Der Bescheid vom 06.09.2010 in der Fassung des Abhilfebescheides vom 10.11.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2010 wird aufgehoben, soweit der Grad der Behinderung von 100 herabgesetzt und das Merkzeichen Gl für Gehörlose entzogen wird. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Kläger über den 10.12.2010 hinaus ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs für Gehörlose (Merkzeichen "Gl") vorliegen.
Der am 08.03.1990 geborene Kläger ist mit elf Jahren aus Mazedonien in die BRD eingereist. Er lebt seit der Einreise bei Pflegeeltern. Sprechen hat der Kläger erst in Deutschland gelernt, da er in seinem Heimatland – mangels einer hörprothetischen Versorgung – als taub galt. Beschult wurde der Kläger in Schwerhörigeneinrichtungen. Der angestrebte Hauptschulabschluss konnte allerdings nicht erreicht werden. Der Kläger befindet sich in geförderten Berufsvorbereitungsmaßnahmen.
Mit Bescheid vom 03.09.2002 stellte das damals zuständige Versorgungsamt Dortmund bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" (erheblich gehbehindert), "B" (Begleitung), "H" (hilflos), RF (Rundfunkbefreiung) und "Gl" fest. Diesen Feststellungen lagen ein HNO-ärztliches Gutachten von XXX vom 29.10.2001, sowie eine versorgungsärztliche Stellungnahme von XXX zu Grunde. XXX beurteilte eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit einem damaligen völligen sprachlichen Unvermögen, die der Arzt mit einem GdB von 80 bewertete. Diese Einschätzung wurde von XXX zu einem GdB von 100 abgeändert. Zudem schlug er die anerkannten vor.
Nachdem dem Kläger im Jahr 2007 von der Vorgängerin der Beklagten die Merkzeichen "G" und "B" entzogen worden waren, initiierte die nunmehr zuständige Beklagte im Mai 2010 ein Überprüfungsverfahren. Nach dem Beiziehen von medizinischen Berichten kam der Allgemeinmediziner XXX in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger eine angeborene Hörminderung mit Sprachstörung vorliege, die mit einem GdB von 60 einzuschätzen sei. Dem Kläger stünde zwar noch das Merkzeichen für eine Rundfunkbefreiung zu, aber nicht mehr die für Hilfebedürftige ("H") und Gehörlose. Nach einer Anhörung setzte die Beklagte mit Bescheid vom 06.09.2010 den GdB auf 60 herab und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Merkzeichen "H" und "Gl" nicht mehr vorlägen.
Auf den eingelegten Widerspruch holte die Beklagte einen Befundbericht bei dem behandelnden HNO-Arzt XXX (Bochum) vom 14.10.2010 ein und legte ihn der Beratungsärztin XXX vor. Diese beurteilte, dass die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits mit Sprachstörungen mit einem GdB von 80 einzuschätzen sei. Diese medizinische Stellungnahme umsetzend erließ die Beklagte den Abhilfebescheid vom 10.11.2010, mit dem sie die Herabsetzung des GdB auf 80 reduzierte. Mit Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010 wies die Bezirksregierung Münster – als zuständige Widerspruchsbehörde – den Widerspruch im Übrigen zurück.
Am 11.01.2011 hat der Kläger Klage erhoben mit welcher er das Begehren aus dem Vorverfahren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt, den Bescheid vom 06.09.2010 in der Fassung des Abhilfebescheides vom 10.11.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2010 aufzuheben soweit der Grad der Behinderung von 100 herabgesetzt und das Merkzeichen "Gl" für Gehörlose entzogen wird.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verweist auf die Begründungen der angefochtenen Entscheidungen sowie auf die Ausführungen ihrer ärztlicher Berater.
