Unter Aufhebung des Bescheides vom 27.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.05.2012 wird festgestellt, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach Nr. 4111 der Anlage 1 zur BKV vorliegt. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 4111 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) und in diesem Rahmen um die Reichweite der Stichtagsregelung des § 6 Abs. 3 S. 2 BKV.
Der am 29.05.1935 geborene Kläger war vom 12.10.1954 bis zum 30.09.1988 insgesamt 340 Monate als Hauer und Tunnelbauer unter Tage tätig. Die aufgenommene Staubkonzentration lag zwischen 4,6 und 9,6 mg/m³ bei 170 bis 260 Schichten pro Jahr. Zur weiteren Aufschlüsselung der maßgeblichen Daten zur Berechnung der Staubjahre wird auf die Stellungnahme der Abteilung Prävention der Beklagten vom 13.09.2011 verwiesen. Im Jahr 1988 schied der Kläger – nach eigenen Angaben – aufgrund erheblicher Gesundheitsbeeinträchtigungen, insbesondere einer Wirbelsäulenschädigung und erheblicher Atembeschwerden, ganz aus dem Dienst aus.
Am 27.02.1981 ging bei der Vorgängerin der Beklagten, der Bergbau-Berufsgenossenschaft (BBG), eine ärztliche Anzeige des Internisten und Lungenfacharztes XXX aus XXX wegen des Verdachts auf eine Berufskrankheit des Klägers nach Nr. 4101 der Anlage 1 zur BKV (Silikose) ein. Nach einer ärztlichen Auswertung von beigezogenen Röntgenaufnahmen lehnte die BBG einen Anspruch des Klägers auf Anerkennung der begehrten BK mit Bescheid vom 28.04.1981 mit der Begründung ab, Anzeichen für eine eindeutige Silikose lägen nicht vor. Hiergegen erhob der Kläger nach erfolglosem Widerspruchsverfahren am 14.05.1981 Klage (Az: S 19 BU 132/81), die er nach einem vom Gericht eingeholten, für ihn ungünstigen, Gutachten von XXX aus XXX schließlich zurücknahm.
Am 24.02.1984 kam es zu einer weiteren ärztlichen Anzeige des XXX, in der dieser erneut den Verdacht auf das Vorliegen einer Silikose beim Kläger nach Nr. 4101 der Anlage 1 der BKV äußerte. Die Feststellung der BK lehnte die BBG allerdings am 27.06.1984 mit der gleichen Begründung wie im Bescheid vom 28.04.1981 ab. Hiergegen erhob der Kläger nach erfolglosem Widerspruch erneut Klage (S 19 BU 201/84). Parallel zum gerichtlichen Verfahren zog die BBG im Oktober 1984 einen Entlassungsbericht der Knappschaftskurklinik XXX bei, in welchem u.a. die Diagnose "Chronische Bronchitis" mitgeteilt wurde.
Im Zusammenhang mit dem Klageverfahren ließ das Sozialgericht den Kläger abermals durch XXX begutachten. Dieser stellte mit dem in der Akte der Beklagten befindlichen Gutachten vom 22.01.1985 diesmal ein chronisches Atemwegsleiden bzw. eine chronische Bronchitis, verbunden mit einem leichten Lungenemphysem, fest. Eine Silikose im Sinne der Nr. 4101 nahm er nicht an. Nach Übersendung des Gutachtens nahm der Kläger auch diese Klage zurück.
Am 12.10.2010 erhielt die Beklagte ein Schreiben von XXX, in dem dieser auf eine von ihm selbst erstellte ärztliche Anzeige vom 23.11.2009 verweist, nach der beim Kläger der "Verdacht auf eine Berufskrankheit (v.a. Silikose)" bestünde und die er der Beklagten zugesandt habe. Die Beklagte leitete daraufhin ein Berufskrankheiten-Feststellungsverfahren ein und zog hierfür medizinische Unterlagen bei. Gleichzeitig teilte sie Dr. XXX mit, dass das von ihm angegebene Schreiben vom 23.11.2009 nicht eingegangen sei. Im Rahmen der Ermittlungen in Bezug auf eine BK nach Nr. 4101 zog die Beklagte alle Unterlagen von XXX bei. Darunter befand sich auch ein Schreiben vom 19.06.2009, mit welchem die radiologische Gemeinschaftspraxis XXX, XXX, u.a., XXX, XXX mitteilte, dass leichte Zeichen einer Silikose sowie Zeichen einer chronischen Bronchitis bestünden. Die Beklagte holte daraufhin die Stellungnahme von dem Lungenfacharzt XXX, XXX, vom 31.05.2011 ein, in welcher dieser einschätzte, dass aufgrund des konventionell-radiologischen und des computertomographischen Befundes kein Versicherungsfall einer BK nach Nr. 4101 vorliege. Es solle aber geprüft werden, ob die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach Nr. 4111 gegeben seien.
