Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 29. Juli 2005 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Abschmelzungsbescheid des Beklagten vom 21. Juli 2003 rechtmäßig ist.
Der im Dezember 1964 geborene Kläger erlitt am 09. Juni 1982 als Auszubildender im Gas- und Wasserinstallateurhandwerk auf dem Heimweg von der Berufsschule einen Verkehrsunfall und zog sich dabei einen Oberschenkelschaftbruch links sowie einen Beckenringbruch mit Harnröhrenabriss zu. Im Februar 1986 bestand der Kläger die Gesellenprüfung und im Oktober 1994 die Meisterprüfung im Gas- und Wasserinstallateurhandwerk.
Die Eigenunfallversicherung der Stadt L (EUV) gewährte ihm mit Bescheiden vom 23. Januar 1985 und 10. August 1990 ab dem 15. November 1983 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vom Hundert (v.H.), die sie später auf 30 v.H. und zuletzt mit Bescheid vom 19. Januar 1994 auf 40 v.H. erhöhte.
Im August 1995 forderte der Kläger die EUV auf, seinen Jahresarbeitsverdienst (JAV) zu überprüfen. Die EUV holte daraufhin eine Auskunft aus dem Tarifregister beim Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen vom 06. Oktober 1995 ein, wonach der Stundenlohn für Facharbeiter im 3. Berufsjahr gemäß dem Lohntarifvertrag für das Sanitär-, Installateur-, Zentralheizungs- und Lüftungsbauer-, Klempner- und Kupferschmiede-Handwerk ab dem 01. März 1989 bei einer 38,5-Stunden-Woche 15,44 DM und ab dem 01. März 1990 bei einer 37,75-Stunden-Woche 16,07 DM betragen habe. Mit Bescheid vom 07. November 1995 erhöhte die EUV den JAV ab dem 14. August 1995 (Antragsdatum) und legte dabei nach § 573 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) einen Jahresarbeitsverdienst von 37.252,32 DM zugrunde.
Nachdem der Beklagte am 01. Januar 1998 Rechtsnachfolger der EUV geworden war, stellte er im Rahmen eines Regressverfahrens Anfang 2000 fest, dass der JAV fälschlicherweise nach § 573 Abs. 2 RVO berechnet worden sei. Richtigerweise sei § 573 Abs. 1 RVO einschlägig gewesen, wonach der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet werde. Der Beklagte ermittelte über die Handwerkskammer Köln, dass der Kläger seine Ausbildung ohne den Unfall am 31. Januar 1985 abgeschlossen hätte. In diesem Zeitpunkt hätte er bei einem tariflichen Stundenlohn von 12,78 DM und einer regelmäßigen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden jährlich 22.422,40 DM erzielt (Auskunft aus dem Tarifregister des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen vom 19. März 2003). Gemeinsam mit einer Jahressonderzahlung von 560,56 DM, Urlaubsgeld von 741,41 DM und vermögenswirksamen Leistungen von 546,00 DM hätte der JAV 24.276,37 DM betragen und sich zwischenzeitlich auf 18.001,55 EUR erhöht.
Nach Anhörung erließ der Beklagte am 21. Juli 2003 einen Abschmelzungsbescheid und führte aus, dass der JAV i.H.v. 20.649,01 EUR, aus dem sich eine monatliche Rente von 458,87 EUR ergebe, zu hoch sei. Richtigerweise betrage der JAV nur 18.001,55 EUR, woraus sich eine monatlicher Rentenzahlbetrag von 400,03 EUR errechne. Da der Rentenerhöhungsbescheid vom 07. November 1995 bestandskräftig sei und nicht mehr zurückgenommen werden könne, werde der Rentenzahlbetrag von 458,87 EUR ab dem 01. August 2003 solange eingefroren, bis er durch Rentenanpassungen erreicht sei.