Das Gericht hat von Amts wegen Beweis erhoben durch die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens und einer ergänzenden Stellungnahme von dem HNO-Arzt PD. XXX, Leitender Oberarzt der HNO-Klinik, Klinikum Dortmund.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger ist im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Der angefochtene Bescheid vom 06.09.2010 in der Fassung des Abhilfebescheides vom 10.11.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2010 im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat auch über den 10.12.2010 hinaus einen Anspruch auf die Feststellung eines Grad der Behinderung (GdB) von 100 und der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs für Gehörlose (Merkzeichen "Gl").
Die Rechtswidrigkeit der Regelung in dem Bescheid vom 06.09.2010 in der Fassung des Abhilfebescheides vom 10.11.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2010 ergibt sich nach Auffassung der Kammer nicht schon allein daraus, dass hier der maßgebliche Vergleichsbescheid vom 03.09.2002 nicht genannt bzw. aufgehoben, sondern vielmehr der (in Bezug auf die Höhe des GdB 100 und das Merkzeichen "Gl") nicht regelnde Verwaltungsakt vom 08.08.2007 genannt wurde. Der aufgeführte und entsprechend aufgehobene Verwaltungsakt vom 08.08.2007 bestätigte hingegen nur den GdB von 100 und stellt damit diesbezüglich nur eine unerhebliche Wiederholung der Verfügungssätze dar, die keine eigene Regelung beinhaltet (Engelmann in von Wulfen "SGB X", 7. Auflage, § 31 Rdnr. 32). Bei der Nennung des falschen Vergleichsbescheides handelt es sich um eine offensichtliche Unrichtigkeit, die nicht zur Rechtswidrigkeit führt (Engelmann a.a.O., § 38 Rdnr. 3).
Die Rechtswidrigkeit liegt vielmehr in der materiellen Regelung des mit der Klage angegriffenen Bescheides. Die Beklagte durfte den Vergleichsbescheid vom 03.09.2002 nicht entsprechend mit dem Bescheid vom 06.09.2010 in der Fassung des Abhilfebescheides vom 10.11.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2010 aufheben, da keine wesentliche Änderung eingetreten war.
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) ist die in dem bestandskräftig gewordenen Ausgangsbescheid enthaltene Feststellung des GdB mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben und durch die zutreffende Bewertung nach § 69 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) zu ersetzen, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Ausgangsbescheides vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Nach einer Bestimmung des Gesamt-GdBs besteht eine wesentliche Änderung nur dann vor, wenn bei einem Vergleich des bestandskräftig festgestellten Gesamt-GdB mit einem aktuellen Gesamt-GdB eine Abweichung von mindestens 10 besteht (Gregarek in Jahn, SGB, § 48 SGB X Rdnr. 22).
Für diese nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nunmehr durchzuführende Feststellung des Vorliegens von Behinderungen und des GdB gelten folgende Maßstäbe:
Menschen gelten gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX als behindert, wenn ihre körperlichen Funktionen, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Die Auswirkungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt, § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX. Für den GdB gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgelegten Maßstäbe entsprechend, § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX. Zur Bewertung der einzelnen Gesundheitsstörungen und des Gesamt-Grades der Behinderung (Gesamt-GdB) waren bis zum 31.12.2008 die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) in der jeweiligen Fassung – zuletzt die AHP 2008 – zu Grunde zu legen. Ab dem 01.01.2009 ist nunmehr die Verordnung zur Durchführung des § 1 und 3 des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des BVG und die in der Anlage enthaltenen versorgungsmedizinischen Grundsätze (VmG) – in der jeweiligen Fassung – in Kraft, welche die AHP ersetzen aber die Regelungen in wesentlichen Teilen übernehmen. Bei den AHP handelte es sich um antizipierte Sachverständigengutachten. Ihre Beachtlichkeit im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ergab sich nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) daraus, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Rechtsanwendung nur dann gewährleistet sei, wenn die verschiedenen Behinderungen nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden. Hierfür stellten die AHP ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung des GdB dar. Sie gewährten so eine gleichmäßige Beurteilung alle Behinderten (vgl. BSG; Urteil vom 18.09.2003. AZ.: B 9 SB 3/02 m. w. N.) Der ständigen Kritik der fehlenden gesetzlichen und damit demokratischen Legitimation ist nunmehr mit der neu erlassenen Verordnung und den VmG abgeholfen (vgl. zur Kritik an der Grundlage der AHP das BSG, Urteil vom 11.10.1994, AZ.: 9 RVs 1/93 m. w. N.).