Mit Bescheid vom 07.07.2011 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK nach Nr. 4101 und 4102 mit der Begründung ab, dass die Röntgenaufnahmen weder sichere Quarzstaublungenveränderungen noch eine aktive Lungentuberkulose zeigten. Zugleich kündigte die Beklagte die Prüfung eines Vorliegens der Voraussetzungen einer BK nach Nr. 4111 an und nahm Kopien aus der Akte in Bezug auf die BK 4101 zur Akte.
Der Kläger legte gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch ein. Zur Begründung verwies er auf das Schreiben der Praxis XXX, XXX u.a. vom 19.06.2009. Es könne nicht angehen, dass er, der Kläger, sich im Rahmen der Feststellung nach Nr. 4101/4102 und Nr. 4111 das Vorliegen des jeweils anderen Krankheitsbildes vorhalten lassen müsse. Ein "Hin- und Herschieben" der vorhandenen Krankheitsbilder dürfe es nicht geben.
Die Beklagte holte zur Abklärung der BK nach Nr. 4111 ein Gutachten des Arbeits- und Sozialmediziners XXX, Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in XXX, ein. Dieser gab an, dass der Kläger "sicherlich seit den 80er-Jahren" an einer chronischen Bronchitis leide. Obstruktive Verteilungsstörungen seien seit dem 22.01.1985 gesichert. Ein Lungenemphysem und eine Silikose, welche das Kriterium 1/1 erfülle, seien hingegen nicht zu belegen. Die schädigenden Einwirkungen durch die Feinstaubbelastung seien eine wesentliche Mitursache für den Eintritt des Gesundheitsschadens. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei seit 1985 mit einem Wert von 20 v.H. zu bemessen.
Die Beklagte lehnte auch die Anerkennung einer BK nach Nr. 4111 mit Bescheid vom 27.12.2011 ab. Der Kläger leide nach Auswertung des Gutachtens von XXX vom 12.12.2011 zwar seit 1985 an einer chronischen obstruktiven Bronchitis. Der Versicherungsfall sei aber nicht nach dem 31.12.1992 eingetreten, so dass eine BK nach Nr. 4111 wegen der Stichtagsregelung des § 6 Abs. 2 BKV (gemeint war wohl: Abs. 3) nicht anerkannt werden könne.
Hiergegen legte der Kläger am 10.01.2012 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er an, dass die Stichtagsregelung verfassungswidrig sei. Es könne nicht richtig sein, dass nur aufgrund einer schon einmal aufgehobenen bzw. verlängerten Regelung die Anerkennung der BK ausgeschlossen sei, obschon es unstreitig sei, dass er, der Kläger, aufgrund der Bergbautätigkeit an einer schweren Erkrankung leide. Außerdem hätte die Beklagte ihn auf die zum 31.12.2009 auslaufende Frist bezüglich der Anerkennung einer BK nach Nr. 4111 hinweisen müssen, da er immer wieder Anträge gestellt habe. Insbesondere verwies der Kläger hierbei auf das Gutachten von XXX vom 22.01.1985. Es könne nicht sein, dass er aufgrund zunächst erfolgter ärztlicher Falschbegutachtung seine Interessen nicht weiterverfolgen könne und schließlich nach der Feststellung, dass die Krankheit von Anfang an bestand, auf eine zwischenzeitlich abgelaufene Frist verwiesen werde. Der Sachverhalt unterscheide sich daher gravierend von "normalen Fällen". Es handele sich um eine unzumutbare Härte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23.05.