Dagegen erhob der Kläger am 21. August 2003 Widerspruch und behauptete, er habe nach der Gesellenprüfung den Meistertitel angestrebt, weil er unfallbedingt gar nicht in der Lage gewesen sei, als Geselle im Gas- und Wasserinstallateurshandwerk zu arbeiten. Außerdem berief er sich auf die Verjährungsvorschrift des § 45 Abs. 3 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) und machte geltend, der Beklagte habe "in Kenntnis der Nichtschuld" geleistet. Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Oktober 2004 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 05. November 2004 vor dem SG Köln Klage erhoben und vorgetragen, er könne die Berechnung des JAV nicht nachvollziehen. Der Beklagte habe die angeblichen Berechnungsfehler früher erkennen können. Der JAV dürfe nach sechs Jahren nicht mehr zu seinen Ungunsten geändert werden, weil dies gegen "Treu und Glauben" verstoße und der Beklagte die Befugnis zur Abschmelzung inzwischen verwirkt habe. Der Beklagte verkenne, dass er sich aufgrund der Unfallfolgen notgedrungen selbständig gemacht habe und sein Unternehmen nur bedingt lebensfähig sei.
Mit Urteil vom 29. Juli 2005 hat das SG die Klage abgewiesen: Der Beklagte habe den JAV sachlich und rechnerisch korrekt ermittelt. Mit der Abschmelzung räume der Gesetzgeber der materiellen Richtigkeit Vorrang vor dem Vertrauensschutz ein und verhindere, dass Unrecht weiter wachse. Dies sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger übersehe, dass der Beklagte den Bescheid vom 07. November 1995 gar nicht zurückgenommen habe, so dass auch keine Rücknahmefristen zu beachten seien. Folglich sei der Beklagte nicht gehindert gewesen, den Abschmelzungsbescheid am 21. Juli 2003 zu erteilen. Von einer unzulässigen Rechtsausübung oder Verwirkung könne keine Rede sein.
Nach Zustellung am 02. Januar 2006 hat der Kläger gegen dieses Urteil am 31. Januar 2006 Berufung eingelegt und im Wesentlichen sein erstinstanzliches Vorbringen wiederholt.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil vom 29. Juli 2005 zu ändern und den Bescheid vom 21. Juli 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2004 aufzuheben.
Der Beklagte, der dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Er meint, er dürfe einen Abschmelzungsbescheid auch dann erlassen, wenn sich die Verhältnisse noch gar nicht zugunsten des Berechtigten geändert hätten. Denn in dem Sozialrechtsverhältnis mit dem Kläger, das laufende Leistungen zum Gegenstand habe, müsse möglichst rasch geklärt werden, ob er mit weiteren Leistungserhöhungen rechnen könne oder nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte (Az: 000) Bezug genommen. Beide Akten waren Gegenstand der Beratung und Entscheidung.
Entscheidungsgründe:
Der Senat kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).
Die Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil der Bescheid vom 21. Juli 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Oktober 2004 (§ 95 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) rechtmäßig ist und den Kläger nicht beschwert (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Denn die Abschmelzung ist weder formell noch materiell zu beanstanden.
Der Beklagte war als Rechtsnachfolger der EUV für den Erlass des Abschmelzungsbescheids zuständig und hat den Kläger zuvor ordnungsgemäß angehört (§ 24 Abs. 1 SGB X). Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 3 Satz 1 SGB X, auf den der Beklagte seinen Abschmelzungsbescheid stützt, sind erfüllt. Die Vorschrift lautet: "Kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nach § 45 SGB X nicht zurückgenommen werden und ist eine Änderung nach Absatz 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen eingetreten, darf die neu festzustellende Leistung nicht über den Betrag hinausgehen, wie er sich der Höhe nach ohne Berücksichtigung der Bestandskraft ergibt."
