Das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 12.08.1998 wird geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18.10.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.1997 verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen nach Maßgabe der weiteren gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Hinterbliebenleistungen wegen einer Berufskrankheit (chronische obstruktive Bronchitis oder das Emphysem/ Nr 4111 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV)).
Die Klägerin ist die Witwe des am 00.00.1928 geborenen und am 00.06.1983 verstorbenen L T (Versicherter). Der Versicherte wurde im Jahre 1947 im deutschen Steinkohlenbergbau angelegt und kehrte im Jahre 1979 ab. Er war unter Tage tätig.
Die Beklagte lehnte (erstmals) mit Bescheid vom 26.04.1985 die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen an die Klägerin ab. Im anschließenden Klageverfahren (Sozialgericht Duisburg, S 3 BU 71/85) gelangte Prof. X zu der Auffassung, dass der Versicherte wahrscheinlich an den Folgen eines Rechtsherzversagens (Cor pulmonale) verstorben sei. Dieses Herzleiden sei durch eine chronische Emphysembronchitis bedingt gewesen. Die festgestellten leichtgradigen silikotischen Veränderungen seien keine Teilursache bezüglich der Emphysembronchitis und der damit einhergehenden Rückwirkung auf das rechte Herz (Gutachten vom 24.10.1985). Der Staatliche Gewerbearzt wies unter dem 08.04.1986 darauf hin, dass die chronische obstruktive Bronchitis nach der BKV keine Berufskrankheit sei und eine Anerkennung im Sinne des § 551 Abs 2 RVO entfalle, weil hinsichtlich dieser Erkrankung und insbesondere ihrer Verursachung neuere wissenschaftliche Erkenntnisse nicht vorlägen. Die Beklagte lehnte unter Hinweis auf diese Stellungnahme einen Anspruch der Klägerin auf Leistungen aus Anlass des Todes des Versicherten (erneut) ab. Der Versicherte sei nicht an einer Krankheit im Sinne des § 551 Abs 2 RVO verstorben (Bescheid vom 05.06.1986). Der dagegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos. Im anschließenden Klageverfahren (SG Duisburg S 4 BU 192/86) erstattet Prof. Dr. H ein Sachverständigengutachten. Er stellte u.a. fest, dass der Versicherte an einer schweren Emphysembronchitis gelitten habe (Gutachten vom 28.10.1987). Die Klägerin nahm die Klage zurück, beantragte jedoch zugleich die Überprüfung, ob der Tod des Versicherten doch auf eine Silikose zurückzuführen sei. Die Beklagte lehnte eine Rücknahme des Bescheides vom 26.04.1985 ab (Bescheid vom 12.04.1988). Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Die Klägerin beantragte sodann am 22.01.1996 erneut die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen. Zur Begründung führte sie aus, dass der Versicherte an den Folgen einer Emphysembronchitis verstorben sei. Die Emphysembronchitis sei als Quasi-Berufskrankheit (BK) anzuerkennen. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) stellte eine kumulative Dosis von 147,4 Feinstaubjahren fest. Nachdem die Beklagte Gesundheitszeugnisse und Lungenfunktionsbefunde beigezogen hatte, stellte Prof. Dr. S fest, dass der Versicherte zu Lebzeiten unter einer sich progredient entwickelnden schweren chronischen obstruktiven Emphysembronchitis in Verbindung mit einem Cor pulmonale gelitten habe, diese Leiden seien mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Feinstaubbelastung unter Tage zurückzuführen. Es handele sich um eine BK im Sinne der Empfehlung des ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 04.04.1995. Die chronische obstruktive Bronchitis/Emphysem sei wesentliche Mitursache des Todes gewesen (Stellungnahme vom 14.08.1996, die den Eingangsstempel der Beklagten vom 12.08.1996 trägt). Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 18.10.1996 die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab. Es sei nicht möglich, eine chronische Emphysembronchitis, die bei dem Versicherten offenbar vorgelegen habe, wie eine BK anzuerkennen und hierüber einen Hinterbliebenenanspruch zu begründen. Zwar lägen seit dem 01.09.1994 neue medizinische Erkenntnisse zur chronischen Emphysembronchitis vor, jedoch liege der Tod des Versicherten vor diesem Datum. Die gemäß der Empfehlung des ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 01.09.1994 vorgeschlagene Änderung der BKV wirke nur vom Zeitpunkt des neuen Rechts an. Sie erfasse in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Versicherungsfälle nur bei einer entsprechenden Ausdehnung des Leistungszeitraums in die Vergangenheit durch den Verordnungsgeber. Daran fehle es hier. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass § 551 Abs 2 RVO einen besonderen versicherungsrechtlichen Leistungsfall regele. Der Leistungsfall setze einen Versicherungsfall voraus, der nach dem Wortlaut vom Vorliegen einer berufsbedingten Erkrankung und entsprechenden allgemeinen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen abhänge. Als weitere Bedingung leite sich aus dem allgemeinen Versicherungsrecht ab, dass der Versicherten den Versicherungsfall auch erlebt haben müsse (Widerspruchsbescheid vom 11.04.1997).
Zur Begründung der dagegen zum Sozialgericht Duisburg erhobenen Klage hat die Klägerin die Auffassung vertreten, der Versicherte sei an den Folgen einer Quasi-BK verstorben. Die Beklagte erkenne in ihrer Verwaltungspraxis als Versicherungsfälle alle Fälle an, die ab dem 01.07.1963 (Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes und damit der Vorschrift des §§ 551 Abs 2 RVO) eingetreten seien. Entschädigungsleistungen gewähre sie jedoch erst seit dem 01.09.1994, da nach ihrer Auffassung, erst ab diesem Zeitpunkt die neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse im Sinne des § 551 Abs 2 RVO vorgelegen hätten. Vor diesem Hintergrund erscheine es rechtsfehlerhaft, der Klägerin mit dem Argument Leistungen zu verweigern, es handele sich um einen in der Vergangenheit liegenden, abgeschlossenen Versicherungsfall, weil der Zeitpunkt des Todes vor dem 01.09.1994 liege. Der im Entwurf zur Änderung der BKV vorgesehene Stichtag für die Anerkennung und Entschädigung einer BK mit Nr 4111 sei für sie ohne Bedeutung. Hätte die Beklagte auf ihren Antrag vom 22.01.1996 hin nicht ablehnend entschieden, käme es auf die Neuregelung der BKV mit dem Stichtag nicht mehr an.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.10.1996 und des Widerspruchsbescheides vom 11.04.1997 zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenrente nach dem verstorbenen Versicherten L T zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf die mit dem Entwurf zur Neuordnung der BKV beabsichtigte Einführung des Stichtags 31.12.1992 für die BK Nr 4111 berufen und gemeint, da der Versicherte bereits 1983 verstorben sei, werde der Fall von der Rückwirkungsvorschrift nicht erfasst. Der Stichtag sei auch bei einer Entscheidung nach § 551 Abs 2 RVO bzw. § 9 Abs 2 SGB VII zu berücksichtigen. Eine Besserstellung gegenüber jenen Versicherten, über deren Ansprüche erst nach Inkrafttreten der Änderung der BKV entschieden werden könne, komme nicht in Betracht.
Mit Urteil vom 12.08.1998 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Das Gericht habe das zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung geltende Recht anzuwenden. Die chronische obstruktive Bronchitis oder das Emphysem bei Bergleuten sei als Nr 4111 in die BKV aufgenommen worden. Die Anerkennung richte sich daher nicht mehr nach § 551 Abs 2 RVO, sondern nach § 551 Abs 1 RVO. Dementsprechend finde auch die Stichtagsregelung des § 6 Abs 2 BKV Anwendung, die die Anerkennung nur zulasse, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.12.1992 eingetreten sei.