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Das Bundessozialgericht (BSG) habe entschieden, dass die Regelung des § 6 Abs. 3 BKV verfassungsgemäß sei (BSG, Urteil vom 13.06.2006, AZ.: B 8 KN 3/05 U R – zitiert nach sozialgerichtsbarkeit.de). Sie sei nämlich frei von Willkür und berücksichtige sachgerecht die Interessen der Versicherten, der Unternehmer und der Unfallversicherungsträger. Eine hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zur Entscheidung angenommen, da sie keine Aussicht auf Erfolg habe (BVerfG, Beschluss vom 30.03.2007, AZ.: 1 BvR 3144/06 – zitiert nach juris). Die Anerkennung einer BK nach Nr. 4111 sei vom Kläger vor 2010 zu keinem Zeitpunkt beantragt worden. Die eingereichten Unterlagen hätten sich ausschließlich mit einer BK nach Nr. 4101 befasst und dies zu einer Zeit, als es noch keine Hinweise auf die Aufnahme der BK nach Nr. 4111 gegeben habe. Erst 1995 habe das zuständige Innenministerium den Hauptverband der Berufsgenossenschaften über eine entsprechende Empfehlung des ärztlichen Sachverständigenbeirats in Kenntnis gesetzt. Es habe sich durch die Einführung der Nr. 4111 auch keine Verpflichtung für die Beklagte ergeben, von sich aus alle Silikose-Fälle auf das Vorliegen dieser neuen BK zu prüfen. Diese Argumentation stütze auch ein Urteil des BSG zu § 44 SGB X vom 26.01.1988, wonach weder regelmäßig noch aus besonderem Anlass eine Verpflichtung für die Leistungsträger bestünde, den gesamten Aktenbestand daraufhin zu überprüfen, ob ein Bescheid rechtswidrig ergangen sei. Dann müsse dies erst recht für den Fall gelten, in dem noch nicht mal ein rechtswidriger Bescheid erlassen wurde.
Im Parallelverfahren erließ die Beklagte ebenfalls am 23.05.2012 einen Widerspruchsbescheid, mit dem sie den Widerspruch auch gegen die Ablehnung der Anerkennung einer BK nach Nr. 4101/4102 zurückwies. Die Voraussetzungen hierfür lägen nicht vor, weil Streuung und Ausdehnung der beim Kläger festgestellten Veränderungen das Ausmaß 1/1 der internationalen Staublungenklassifikation (ILO) 2000 nicht erreichen würden. Die hiergegen erhobene Klage wurde vom Kläger später zurückgenommen.
Mit der am 20.06.2012 erhobenen Klage konzentriert der Kläger sich ausschließlich auf die Anerkennung einer chronischen Bronchitis und wendet sich gegen die Ablehnung der Anerkennung einer BK nach Nr. 4111 der Anlage 1 zu BKV. Er behauptet, dass die Beklagte durch eine entsprechende Anzeige des Hausarztes XXX vom 23.11.2009 vor Beginn des Jahres 2010 noch einmal an die Beschwerden des Klägers erinnert wurde. Er ist zudem der Ansicht, dass das Vorliegen einer chronischen Bronchitis der Beklagten schon mit dem Gutachten von XXX vom 22.01.1985 bekannt geworden sei. Auch komme es, was die Beklagte verkenne, im Rahmen des § 6 Abs. 3 S. 2 BKV nicht auf die positive Kenntnis im Sinne einer jederzeitigen Abrufbarkeit an. Vielmehr spreche der Wortlaut der Vorschrift ("bekannt geworden ist") dafür, dass die Behörde lediglich in der Lage sein müsste, ihr Wissen durch Akteneinsicht zu aktualisieren. Da sich in den Akten der Beklagten das Gutachten des XXX seit 1985 befand, sei ihr das Vorliegen einer chronischen Bronchitis seit diesem Jahr auch bekannt gewesen. Im Übrigen vertritt der Kläger die bereits im entsprechenden Widerspruchsverfahren vorgebrachten Ansichten.