Der (bestandskräftige) JAV-Erhöhungsbescheid vom 07. November 1995 war begünstigend (vgl. dazu die Legaldefinition in § 45 Abs. 1 SGB X), weil er die Rente des Klägers steigerte. Der Beklagte hat zutreffend festgestellt, dass dieser begünstigende Verwaltungsakt rechtwidrig war. Die EUV hatte nämlich zu Unrecht ermittelt, wie hoch der JAV eines 25-jährigen Gesellen im 3. Berufsjahr für das Jahr 1989 gewesen wäre und danach fälschlicherweise den JAV berechnet. Denn die Vorschrift des § 573 Abs. 2 RVO, die die EUV herangezogen hatte, war gar nicht anwendbar, weil der Lohntarifvertrag für das Sanitär-, Installateur-, Zentralheizungs- und Lüftungsbauer-, Klempner- und Kupferschmiedehandwerk nur Einkommenserhöhungen nach Berufsjahren und nicht nach Lebensjahren vorsah. Zudem wäre der Tarifvertrag aus dem Unfalljahr 1982 und nicht aus 1989 maßgebend gewesen.
Richtigerweise hätte die EUV § 573 Abs. 1 Satz 1 RVO heranziehen müssen. Danach wird der JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet, wenn sich der Verletzte zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in einer Schul- oder Berufsausbildung befand und dies für ihn günstiger ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift waren erfüllt: Denn der Kläger befand sich zur Zeit des Arbeitsunfalls (09. Juni 1982) noch in einer Berufsausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur und hätte seine Ausbildung – ohne den Unfall – normalerweise am 31. Januar 1985 beendet (vgl. dazu BSG, Urteil vom 28. August 1990, Az.: 2 RU 7/90, HV-Info 1990, 2093ff.). Folglich hätte die EUV nach § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO das Entgelt zugrunde legen müssen, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarif festgesetzt war. Dann hätte sie einen JAV von 18.001,55 EUR ermittelt. Auf die zutreffende Berechnung im Bescheid vom 21. Juli 2003 nimmt der Senat Bezug. Anstelle eines Monatsbetrags von 458,87 EUR steht dem Kläger – bei zutreffender Rechtsanwendung – daher nur ein monatlicher Rentenzahlbetrag von 400,03 EUR zu.
Da die Zwei-Jahres-Frist des § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X am 21. Juli 2003 (Zeitpunkt der Korrektur) bereits abgelaufen und der Kläger keinesfalls nach § 45 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X bösgläubig war, konnte der rechtswidrig begünstigende JAV-Erhöhungsbescheid vom 07. November 1995 nicht mehr nach § 45 SGB X zurückgenommen werden.
Es ist zwischenzeitlich auch eine "Änderung zugunsten des Betroffenen eingetreten", weil sich der Anpassungsfaktor für die Verletztenrenten zum 01. Juli 2007 geändert hat und nunmehr 1,0054 beträgt (vgl. § 4 Abs. 1 der Rentenwertbestimmungsverordnung 2007 [RWBestV 2007] vom 14. Juni 2007, BGBl. I, 2007, 1114). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtslage ist freilich der Erlass des Widerspruchsbescheids (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 54 Rn. 32). Als der Beklagte den Widerspruchsbescheid am 20. Oktober 2004 erließ, waren die Änderungen zugunsten des Klägers noch nicht eingetreten. In dieser Fallkonstellation hat der 4. Senat des BSG beiläufig (obiter dictum) in Frage gestellt, ob § 48 Abs. 3 SGB X den Leistungsträger ermächtigt, vor einer "Änderung nach Abs. 1 oder 2 zugunsten des Betroffenen" festzustellen, dass der bindend (§ 77 SGG) festgesetzte und daher maßgebliche Zahlbetrag rechtswidrig ist. Zur Begründung hat er sich auf Wortlaut, Zielsetzung und Systematik der Vorschrift berufen (BSG, Urteile vom 24. März 1987, Az.: 4b RV 39/85, SozR 1300 § 48 Nr. 33 und vom 16. März 1989, Az.: 4/11a RA 70/87, SozR 1300 § 48 Nr. 55). Dagegen hat der 9. Senat des BSG entschieden, dass die Behörde die Rechtswidrigkeit eines begünstigenden Dauerverwaltungsakts auch dann feststellen darf, wenn sich – wie hier – die Verhältnisse, die