Zur Begründung der dagegen eingelegten Berufung wiederholt die Klägerin ihre Rechtsauffassung. Die Beklagte habe die Entscheidung über ihren Antrag vom 22.01.1996 nicht auf der Grundlage der erst zum 01.12.1997 in Kraft getretenen Stichtagsregelung treffen dürfen. Es sei zu beachten, dass die Klägerin bereits vor Inkrafttreten der Stichtagsregelung einen Antrag auf Hinterbliebenenleistungen gestellt habe. Selbst im Zeitpunkt der Entscheidung der Beklagten – am 18.10.1996 – habe es sich noch um eine Quasi-BK gehandelt. Die weiteren Voraussetzungen seien erfüllt. Der Versicherte habe vor seinem Tode die arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung seiner Erkrankung als BK erfüllt. Nach den medizinischen Feststellungen habe die BK-Erkrankung auch zum Tode geführt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 12.08.1998 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.10.1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.1997 zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenleistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung. Maßgeblich sei das Recht im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Deshalb sei die Stichtagsregelung zu berücksichtigen.
Entschädigungsansprüche nach § 551 Abs 2 RVO seien auf die Versicherungsfälle zu begrenzen, die nach dem Inkrafttreten der letzten Änderungsverordnung eingetreten seien. Die Vorschrift des § 551 Abs 2 RVO sei dann nicht mehr anzuwenden, wenn der Verordnungsgeber eine bestimmte Erkrankung in die Liste aufgenommen, die Gewährung einer Entschädigung aber durch eine Rückwirkung bis zu einem bestimmten ausreichend weit zurückliegenden Zeitpunkt in der Vergangenheit begrenzt habe.
Der weiteren Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den übrigen Inhalt der Streitakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das Sozialgericht hat zu Unrecht die ablehnende Entscheidung der Beklagten bestätigt. Die Klägerin ist durch den Bescheid vom 18.10.1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.04.1997 beschwert, weil dieser Bescheid rechtswidrig ist (§ 54 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Zu Unrecht hat das Sozialgericht einen Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (insbesondere auf Witwenrente nach § 590 Reichsversicherungsordnung (RVO)) verneint.
Der geltend gemachte materielle Anspruch richtet sich nach dem alten, vor Inkrafttreten des 7. Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01.01.1997 maßgeblichen Recht der RVO, weil die Klägerin einen Anspruch geltend macht, der bereits vor diesem Zeitpunkt entstanden sein soll (§ 212 SGB VII, Art 36 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs- Einordnungsgesetz – UVEG)).
Der Anspruch auf Witwenrente (§ 590 Abs 1 RVO) besteht gemäß § 589 Abs 1 Nr 3 RVO "bei" Tod durch Arbeitsunfall. Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung bezeichnet und die sich ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit zugezogen hat.