Er beantragt, unter Aufhebung des Bescheids vom 27.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.05.2012 festzustellen, dass bei ihm eine Berufskrankheit nach Nr. 4111 der Anlage 1 zur BKV vorliegt.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie bestreitet, die Verdachtsanzeige von XXX im Jahre 2009 erhalten zu haben. Sie ist der Auffassung, dass ihr eine der Nr. 4111 unterfallende Erkrankung des Klägers nicht vor 2010 bekannt gewesen sei, so dass die Stichtagsregelung des § 6 Abs. 3 S. 2 BKV zur Anwendung komme. Die Lungenerkrankung des Klägers sei zwar seit 1985 aktenkundig gewesen. Eine der Beklagten zurechenbare Kenntnis ergebe sich hieraus aber nicht. Denn ein "Aktenwissen" stelle unter Verweisung auf ein Urteil des OLG Hamm vom 07.07.1995 (20 U 378/94) keine positive Kenntnis im Sinne einer tatsächlichen Kenntnisnahme dar und könne, wenn überhaupt, dieser nur dann gleichstehen, wenn die betroffenen Daten jederzeit abgerufen werden könnten. Das maßgebliche Gutachten vom 22.01.1985 sei aber gerade nicht jederzeit abrufbar gewesen, da zu jenem Zeitpunkt lediglich der "Silikose-Ablehnungsbescheid" sowie die Klagerücknahme dokumentiert gewesen seien. Es sei der Beklagten aufgrund der Vielzahl der Fälle nicht zuzumuten, alle vor 2010 abgelehnten "Silikose-Fälle" nach möglichen Hinweisen auf das Vorliegen einer BK nach Nr. 4111 zu überprüfen. Der Amtsermittlungspflicht sei nach der Rechtsprechung des BSG nur in den Grenzen der verwaltungstechnischen Möglichkeiten der Behörde nachzukommen. Eine für die zurechenbare Kenntnis erforderliche Verpflichtung der Behörde, ggf. jahrzehntealte Akten nach einschlägigen Hinweisen durchzusehen, bestehe nach der Rechtsprechung nicht. Zu Lasten des Klägers müsse sich zudem auswirken, dass er anders als viele andere Betroffene trotz "ausführliche[r] Berichterstattung in den Medien zur rückwirkenden Anerkennung einer BK 4111" nicht rechtzeitig einen Antrag gestellt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage ist zulässig.
Die auf die Feststellung einer BK gerichtete Feststellungsklage ist zulässig. Es liegt kein Verstoß gegen den Subsidiaritätsgrundsatz vor, der auch im Sozialrecht Geltung hat (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer "SGG", 10. Auflage, § 55 Rdnr. 19). Bei Feststellungsklagen gegen juristische Personen des öffentlichen Rechts besteht die Subsidiarität der Feststellungsklage nicht uneingeschränkt, da bei der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz davon ausgegangen werden kann, dass die Behörde die leistungsrechtlichen Folgen eines ausgeurteilten Rechtsverhältnisses entsprechend umsetzen wird (Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., Rdnr. 19c). Zudem ist zu berücksichtigen, dass die isolierte Entscheidung über das Vorliegen einer BK im Interesse des Klägers liegt, da sich dieser etwaigen weiteren Ermittlungen zur Höhe der Leistung – insbesondere Begutachtungen – nicht stellen muss, solange nicht der rechtliche Zugang zur BK geklärt ist.
Es liegt auch kein Fall einer unzulässigen Elementenfeststellung – also der Feststellung von Rechtsfragen, Vorfragen, Tatfragen, Verwaltungsgepflogenheiten, Eigenschaften von Personen und Sachen (Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., Rdnr. 9) – vor. Die Möglichkeit der Entscheidung über das Vorliegen einer Berufskrankheit ist gesetzlich geregelt, § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG.
Die Klage ist auch begründet.
Der Kläger ist im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert, da der Bescheid vom 27.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.05.2012 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.
Bei dem Kläger liegt eine Berufskrankheit im Sinne des § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII i.V.m. Nr. 4111 der Anlage 1 zur BKV vor.
Nr. 4111 setzt eine chronische obstruktive Bronchitis oder ein Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m³) x Jahre] voraus. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Art, Dauer und Stärke der tätigkeitsbezogenen schädigenden Einwirkung und das Vorliegen der (Listen-)Erkrankung voll bewiesen sein – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Für die Kausalität zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung reicht die Wahrscheinlichkeit (Bereiter-Hahn/Mehrtens in "Gesetzliche Unfallversicherung", § 9 Rdnr. 3.2). Für eine wahrscheinliche Kausalität ist eine hinreichende (langjährige) Exposition sowie ein kongruenter Krankheitsverlauf bei zurücktretenden außerberuflichen Einflussfaktoren nachzuweisen.
