge nicht aus Gründen der Familienzusammenführung, weil die in Deutschland lebenden Kinder der Antragstellerin, M.L. und B.G. älter als 21 Jahre und daher keine Verwandten im Sinne des § 3 Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) seien. Damit könne sich ein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergeben.
Nach Auffassung der Kammer sei der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II auch mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar.
Dies gelte zum einen für die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (VO (EG) 883/2004) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004. Das in Art. 4 der VO (EG) 883/2004 begründete Gleichbehandlungsgebot beziehe sich lediglich auf die "Rechtsvorschriften" eines Mitgliedstaates. Die Leistungen nach dem SGB II als steuerfinanzierte Leistungen seien aber gerade keine "Rechtsvorschriften" im Sinne von Art. 1 lit l) der VO (EG) 883/2004, da es sich bei diesen nicht um in Art. 3 Abs. 1 der VO (EG) 883/2004 genannte beitragsabhängige Leistungen der sozialen Sicherheit handele. Für die in Art. 70 der VO (EG) 883/2004 genannten beitragsunabhängigen Geldleistungen, zu denen Leistungen nach dem SGB II ggf. zählen könnten, gelte das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 nicht. Zweifelhaft sei auch, ob der sachliche Anwendungsbereich gem. Art. 3 VO (EG) 883/2004 überhaupt eröffnet sei. Dies könne jedoch im Ergebnis offen bleiben, weil einer erweiternden Auslegung des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 insbesondere ein Vergleich der Definition der "Rechtsvorschriften" mit der (Vorgänger-)Vorschrift in der VO (EWG) 1408/71 entgegenstehe.
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II stehe auch im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Richtlinie). In deren Lichte sei das FreizügG/EU auszulegen. Bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II handele es sich ausgehend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) um Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie, für die das nationale Recht einen Leistungsausschluss vorsehen dürfe.
Die Antragsteller könnten sich auch nicht auf das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) stützen, da Polen nicht zu den Vertragsstaaten dieses Abkommens zähle.
Die Kammer habe sich aufgrund ihrer Überzeugung, dass § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht europarechts- bzw. völkerrechtswidrig sei, nicht veranlasst gesehen, im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden
Gegen den ihnen am 04.09.2013 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am 09.09.2013 Beschwerde erhoben. Die Antragstellerin zu 1) hat eidesstattlich versichert, dass sie und der Antragsteller zu 2) außer dem Kindergeld über kein Einkommen und Vermögen verfügten. Die älteren Kinder seien wegen fehlender eigener Einkünfte nicht mehr in der Lage, sie zu unterstützen. Über die bisherigen Unterstützungsleistungen sind eidesstattliche Versicherungen des M.L. und der B.G. übersandt worden.
Die Antragsteller vertreten die Auffassung, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II schon einfachgesetzlich nicht greife. Bei ihnen ergebe sich bereits ein Aufenthaltsrecht über den "Familiennachzug sonstiger Familienangehöriger". Nach einer Entscheidung des EuGH (C-83/11) müssten die Mitgliedstaaten eine Regelung vorsehen, die sicherstelle, dass Familienangehörige ohne Nachzugsanspruch bei ihrer Antragstellung privilegiert würden. Da es hieran im deutschen Recht noch fehle, müsse § 36 Aufenthaltsgesetz einschränkend zugunsten der Antragsteller dahin ausgelegt werden, dass eine – nicht an das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte gebundene – Ermessensentscheidung über das Aufenthaltsrecht zu prüfen sei. Die Aufenthaltsbeendigung sei im Übrigen Sache der Ausländerbehörde und gehöre nicht in die Prüfungskompetenz der Sozialgerichte.
Der Leistungsausschluss im SGB II habe in Art. 24 Abs. 2 Unionsbürgerrichtlinie keine hinreichende Rechtsgrundlage, da es sich bei den SGB II-Leistungen nicht um Sozialhilfe handele. Im SGB II sei entstehungsgeschichtlich gerade die existenzsichernde Sozialhilfe mit der das Risiko der Arbeitslosigkeit sichernden Arbeitslosenhilfe zusammengeführt worden und von der reinen Sozialhilfe im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) abgegrenzt.