Die einzelnen Beeinträchtigungen werden in einem ersten Schritt mit Funktions-GdBs nach den Beurteilungskriterien der AHP bzw. dem Teil B der VmG eingeschätzt. Dann werden diese GdB-Werte für die Funktionsbereiche nach Nr. 2 Buchstabe e des Teils A der VmG zu den sogenannten Einzel-GdBs zusammengezogen. Dabei gelten die Grundsätze für die Bildung des Gesamt-GdBs unter Nr. 3 des Teils A der VmG (siehe unten). Erst in einem dritten Schritt wird der maßgebliche Gesamt-GdB aus den Einzel-GdBs gebildet.
Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB dürfen die Einzel-GdB-Werte für die Auswirkungen der Teilhabedefizite in den einzelnen Funktionsbereichen nicht einfach addiert werden (Schell in Jahn, SGB, § 69 SGB IX Rdnr. 12). Auch andere rein rechnerische Methoden sind nicht zulässig (Masuch in Hauck/Noftz, SGB IX, Band 2, § 69 Rdnr. 30). Maßgeblich sind vielmehr die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Dabei ist zu beachten, inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen können ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Es ist im Rahmen einer Gesamtschau eine Berücksichtigung der wechselnden Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen vorzunehmen (als Beispiel für die ständige Rechtsprechung: BSG, Urteil vom 24.04.2008, AZ.: B 9/9a SB 6/06 R). Dabei ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB weitere 10er-Stufen hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte (BSG, Urteil vom 13.12.2000, AZ.: B 9 V 8/00 R = SozR 3-3870, § 4 Nr. 28; Neumann in Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 10. Auflage, § 69 Rdnr. 31). Eine Erhöhung geschieht i. d. R. auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (BSG, a. a. O.; Straßfeld in "Kriterien für die Bildung des Gesamt-GdB", Die Versorgungsverwaltung, Nr. 5/2001, S. 62). Auch bei leichteren Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (für die Beachtlichkeit von geringen Einzel-GdBen vgl. AHP 2008, Kapitel 19, S. 24 ff. bzw. Nr. 3 des Teils A der VmG sowie LSG NRW, Urteil vom 18.05.2004, AZ.: L 6 SB 130/03).
Nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme ist die Kammer unter Beachtung der oben aufgeführten Bewertungsmaßstäbe zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Kläger am 10.12.2010 eine wesentliche Änderung in Bezug auf die mit Bescheid vom 03.09.2002 festgestellten Gesamt-GdB 100 nicht gekommen ist.
Die Kammer schließt sich insoweit hinsichtlich der Höhe des Gesamt-GdB nach eigener Prüfung den im Wesentlichen überzeugenden Ausführungen der erfahrenen gerichtlichen Sachverständigen nach § 106 SGG XXX an. Die Darstellungen des gerichtlichen Gutachters lassen Unrichtigkeiten oder Fehlschlüsse nicht erkennen. Sie sind erkennbar auf der Grundlage der heutigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft erstattet worden und haben sich mit den erhobenen Befunden, den aktenkundigen Befunden und dem Vorbringen der Beteiligten differenziert auseinander gesetzt. Bei der Beurteilung der Höhe des GdB wendet die Kammer die VmG in der Fassung zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung vom 14.07.2010 (Zweite Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung) an.
Bei dem Kläger liegt auch über den 10.12.2010 hinaus ein GdB von 100 vor. Nach Nr. 5.1 des Teils B der VmG ist bei einer angeborenen oder in der Kindheit bis zum 7. Lebensjahr erworbenen Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit mit Sprachstörungen mit einer schweren Störung des Spracherwerbs in der Regel lebenslang ein GdB von 100 festzustellen. Dieser Fall liegt hier vor.