Die Zahl der Feinstaubjahre liegt nach der Berechnung der Beklagten – die für die Kammer nicht bindend aber überzeugend sind – bei 235,58 und überschreitet die regelmäßige Mindestzahl von 100 deutlich.
Auch die medizinischen Voraussetzungen der BK liegen vor. Der Kläger leidet seit Mitte der 80er Jahre an einer chronischen Bronchitis mit obstruktiven Verteilungsstörungen. Zu dieser Auffassung gelangen für die Kammer überzeugend sowohl die behandelnden Ärzte (Bericht der radiologischen Gemeinschaftspraxis XXX u.a., XXX vom 19.06.2009) als auch sozialmedizinische Stellen (Bericht der Knappschaftskurklinik Bad Driburg vom 21.09.1984, Gutachten von XXX vom 22.01.1985, Gutachten XXX vom 12.12.2011).
Die Erkrankung ist auch mit der erforderlichen Sicherheit auf die berufliche (Staub-)Einwirkung zurückzuführen.
Die Kammer schließt sich den insoweit überzeugenden Ausführungen des erfahrenen Gutachters der Beklagten, XXX, an, dessen Einschätzungen im gerichtlichen Verfahren im Wege des Urkundsbeweises nach §§ 128, 118 SGG i. V. m. §§ 415 bis 444 Zivilprozessordnung (ZPO) berücksichtigt werden können. Die Ausführungen des Mediziners lassen Unrichtigkeiten oder Fehlschlüsse nicht erkennen. Sie sind erkennbar nach einer umfassenden Untersuchung des Klägers und in Kenntnis der Akten auf der Grundlage der heutigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft erstattet worden und haben sich mit den erhobenen Befunden, mit den aktenkundigen Befunden und dem Vorbringen der Beteiligten differenziert auseinandergesetzt.
Auf die Darstellungen in dem – von den Beteiligten nicht angegriffenen – Gutachten wird verwiesen.
Die Möglichkeit der Anerkennung der BK ist auch nicht wegen § 6 Abs. 3 BKV ausgeschlossen.
Nach § 6 Abs. 3 Satz 1 BKV ist der Antrag eines Versicherten, der am 01.12.1997 an einer Krankheit nach Nr. 4111 der Anlage 1 leidet, anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.12.1992 eingetreten ist. Abweichend von Satz 1 ist nach Satz 2 eine Erkrankung nach Nr. 4111 der Anlage 1 auch dann als BK anzuerkennen, wenn die Erkrankung bereits vor dem 01.01.1993 eingetreten und dem Unfallversicherungsträger bis zum 31.12.2009 bekannt geworden ist.
Zwar ist die Erkrankung schon vor dem 01.01.1993 eingetreten, so dass die Voraussetzung der Stichtagsregelung im Satz 1 greift. Allerdings liegen auch die Voraussetzungen der Regelung im Satz 2 vor. Der Beklagten ist bereits vor dem 31.12.2009 die Erkrankung im Sinne der Nr. 4111 bekannt geworden, da die chronische obstruktive Bronchitis des Klägers im Kurentlassungsbericht vom 21.09.1984, im sozialgerichtlichen Gutachten vom 22.01.1985 und auch im Radiologiebericht vom 19.06.2009 dargestellt wurde, welche sich alle zum Ablehnungszeitpunkt in den Akten der Beklagten befanden. Dieses in den Akten Befinden reicht für eine Kenntnis nach § 6 Abs. 3 Satz 2 BKV aus.