Aber auch dann, wenn man davon ausginge, dass SGB II-Leistungen Sozialhilfeleistungen seien, ergebe sich ein unmittelbarer Leistungsanspruch für sie aus Art. 4 der VO (EG) 883/2004. Diese Verordnung sei in ihrer Bestimmung von der Unionsbürgerrichtlinie getrennt zu betrachten. Ihr Anwendungsbereich erfasse auch beitragsunabhängige Leistungen wie die Leistungen nach dem SGB II, da sie diese inkludiere. Es könne nicht angenommen werden, dass durch die VO (EG) 883/2004 gegenüber der Vorgängervorschrift der VO (EWG) 1408/71 eine Verkürzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes habe erfolgen sollen.
Angesichts der eindeutigen Regelungen in der VO (EG) 883/2004 trete die Frage der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses mit höherrangigem EU-Recht in den Hintergrund. Sofern das EU-Recht dennoch heranzuziehen sei, verstoße der Leistungsausschluss gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot, weil er allein an die Staatsangehörigkeit anknüpfe. Dieser undifferenzierte Ausschluss widerspreche auch den Vorgaben des EuGH an die finanzielle Solidarität der Mitgliedstaaten untereinander.
Im Übrigen bestehe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auch ein Anspruch auf Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums unmittelbar aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Grundgesetz (GG). Der in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II geregelte Leistungsausschluss sei rein migrationspolitisch motiviert und daher verfassungswidrig.
Ein Abwarten auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens sei bei den begehrten existenzsichernden Leistungen nicht zumutbar. Auf Nachfrage des Senates hat die Antragstellerin zu 1) mitgeteilt, Familienrente nach dem Tod ihres Ehemannes zahle der polnische Rentenversicherungsträger nicht. Ein Antrag sei mündlich abgelehnt und erneut schriftlich gestellt worden.
Die Antragsteller beantragen schriftsätzlich,
den Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29.08.2013 aufzuheben und den Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, ihnen ab dem Tag der Beschlussfassung des Landessozialgerichts für sechs Monate monatliche Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 427,84 Euro für die Antragstellerin zu 1) und in Höhe von 105,00 Euro für den Antragsteller zu 2) sowie die Beiträgefür die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung bei der IKK Classic zu übernehmen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für rechtmäßig.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und der die Antragsteller betreffenden Verwaltungsakte des Antragsgegners.
II.
Die zulässige Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Das Sozialgericht hat eine einstweilige Anordnung bezogen auf die begehrte Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes dem Grunde nach zu Unrecht abgelehnt. Im Hinblick auf die ausstehende Entscheidung des polnischen Rentenversicherungsträgers hat der Senat den Zeitraum, für den Leistungen zu bewilligen sind, auf drei Monate befristet.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (Anordnungsanspruch), und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 23; Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn. 28). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG Beschluss vom 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 Rn. 28).
Der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B Rn. 5).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 24 f). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend berücksichtigt (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 26; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86b Rn. 29a).
Den Antragstellern sind unter Berücksichtigung ihrer grundrechtlichen Belange nach Folgenabwägung die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für drei Monate zu gewähren.
Eilbedürftigkeit im Sinne eines Anordnungsgrundes ist gegeben, weil die Antragstellern glaubhaft vorgetragen haben, über kein ausreichendes eigenes Einkommen sowie Vermögen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zu verfügen und deshalb die vom Sozialgericht gewährten Leistungen nach dem SGB II benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Senat geht davon aus, dass innerhalb von drei Monaten zu klären ist, ob Ansprüche gegen den polnischen Rentenversicherungsträger bestehen.
Ob ein Leistungsanspruch vorliegt, vermag der Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend zu entscheiden. Es spricht allerdings viel dafür, dass der von den Antragstellern glaubhaft gemachte grundsätzliche Leistungsanspruch nicht gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen ist.
Die Antragstellerin zu 1) erfüllt nach der hier gebotenen summarischen Prüfung die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch. Sie ist im Jahr 1965 geboren und zählt damit zum leistungsberechtigten Personenkreis nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II. Bedenken gegen ihre Erwerbsfähigkeit im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II bestehen nicht. Der Annahme einer "rechtlichen Erwerbsfähigkeit" der Antragstellerin gemäß § 8 Abs. 2 SGB II steht ihre ausländische Staatsbürgerschaft nicht entgegen, da die Antragstellerin sich als Unionsbürgerin auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen kann. Aufgrund ihrer glaubhaften Angaben zu Einkommen und Vermögen ist die Antragstellerin derzeit hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 1 SGB II.