Zum 01.12.1997 hat der Verordnungsgeber mit der Nr 4111 die chronische obstruktive Bronchitis oder das Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren ([ mg/m³]x Jahre) als Berufskrankheit in die BKV aufgenommen. Ein Anspruch nach § 551 Abs 1 RVO scheitert in der Person des verstorbenen Versicherten jedoch in jedem Fall an § 6 Abs 1 BKV idF vom 31.10.1997 (jetzt: § 6 Abs 2 BKV idF vom 5. September 2002 – BGBl I 3541, neue Fassung – n. F.), weil nach dieser Vorschrift die Erkrankung nach Nr 4111 der Anlage zur BKV nur dann als Berufskrankheit anerkannt und entschädigt werden kann, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.12.1992 eingetreten ist. Der Versicherungsfall ist bei dem Versicherten jedoch bereits zuvor eingetreten. Der Begriff "Versicherungsfall" im Sinne des § 6 Abs 2 BKV. meint das Vorliegen der Voraussetzungen für den Anspruch des Versicherten auf Anerkennung einer Berufskrankheit iS des § 551 Abs 1 RVO (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.1999, B 8 KN 5/98 U R, SozR 3-2200 § 551 Nr 13 m.w.N. und im Einzelnen die Urteile des erkennenden Senats vom 12.10.2000, L 2 KN 204/98 U und L 2 KN 1/00 U). Der Senat geht auf der Grundlage der Gutachten von Prof. Dr. X (24.10.1985) und von Prof. Dr. H (28.10.1987) sowie der gutachtlichen Stellungnahme von Prof. Dr. S (14.08.1996) – die sämtlich im Rahmen des Urkundsbeweises Verwertung gefunden haben – davon aus, dass der Versicherte bereits vor seinem Tod – am 14.06.1983 – und damit vor dem Stichtag an einer chronischen obstruktiven Bronchitis gelitten hat. Prof. Dr. S weist darauf hin, dass der Versicherte bereits zu Lebzeiten unter einer sich progredient entwickelnden schweren chronischen obstruktiven Bronchitis in Verbindung mit einem Cor pulmonale gelitten hat. Insoweit kann die Beklagte letztlich auch nicht mit dem Argument gehört werden, der Anspruch der Klägerin scheitere bereits deshalb, weil der Versicherte den Versicherungsfall nicht erlebt habe. Bei genauer Betrachtung ist der Versicherungsfall bereits vor dem Tod eingetreten, denn der Versicherte litt – Prof. Dr. S folgend – bereits zu Lebzeiten an einer schweren chronisch obstruktiven Bronchitis. Der Tod selbst ist hingegen kein eigener Versicherungsfall, sondern lediglich der "ultimative" Folge- und Spätschaden eines Versicherungsfalls (BSG Urteil vom 25.07.2001, B 8 KN 1/00 U R, SozR 3-2700 § 63 Nr 1). Für die Annahme des Versicherungsfalls ist es nicht entscheidend, dass es (bislang) an einer entsprechenden positiven, bestandskräftigen Entscheidung des Versicherungsträger fehlt (vgl. dazu die Ausführungen weiter unten). Der Versicherungsfall ist damit jedenfalls vor der Aufnahme der BK Nr 4111 in die BKV und auch vor dem Zeitraum der Rückwirkung gemäß § 6 Abs. 2 BKV (01.01.1993) eingetreten.
Die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 2 BKV selbst verstößt nicht gegen höherrangiges Recht (BSG Urteil vom 30. 09.1999, SozR 3-2200 § 551; BSG Urteil vom 13.06.2006, B 8 KN 3/05 U R; SGb 2006, 471 (Kurzwiedergabe), die gegen diese Entscheidung eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG Beschluss vom 30.03.2007, 1 BvR 3144/06)).
Die wirksame Rückwirkungsvorschrift (§ 6 Abs 2 BKV) schließt es jedoch nicht aus, für Versicherungsfälle außerhalb des Rückwirkungszeitraums zu entschädigen, wenn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der BKV (Änderungsverordnung vom 31.10.1997 (BGBl. I 2623), in Kraft getreten am 01.12.1997 (§ 8 Abs 1 BKV)) bereits ein Antrag (auf Hinterbliebenenleistungen) gestellt worden ist und die Voraussetzungen für eine Entschädigung einer einschlägigen Krankheit als "Wie-BK" an sich gegeben sind (vgl. BSG Urteil vom 27.06.2006, B 2 U 5/05 R, SozR 4-5671 § 6 Nr 2 unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung vgl. insoweit u.a. BSG Urteil vom 30.06.1993, 2 RU 16/92, SozR 3-2200 § 551 Nr 3; BSG Urteil vom 25.08.1994, 2 RU 42/93, SozR 3-2200 § 551 Nr 6).
Die Klägerin hat – aufgrund des am 22.01.1996 und damit vor Inkrafttreten der Änderungsverordnung eingeleiteten Verwaltungsverfahrens – einen Anspruch darauf, dass die Beklagte auf der Grundlage des § 551 Abs 2 RVO entscheidet, ob der für die Gewährung ihrer Hinterbliebenenleistungen vorausgesetzte Versicherungsfall in der Person des verstorbenen Ehemann eingetreten ist.