Schon der Wortlaut des § 6 Abs. 3 Satz 2 BKV spricht bei einer möglichen Mehrdeutigkeit für eine Auslegung in dem Sinne, dass mit "bekannt geworden" alles das gemeint ist, was der Behörde insgesamt bekannt ist, sich also zumindest in ihren Akten befindet. Es ist erkennbar, dass der Verordnungsgeber es ausreichen lassen will, wenn dem Versicherungsträger die Krankheit (irgendwann einmal) bekannt geworden ist; von einem (aktuellen) Bekanntsein – im Sinne eines präsenten Wissens – spricht die Norm nicht. Es entspricht der Formulierung auch nicht auf ein konkretes Wissen des jeweiligen Sachbearbeiters abzustellen, sondern vielmehr auf die Möglichkeit des Entscheidungsträgers, sich die Kenntnis durch interne Maßnahmen, z.B. durch Aktenbeiziehung, zu verschaffen. Das Beiziehen und Auswerten von (insbesondere auch von verwaltungsrechtlich erledigten bzw. abgeschlossenen) Akten ist eine gängige Maßnahme in der Bearbeitung aktueller Verwaltungsverfahren und stellt eine der Behörde im Entscheidungsprozess zumutbare und erforderliche Handlung dar. Dieses Vorgehen entspricht dem (naturgemäßen) Umstand, dass der Versicherungsträger keine (natürliche) Einzelperson sondern eine juristische Person ist, die durch verschiedene natürliche Personen handelt. Es kann mithin nicht auf die konkrete Kenntnis einer natürlichen Person abgestellt werden. Die Beklagte hatte die alten Akten auch beigezogen, ausgewertet und ihrem Gutachter zur Berücksichtigung zugeleitet.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Verordnungsgeber nicht – wie in anderen Vorschriften – die Begriffe des Wissens (z.B. § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X) oder der Kenntnis (z.B. § 45 SGB X) verwendete. Daran ist zu erkennen, dass eine Anknüpfung an die entsprechende Dogmatik und umfangreiche Rechtsprechung nicht beabsichtigt war. Anders als bei der Abgrenzung im Rahmen der §§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 und 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X, wo es um eine Verschuldensabwägung sowie die Verteilung der finanziellen Risiken in dem Bereich geht und die Versicherungsträger im Rahmen der Massenverwaltung nur eingeschränkte Pflichten auferlegt werden können (vgl. LSG NRW, Urteil vom 04.07.2007, AZ.: L 12 AL 105/06; wobei schon hier die massenhafte Betreibung von Verwaltungsverfahren nicht zu einer Aufhebung aller Verantwortung führt: BSG, Urteil vom 19.03.1981, AZ.: 4 RJ 1/81, BSG, Urteil vom 02.03.1989, AZ.: 9a RV 32/82), geht es hier nicht direkt um eine Verschuldensverteilung, so dass die Dogmatik der genannten Vorschriften auch aus diesem Grund nicht übernommen werden kann.
Der Verordnungsgeber hat auch eindeutig keinen konkreten Antrag in Bezug auf die BK 4111 als erforderlich angesehen. Er hätte auch im Satz 2 wie im Satz 1 des § 6 BKV regeln können, dass bis zum 31.12.2009 ein Antrag auf die BK 4111 gestellt worden sein muss. Dies hat er nicht getan. Anhaltspunkte dafür, dass dies ein redaktionelles Versehen ist, bestehen nicht. Es ist daher auch nicht aus der Vorschrift ablesbar, dass bei der Beklagten vor dem 31.12.2009 bereits ein konkretes Verwaltungsverfahren in Bezug auf die konkrete Erkrankung der BK 4111 bei dem Versicherungsträger bestanden haben muss.
Auch die Entstehung der Norm spricht gegen eine enge Auslegung. Der Satz 2 des Absatzes 3 wurde im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2009 Teil I Nr. 30 am 17. Juni 2009 bekannt gegeben und trat zum 01.07.2009 in Kraft. Damit hätten Personen, die schon vor dem 01.01.1993 an der Erkrankung litten und bis dato noch keinen Antrag gestellt hatten nur ein Zeitfenster von einem guten halben Jahr gehabt, um einen Antrag auf Anerkennung der BK zu stellen. Für die Sichtweise, dass nur einem engen Personenkreis der Zugang zur Anerkennung ermöglicht werden sollte, spricht nichts. Es ist zwar davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber mit der Regelung in § 6 Abs. 2 (Satz 1) BKV davon ausgegangen war, eine ausgewogene und sachgerechte Lösung gefunden zu haben, die die Interessen der Versicherten, der Unternehmer und der Unfallversicherungsträger berücksichtigt (Auskunft des BMA vom 18.05.1999 zu Frage B 7 – zitiert nach BSG, Urteil vom 30.09.1999, AZ.: B 8 KN 4/98 U R). Gleichwohl ist die Bundesregierung später zu einer anderen Auffassung gekommen und hat – die Interessen der Betroffenen stärker berücksichtigend – die Regelung abgemildert. Eine Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten ist der Neufassung damit immanent und ausdrücklich gewollt. Es ist so, dass die bis dahin geltende Regelung des § 6 Abs. 3 Satz 1 BKV als zu limitierend angesehen wurde, weil sich der Anwendungsbereich der BK wegen der verbesserten Arbeitsschutzbedingungen und den deswegen abnehmenden Expositionen eh fast ausschließlich in die Vergangenheit erstreckte (vgl. Begründung der Verordnungsänderung nach Bundesrats-Drucksache 242/09). Diesen Kreis also nicht zu eng zu ziehen, sondern auf eine Schutzwürdigkeit der Antragsteller abzustellen, entspricht dem Regelungsgehalt.