Die Antragstellerin hat an ihrem Wohnort in X auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II begründet. Einen gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs. 3 S. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthaltes ist dabei in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen zu beurteilen. Entscheidend ist, ob die Antragstellerin den örtlichen Schwerpunkt ihrer Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft in der Bundesrepublik hat. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist (BSG Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R Rn. 18), wobei der Domizilwille nur soweit Relevanz hat, wie er mit den tatsächlichen Umständen im streitigen Zeitraum übereinstimmt (BSG Urteil vom 27.01.1994 – 5 RJ 16/93 Rn. 30 m.w.N.). Die Antragstellerin hat mit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in der Absicht, ihren Lebensmittelpunkt hierher zu verlegen, einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet und seither nach den aktenkundigen Umständen und ihrer eidesstattlichen Versicherung aufrechterhalten. Dies beabsichtigt sie auch weiterhin. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht unter Beachtung der – bei Meinungsverschiedenheiten von Mitgliedstaaten heranzuziehenden – Begriffsauslegung des "Wohnortes" in unionsrechtlicher Hinsicht nach Art. 1 lit. j VO (EG) 883/2004 sowie Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284/1). Wesentliche Anknüpfungsmomente der Antragsteller an den vorigen Heimatstaat Polen sind nicht erkennbar. Dies gilt um so mehr, als der polnische Ehemann der Antragstellerin verstorben ist und zwei erwachsene Kinder der Antragstellerin, zu denen offenkundig enge verwandtschaftliche Beziehungen gepflegt werden, ebenfalls seit langem in der Bundesrepublik leben.
Für den am 18.05.1999 geborenen Antragsteller zu 2), der in der Bundesrepublik eine Realschule besucht, gelten die obigen Ausführungen mit der Maßgabe, dass er als nichterwerbsfähiger Leistungsberechtigter in Bedarfsgemeinschaft mit der Antragstellerin die Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialgeld gem. § 19 Abs. 1 S. 2 SGB II erfüllt.
Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klären ist die Frage, ob die Antragsteller deshalb keine Leistungen erhalten können, weil zu ihren Lasten der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift. Der Senat lässt dabei dahinstehen, ob über die derzeitigen gesetzlichen Vorschriften des Ausländerrechts hinaus ein Aufenthaltsrecht aus Gründen der Familienzusammenführung bzw. aus humanitären Gründen besteht, wie dies die Antragsteller meinen. Nach Auffassung des Senats bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der Leistungsausschluss in der vom Bundesgesetzgeber gewählten Form mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist (aus der umfangreichen obergerichtlichen Rechtsprechung z.B. zuletzt Beschluss des erkennenden Senats vom 01.08.2013 – L 2 AS 733/13 B ER; vgl. auch LSG NRW Beschluss vom 29.08.2013 – L 19 AS 1460/13 B ER; Beschluss vom Beschluss vom 06.06.2013 – L 7 AS 686/13 B; Beschluss vom 16.05.2013 (juris fälschlich: 13.06.2013) – L 6 AS 531/13 B ER; Beschluss vom 15.05.2013 – L 9 AS 466/13 B ER; LSG Bayern Urteil vom 19.06.2013 – L 16 AS 847/12: Vereinbarkeit verneinend; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER juris Rn. 4 und Beschluss vom 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER juris Rn. 10; LSG Hessen Beschluss vom 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER juris Rn. 18 ff.; aA LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 21.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER juris Rn. 36; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 23.05.2012 – L 9 AS 347/12 B ER juris Rn. 32). Es spricht vielmehr viel dafür, dass die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II durch Art. 4 der Verordnung (VO) (EG) 883/2004 des Europäischen Parlamentes und Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit verdrängt wird und daher keine Anwendung findet. Diese Verordnung, die die VO (EWG) 1408/71 abgelöst hat, ist am 01.05.2010 in der Bundesrepublik in Kraft getreten (s. Art. 91 VO (EG) 883/2004 i.V.m. der DurchführungsVO (EG) 987/2009) und seither als unmittelbar geltendes Recht anwendbar. Sie erzeugt unmittelbare Rechtswirkungen in allen Mitgliedsstaaten, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedürfte; die Regelungen können in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden und begründen somit gegenüber entgegenstehenden nationalrechtlichen Regelungen einen Anwendungsvorrang (s. Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union idF des am 01.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon, Abl. EG Nr. C 115 vom 09.05.2008, S. 47 – AEUV; BVerfG Beschluss vom 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 juris Rn. 53; s. auch schon EuGH Urteil vom 15.07.1964 – Rechtssache C-6/64 – Costa./. E.N.E.L.).