diesem Verwaltungsakt zu Grunde gelegen haben, noch nicht geändert hatten. Diese Feststellung könne – so der 9. Senat – "als eigenständige Regelung im Sinne des § 31 SGB X zur frühzeitigen Klärung des Sozialrechtsverhältnisses auch selbständig und zeitlich vor dem Ausspruch eines `Einfrierens´ oder `Abschmelzens´ getroffen werden" (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2004, Az.: B 9 VS 1/04 R, SozR 4-3200 § 81 Nr. 2). Diese Auffassung ist überzeugend. Denn der Leistungsberechtigte, der laufende Sozialleistungen bezieht, benötigt möglichst bald Klarheit darüber, ob er mit weiteren Leistungserhöhungen rechnen kann. Weigert sich der Leistungsträger verbindlich zu erklären, ob eine Rente an zukünftigen Dynamisierungen teilnimmt, müsste der Leistungsempfänger eine vorbeugende Feststellungsklage erheben. Dies wäre unpraktikabel und widerspräche dem existenzsichernden Zweck laufender Sozialleistungen. Beabsichtigt der Unfallversicherungsträger nämlich, eine Verletztenrente abzuschmelzen, so muss er deshalb keinen Verwaltungsakt erlassen. Stattdessen kann er die Dynamisierung der Leistungen an die wirtschaftliche Entwicklung auch schlicht aussetzen, den alten Rentenzahlbetrag trotz allgemeiner Rentenerhöhung weiterzahlen und den Betroffenen über die Gründe der Nichtanpassung im Unklaren lassen. Um dieses bürgerunfreundliche Verwaltungshandeln zu vermeiden, ist ein vorausgehender Feststellungsbescheid notwendig. Er liegt auch im Interesse des Leistungsträgers. Übersieht er nämlich die Abschmelzungsmöglichkeit und erlässt er weitere Anpassungsbescheide, können sie später nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 45 SGB X zurückgenommen werden. Deshalb ist der Leistungsträger im Interesse der alsbaldigen Klärung des Dauerrechtsverhältnisses berechtigt, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 Abs 3 SGB X durch Bescheid festzustellen, bevor einer Änderung der Verhältnisse zugunsten der Leistungsberechtigten eintritt (BSG, Urteil vom 15. Dezember 1999, Az.: B 9 V 26/98 R, SozR 3-1300 § 48 Nr. 69; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung [Handkommentar], § 48 Rn. 14.5; Freischmidt in: Hauck/Noftz, SGB X, § 48 Rn. 27; Wiesner in: von Wulffen, SGB X, 5. Aufl. 2005, § 48 Rn. 26).
Folglich war der Beklagte befugt, den Abschmelzungsbescheid zu erlassen. Da ihm § 48 Abs. 3 SGB X kein Ermessen einräumt, kann der Einwand des Klägers, dass sich sein Meisterbetrieb unfallbedingt nur unzureichend rentiere, zu keiner anderen Entscheidung führen. Denn derartige Überlegungen wären allenfalls als Abwägungsgesichtspunkt im Rahmen einer Ermessensprüfung zu berücksichtigen, die hier jedoch nicht durchzuführen ist.
Auch die übrigen Einwendungen und Einreden des Klägers greifen nicht durch. Auf Vertrauensschutz (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes [GG]) kann er sich nicht berufen, weil § 48 Abs. 3 SGB X seine Dynamisierungserwartung gerade nicht schützt. Dies ist auch mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar, weil diese Verfassungsnorm nur Rechtspositionen schützt, "die einem Rechtssubjekt bereits zustehen" (BVerfG, Urteil vom 18. Mai 1988, Az.: 2 BvR 579/84, BVerfGE 78, 205, 211; Beschlüsse vom 31. Oktober 1984, Az.: 1 BvR 35/82, BVerfGE 68, 193, 222 und vom 22. Januar 1997, Az.: 2 BvR 1915/91, BVerfGE 173, 187f; Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl. 2007, Art. 14 Rn. 22; Waschull in: LPK-SGB X, 2002, § 48 Rn. 92). Die Eigentumsgarantie gewährleistet allein den konkret vorhandenen Bestand, also den bisherigen Rentenzahlbetrag, nicht jedoch den Erhalt des Lebensstandards, den die Dynamisierung sichern soll (BSG, Urteile vom 15. September 1988, Az.: 9/4b RV 15/87, SozR 1300 § 48 Nr. 51 und vom 11. September 1991, Az.: 9a/9 RV 23/89, SozR 3-1300 § 48 Nr. 11).