Auch der für die Kammer erkennbare Sinn und Zweck spricht für eine Kenntnis der Beklagten von der Erkrankung vor dem 31.12.2009. Es ist nicht zu erkennen, dass Versicherte, bei denen in der Vergangenheit im Rahmen von Verwaltungsverfahren Erkrankungen ermittelt wurden, weniger schutzwürdig wären als Personen, die sich konkret mit einem Antrag auf Feststellung der BK 4111 gewandt haben. Bei den Betroffenen musste sich vielmehr – zutreffend – die Sichtweise einstellen, dass sie alles Notwendige getan haben, wenn nur alle Umstände aktenkundig geworden sind. Denn die Anforderungen an das, was vom Versicherten in Bezug auf die selbstständige sozialrechtliche Einordnung seiner Krankheit verlangt werden kann, dürfen nicht überspannt werden. Wer sich wegen seiner Atembeschwerden um die Anerkennung einer BK bemüht hat, ist nämlich eher mit einer Person vergleichbar, die sich um die Anerkennung einer ganz bestimmten BK bemüht hat, als mit einer Person, die noch gar nicht in dieser Hinsicht tätig geworden ist. Und auch bei einer Massenverwaltung müssen die Betroffenen davon ausgehen können, dass die Versicherungsträger die beigezogenen Unterlagen auch aus älteren Verfahren beiziehen, diese auswerten und bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. Dies hatte die Beklagte auch gemacht.
Es geht auch nicht – anders als die Beklagte meint – um eine Abwägung der Zumutbarkeit von Auswertung alter Akten und die Eröffnungen von Verfahren. Der Beklagten ist kein Vorwurf zu machen, weil sie alte Akten nicht nach Anhaltspunkten auf eine Erkrankung im Sinne der BK 4111 durchsuchte. Sie hatte keine entsprechenden konkreten Hinweis- oder Aufklärungspflichten oder die Einleitung von Verfahren nach § 44 SGB X zur Überprüfung bisheriger Ablehnungen (BSG, Urteil vom 26.01.1988, AZ.: 2 RU 5/87). Dieser Umstand bedeutet aber nicht automatisch auch, dass der Beklagten – bei entsprechendem Akteninhalt in abgeschlossenen Verfahren – bestimmte Umstände nicht bekannt geworden sind im Sinne des § 6 Abs. 3 Satz 2 BKV.
Der Vortrag der Beklagten, dass der Kläger in der Zeit von 1984 bis 2010 keinen Antrag bei der Beklagten gestellt habe, führt zu keiner anderen Sichtweise. Es ist zu berücksichtigen, dass Betroffene zutreffend davon ausgehen können, dass Umstände, die der Beklagten bekannt sind, nicht ständig neu vorgebracht werden müssen. Immerhin würde eine entsprechende Unsicherheit bei den Betroffenen dazu führen, dass sie – bei der Komplexität des sich ständig ändernden Sozialrechts – vorsorglich in kurzen (z.B. Monats-)Abständen zur eigenen Absicherung Anträge an die entsprechenden Leistungsträger stellen müssten. Dies kann weder vom Verordnungsgeber noch von den Leistungsträgern so gewollt sein. Verwaltungsrechtliche Hürden (z.B. in Abstandsfristen zwischen Ablehnung und Neuantrag), die ein fortgesetztes Antragstellen durch Versicherte ausschließen könnte, bestehen nicht.
Die Beklagte kann sich ebenfalls nicht darauf berufen, dass sich ihre Dokumentationspflicht lediglich auf das damalige Widerspruchsverfahren und die Klagerücknahme im Rahmen des die BKen nach Nr. 4101/4102 betreffenden Verfahrens bezog. Ob diese Rechtsansicht bezüglich der Dokumentationspflicht tatsächlich zutreffend ist, kann dahinstehen, da es nicht darauf ankommt, welche Unterlagen aufbewahrt werden mussten, sondern welche tatsächlich aufbewahrt worden sind. Eine Trennung dieser Unterlagen war überdies auch gar nicht möglich, da es dasselbe Gutachten des Dr. Prager unter Auswertung und Hinweis auf die genannten älteren Berichte in der Akte war, welches die Entscheidung bezüglich der BK nach Nr. 4101/4102 begründete und zudem die Feststellung einer chronischen Bronchitis beinhaltete.