Aufgrund der Vielzahl der in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten schwierigen und komplexen Rechtsfragen hält der Senat eine Folgenabwägung für erforderlich, die hier aus dem im Tenor der Entscheidung ersichtlichen Umfang zugunsten der Antragsteller ausgeht. Ohne die beantragten Leistungen drohen den Antragstellern existentielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden können. Demgegenüber hat der Antragsgegner "nur" finanzielle Nachteile zu befürchten, wenn die Antragsteller im Hauptsacheverfahren mit ihrem Begehren nicht durchdringen sollten. In diesem Fall erscheint es allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Antragsgegner seinen Rückforderungsanspruch nicht wird realisieren können und die Zuerkennung der Leistungen deshalb im Ergebnis einen Zustand schafft, der in seinen (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Vorwegnahme in der Hauptsache gleichkommt. Diesem Umstand trägt der Senat bei der Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung Rechnung, indem er die nachteiligen Folgen auf Seiten des Antragsgegners zeitlich begrenzt. Aus diesem Grund hat der Senat die den Antragstellern vorläufig gewährten Leistungen in Anlehnung an die Regelung des § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II und unter Berücksichtigung der ungeklärten Rentenansprüche auf einen Zeitraum von drei Monaten begrenzt. Der Antragsgegner kann den Leistungsumfang dadurch möglichst gering halten, dass er die Antragstellerin zu 1), die nach ihren Angaben versucht eine Arbeitsstelle zu finden, in diesen Bemühungen unterstützt.
Die Höhe der bewilligten Leistungen ergibt sich für die Antragstellerin gem. § 20 Abs. 2 S. 1 SGB II in der Fassung des zum 01.01.2011 in Kraft getretenen Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen (im Folgenden: RBEG) und zur Änderung des SGB II und SGB XII – Gesetz vom 24.03.2011, BGBl I, 453 – i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 2 RBEG und der Bekanntmachung des Bundesministeriums der Justiz vom 18.10.2012 über die Höhe der Regelsätze nach § 20 Abs. 5 SGB II ab 01.01.2013 (BGBl I 2012, 2175) aus einem Regelbedarf von derzeit 382,00 Euro monatlich und einem Mehrbedarf für Alleinerziehende gem. § 21 Abs. 3 Nr. 2 SGB II in Höhe von derzeit 45,84 Euro monatlich. Für den 14jährigen Antragsteller zu 2) beträgt das Sozialgeld gem. § 23 Nr. 1 SGB II i.V.m. der o.g. Fassung monatlich derzeit 289,00 Euro. Hiervon ist gem. § 11 Abs. 1 S. 4 SGB II das gezahlte Kindergeld in Höhe von 184,00 Euro monatlich in Abzug zu bringen. Ergänzend weist der Senat bereits jetzt darauf hin, dass der Antragsgegner für den Leistungszeitraum ab Januar 2014 die dann geltende Erhöhung der Regelbedarfe zu berücksichtigen haben wird. Die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der monatlichen Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung ergibt sich aus §§ 252 Abs. 1 S. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V), 60 Abs. 1 S. 2 SGB Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Da die Beschwerde aus den o.g. Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg hatte, die Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint, die Beiordnung eines Rechtsanwalts notwendig und die Antragsteller hilfebedürftig sind, war ihnen gem. § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) die beantragte Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten zu bewilligen, dies gem. § 121 Abs. 3 ZPO begrenzt auf die Bedingungen einer ortsansässigen Rechtsanwältin und ab dem Vorliegen der vollständigen Unterlagen.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 10.12.2013
Zuletzt verändert am: 10.12.2013