Der Beklagte hat sein Recht, die Verletztenrente abzuschmelzen, auch noch nicht verwirkt. Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist Ausfluss des allgemeinen (auch im Sozialversicherungsverhältnis) geltenden Grundsatzes von "Treu und Glauben" (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches [BGB]) und setzt ein sog. Zeit- und Umstandsmoment voraus (vgl. dazu Heinrichs in: Palandt, BGB, 66. Aufl. 2003, § 242 Rn. 93 und 95): Der Rechtsinhaber muss längere Zeit verstreichen lassen, ohne sein Recht geltend zu machen (Zeitmoment). Vorliegend sind zwischen Erlass des rechtswidrig begünstigenden JAV-Erhöhungsbescheids und dem Abschmelzungsbescheid ca. 7½ Jahre vergangen. Über eine Verwirkung kann aber erst nach Ablauf eines deutlich längeren Zeitraums ernsthaft diskutiert werden. Außerdem hat der Kläger aber auch kein solch schutzwürdiges Vertrauen entwickelt, dass die späte Rechtsausübung für ihn unzumutbar wird (Umstandsmoment). Denn der Beklagte hat nie zu erkennen gegeben, dass er auf sein Abschmelzungsrecht verzichtet. Zudem war die späte Rechtsausübung schon deshalb zumutbar, weil der Kläger in der Vergangenheit an den jährlichen Rentenanpassungen partizipiert hat und diesen Vorteil auch in Zukunft behält.
Der Beklagte muss auch nicht deshalb auf die Abschmelzung verzichten, weil er sich beim Haftpflichtversicherer des Unfallgegners (Gerling) schadlos halten könnte. Denn der Beklagte ist schon verfassungsrechtlich verpflichtet (Art. 20 Abs. 3 GG), rechtmäßig zu handeln und kann sein Verwaltungshandeln nicht nach möglichen Kompensationsmöglichkeiten ausrichten. Zudem ist die Haftpflichtversicherung des Unfallgegners nur verpflichtet, dem Beklagten rechtmäßig gewährte Leistungen zu ersetzen, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass der Beklagte erst durch den Haftpflichtversicherer auf seinen fehlerhaften Bescheid aufmerksam gemacht worden ist.
Dass der Beklagte vor der Intervention des Haftpflichtversicherers Kenntnis von der Fehlerhaftigkeit des Bescheids hatte, ist nirgendwo belegt. Zudem ist § 814 BGB, auf den sich der Kläger in diesem Zusammenhang beruft, nur bei Rückforderungen aus ungerechtfertiger Bereicherung anwendbar, um die es hier aber gar nicht geht.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind (§ 160 Abs. 2 SGG). Er weicht vor allem nicht von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts ab (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Denn der 4. Senat hat in seinen Urteilen zur Anwendbarkeit des § 48 Abs. 3 SGB X (Urteile vom 24. März 1987, Az.: 4b RV 39/85, SozR 1300 § 48 Nr. 33 und vom 16. März 1989, Az.: 4/11a RA 70/87, SozR 1300 § 48 Nr. 55) lediglich in einem obiter dictum Bedenken geäußert, die Rechtsfrage aber bislang nicht ausdrücklich entschieden. Nachdem der Gesetzgeber den Anpassungsfaktor für die Verletztenrenten zum 01. Juli 2007 durch § 4 Abs. 1 RWBestV 2007 geändert hat, kommt der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung mehr zu (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Denn die Beklagte wäre jetzt in jedem Fall befugt, entsprechende Abschmelzungsbescheide zu erlassen.
Erstellt am: 12.09.2007
Zuletzt verändert am: 12.09.2007