Auch der Hinweis der Beklagten auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) BGH NJW 1999, 3777 führt zu keinem anderen Ergebnis (BGH, Urteil vom 01.10.1999, AZ.: V ZR 218/98 = NJW 1999, 3777). In diesem Urteil geht es um die Frage des arglistigen Verschweigens eines Mangels im Sinne des § 463 Satz 2 BGB a.F. durch eine Behörde im Rahmen eines Kaufvertrags. Das bloße Vorhandensein von Unterlagen in den Akten soll noch kein arglistiges Verschweigen begründen können, wenn der handelnde Sachbearbeiter keine aktualisierte Kenntnis dieses Umstandes hatte. Bei der Fristenregelung des § 6 Abs. 3 Satz 2 BKV geht es jedoch weder um den Vorwurf der Arglist, noch um ein sonstiges Verschulden, sondern um eine bloße Risiko- bzw. Kostenverteilung. Überdies spricht das von der Beklagten vorgebrachte Zitat aus dem Urteil auch gar nicht gegen die hier angestellten Erwägungen. Denn aus § 6 Abs. 3 Satz 2 BKV folgt ebenso wenig wie aus § 463 Satz BGB a.F. die Verpflichtung für eine Behörde, "ggf. Jahrzehnte alte Akten nach einschlägigen Hinweisen durchzusehen".
Wieder einen anderen Fall betrifft das von der Beklagten angeführte Urteil des Oberlandesgericht (OLG) Hamm (Urteil vom 07.07.1995, AZ.: 20 U 378/94 = NJW-RR 1996, 406). Dort hatte das Gericht entschieden, dass eine Behörde auch dann arglistig getäuscht werden kann, wenn ein Antragssteller in einem ersten, abgelehnten, Antrag, die notwendigen Informationen angegeben hatte und dieselben in einem zweiten Antrag bewusst verschwieg. Maßgeblich sollte hiernach sein, ob der Sachbearbeiter, der den zweiten Antrag bearbeitete, von dem ersten Antrag wusste. Die Frage, ob eine Behörde getäuscht werden kann, ist jedoch vom hier zu entscheidenden Fall zu unterscheiden. Denn durch die Täuschung wird die Behörde zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen veranlasst, indem bei dem zuständigen Sachbearbeiter eine entsprechende Fehlvorstellung von der Sachlage hervorgerufen wird. Dass ein anderer Sachbearbeiter den Sachverhalt möglicherweise kennt, der aber mit der Angelegenheit nicht (mehr) befasst ist, soll den Anfechtungsgegner nicht entlasten können. Im Rahmen des § 6 Abs. 3 Satz 2 BKV besteht eine entsprechende Schutzbedürftigkeit der Beklagten jedoch gerade nicht. Denn diese Vorschrift dient im Unterschied zum Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung nicht dem Schutz eines Leistungsträgers davor, Leistungen zu gewähren, die dem Empfänger in Wahrheit nicht zustehen, sondern soll lediglich eine sachgerechte Verteilung von Risiko und Kosten zwischen Versichertem und Leistungsträger bewirken.
Nach Auffassung der Kammer stellt die vorgenommene Auslegung auch eine angemessene Abwägung der verschiedenen Interessen dar. So hat der Betroffene bei einem entsprechenden Akteninhalt einen grundsätzlichen Anspruch auf die Anerkennung der Berufskrankheit – ist mithin bei berufsbedingter Erkrankung nicht vollständig von Leistungen ausgeschlossen – hat aber, unter Anwendung der allgemeinen Leistungsvorschriften, möglicherweise nur einen eingeschränkten Zahlungsanspruch in die Vergangenheit (§ 45 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I).
Die Frage einer möglichen Verfassungswidrigkeit stellt sich bei der aufgezeigten Auslegung der Norm in diesem Fall nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Erstellt am: 17.07.2014
Zuletzt verändert am: 17.07.2014