Bei dem Kläger besteht nach Auswertung des im Rahmen der gerichtlichen Begutachtung gefertigten Sprachaudiogramms ein beidseitiger prozentualer Hörverlust nach Nr. 5.2.1 des Teils B der VmG von 95 % und damit nach Nr. 5.2.4 des Teils B der VmG eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit, wobei zu beachten ist, dass diese Werte bereits am oberen Rand dieser Einschätzungsrubrik und damit an der Grenze zur Taubheit stehen. Wobei die Taubheit nur bei einem 100 % Hörverlust angenommen werden kann und die VmG offen lässt, was in dem Bereich eines Hörverlusts von 96 bis 99 % gelten soll. Damit hat sich an der Hörfähigkeit des Klägers seit der Erstfeststellung des GdB von 100 mit Bescheid vom 03.09.2002 nichts geändert.
Bei dem Kläger liegt aber auch keine wesentliche Änderung in Hinsicht auf seine Sprachkompetenz vor. Bei dem Kläger bestand eine prälinguale Hörminderung, die eine primäre Sprachentwicklung verhinderte und eine solche erst nach Versorgung mit Hörgeräten zuließ. Noch bei der Begutachtung bestand eine rezeptive Sprachstörung neben einer expressiven Sprach- und Artikulationsstörung, ein Dysgrammatismus und ein verminderter Wortschatz. Es liegt eine wesentliche Teilhabebeeinträchtigung vor, die durch die prälinguale Hörstörung verursacht wurde (vgl. BSG, Urteil vom 23.06.1993, AZ.: 9/9a RVs 1/91).
Die vom Kläger seit der Hörgeräteversorgung eingetretene Verbesserung der Sprachkompetenz reicht nicht aus, eine wesentliche Änderung zu bedingen. Nach einer Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 22.08.1986, die die Kammer nicht bindet aber ein geeignetes Mittel ist, die Gleichbehandlung aller Betroffenen zu gewährleisten, dürfen Gutachter nur nach sehr genauer Prüfung den anfangs auf 100 festgesetzten GdB herabsetzen. In dieser Niederschrift werden zwei Fälle dargestellt, die in den konkreten Einzelfällen zu einer solchen Herabsetzung führen können:
Besuch einer Regelschule – insbesondere eines Gymnasiums aber mit Abbruch vor dem Abitur – trotz an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit seit dem zweiten Lebensjahr bei überdurchschnittlicher Intelligenz, einer gut verständlichen Sprache mit annähernd normal Wortschatz und der Erlernung von zwei Fremdsprachen aufgrund von guter elterlicher Förderung, Besuch der Regelschule trotz an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit mit verspäteter aber guter Sprachentwicklung.
Mit diesen Fällen ist der Kläger nicht vergleichbar. Er hat keine Regelschule besucht bzw. keine Abschlüsse auf solchen Schulen erlangt. Zwar hat sich die Sprachkompetenz positiv entwickelt. Es liegt aber keine gute Sprachfähigkeit vor. Vielmehr bestehen noch heute deutliche Abweichungen zu einer normalen Sprachkompetenz, wovon sich sowohl der gerichtliche Sachverständige im Rahmen der Begutachtung als auch die Kammer in einem Erörterungs- und einem Termin zur mündlichen Verhandlung überzeugt hat. Gesprächsinhalte konnten hier deutlich schneller unter Beteiligung des Pflegevaters und flankierender Gebärdensprache vermittelt werden. Damit liegt keine Ausnahme von dem Regelfall eines lebenslang zu gewährenden GdB 100 nach Nr. 5.1 des Teils b der VmG vor.
Die Auffassung der Beklagten, dass der GdB von 100 nach Nr. 5.1 des Teils b der VmG nur dann weiter gewährt werden kann, wenn neben einer fortbestehenden an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit auch maximal eine schwer verständliche Lautsprache erlernt wurde, vermag nicht zu überzeugen. Sie findet keine Stütze in den rechtlichen Vorgaben. Zwar bietet ein Anhaltspunkt die Regelung unter Nr. 4 des Teils D der VmG. Hiernach liegt Gehörlosigkeit auch bei Personen vor, die unter einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit leiden, wenn daneben schwere Sprachstörungen (schwer verständliche Lautsprache, geringer Wortschatz) vorliegen, wobei das in der Regel bei Hörbehinderten vorliegt, bei denen die an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit angeboren oder in der Kindheit erworben wurde. Nach diesen Regelungen ist zum einen festzustellen, dass das Regel-Ausnahme-Verhältnis vorsieht, dass bei prälingual erworbener Hörbehinderung regelmäßig von einer entsprechend schweren Störung auszugehen ist. Lediglich in atypischen Fällen ist davon abzuweichen. Ein solcher atypischer Fall liegt, wie oben aufgeführt, nicht vor. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die Regelungen für die Gehörlosigkeit nicht unmittelbar in die Bestimmungen der Nr. 5.1 des Teils A der VmG hineingezogen werden können. Es werden unterschiedliche Dinge geregelt – einerseits der GdB von 100 und andererseits sollen die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Gl" festgelegt werden.
Der Kläger hat einen Anspruch auf die Aufhebung des streitigen Bescheides in Hinsicht auf die Ablehnung des Merkzeichens "Gl", denn der Nachteilsausgleich steht ihm weiter zu.
Gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden auch das Vorliegen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen fest.
Rechtsgrundlage für die Gewährung des Merkzeichens ist nicht die Nr. 4 des Teils D der VmG. Die VmG sind bezüglich der Regelungen über die Nachteilsausgleiche unbeachtlich, da diese Inhalte von der Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt sind (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 09.02.2011, AZ.: L 8 SB 229/10).
Entscheidungsgrundlage ist vielmehr § 1 Abs. 1 Nr. 4 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV). Hiernach ist das Merkzeichen "Gl" in dem Schwerbehindertenausweis zu vermerken, wenn der schwerbehinderte Mensch gehörlos im Sinne des § 145 des SGB IX ist. § 145 SGB IX definiert allerdings den Begriff der Gehörlosigkeit nicht, sondern setzt ihn voraus. Damit ist der Begriff nach allgemeinen Grundsätzen auszulegen.
Gehörlos im Sinne dieser Vorschrift ist dem Wortlaut nach derjenige, der taub ist. Diese Wortlautgrenze ist allerdings aus systematischen und teleologischen Gesichtspunkten zu relativieren. Denn im Schwerbehindertenrecht kommt es nicht auf reine Diagnosen oder körperliche Zustände an. Vielmehr ist immer die Teilhabebeeinträchtigung der Kern des gesetzgeberischen Handelns. Dies lässt sich schon aus § 2 SGB IX ableiten: Denn behindert sind hiernach Personen, die unter anderem in der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sind. Es kommt mithin nicht allein auf eine Abweichung in der körperlichen Funktion, der geistigen Fähigkeit oder der seelischen Gesundheit an, die für länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Daher müssen aber nach diesen Gesichtspunkten auch solche Personen als gehörlos gelten, die in gleicher oder schlimmerer Weise in den Teilhaberechten beeinträchtigt sind. Wesentlicher Anhaltspunkt für eine solche gleiche oder gar schlimmere Beeinträchtigung ist ein gleicher oder sogar höherer GdB in diesem Bereich.
Der Kläger hat einen höheren GdB allein für das Gehör als ein tauber Mensch. Denn Personen, die eine Taubheit erst später im Leben erleiden, bekommen nach Nr. 5.2.4 einen GdB von 80. Der Kläger hat aber weiterhin einen GdB von 100 (vgl. oben), was für eine schwerere Beeinträchtigung spricht. Damit steht ihm auch das Merkzeichen "Gl" weiter zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Erstellt am: 29.06.2015
Zuletzt verändert am: 29.06.2015