Nach § 551 Abs 2 RVO (inhaltsgleich nach neuem Recht § 9 Abs 2 SGB VII) sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist und die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 erfüllt sind. § 551 Abs 1 Satz 3 RVO bestimmt als Voraussetzung für die Bezeichnung von Krankheiten als Berufskrankheit durch Rechtsverordnung, dass diese nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen sich zur sogenannten Berufskrankheiten-Reife verdichtet haben (vgl. dazu BVerfG Beschluss vom 06.12.1977, SozR 2200 § 551 Nr 11; BSG Urteil vom 30.01.1986, 2 RU 80/84, SozR 2200 § 551 Nr 27; BSG Urteil vom 14.11.1996, 2 RU 9/96, SozR 3-2200 § 551 Nr 9). Im Zeitpunkt der Einleitung des Verwaltungsverfahrens – am 22.01.1996 – lagen derartige neuere wissenschaftliche Erkenntnisse vor, die sich zudem zur Berufskrankheiten-Reife verdichtet hatten. Denn der Ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung – Sektion Berufskrankheiten – hatte bereits 1995 empfohlen, die BKV zu ergänzen und die chronische obstruktive Bronchitis oder das Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Feinstaubdosis von in der Regel [100 (mg/m3)xJahre]" in die Liste der Berufskrankheiten aufzunehmen (Bekanntmachung des BMA vom 01.08.1995 – IVa 4 – 45212/13 – Bundesarbeitsblatt 10/1995 S. 39 ff). Die wissenschaftliche Begründung (a.a.O.) weist u.a. ausdrücklich darauf hin, dass neuere wissenschaftliche Untersuchungen ergeben haben, dass eine Erkrankung der tieferen Luftwege und der Lungen nach langjähriger Unter-Tage-Tätigkeit im Steinkohlenbergbau signifikant gehäuft vorkommen. Letztlich beweist die Aufnahme in die Berufskrankheitenliste mit Wirkung zum 01.12.1997, dass hinsichtlich der chronische obstruktiven Bronchitis neue medizinische Erkenntnisse vorlagen.
Der Versicherte erfüllte zudem die Voraussetzungen für die Entschädigung von Folgen einer Erkrankung der Atemwege als sog. "Wie-BK". Er war als Bergmann unter Tage im Steinkohlenbergbau der "Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren" ausgesetzt (sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen). Der TAD der Beklagten hat insgesamt 147,4 Feinstaubjahre ermittelt.
Der Senat hat darüber hinaus keine Zweifel, dass der Versicherte an einer chronisch obstruktiven Bronchitis gelitten hat. Er folgt insoweit ebenfalls den Gutachten von Prof. Dr. X und von Prof. Dr. H sowie der gutachtlichen Stellungnahme von Prof. Dr. S. Diese Anspruchsvoraussetzungen müssen ursächlich miteinander verknüpft sein; insbesondere muss zwischen versicherter Tätigkeit und schädigenden Einwirkungen einerseits und zwischen schädigenden Einwirkungen und der Erkrankung andererseits ein ursächlicher Zusammenhang nach der im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung bestehen, wobei für die Bejahung eines solchen Zusammenhangs die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (ständige Rechtsprechung u.a. BSG Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 24/84, SozR 2200 § 548 Nr 70; BSG Urteil vom 22.08.2000, B 2 U 34/99 R, SozR 3-5670 Anlage 1, 2108 Nr 2; Brackmann, Handbuch der Versicherung, 11. Auflage, Seite 480 mwN; Hauck in Weiss/Gagel (Hrsg), Handbuch des Arbeits- und Sozialrechts, Systematische Darstellung Stand Januar 2003, § 22 A, Die Unfallrenten, Rdnr 67). Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Tatsachen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (u.a. BSG Urteil vom 02.02.1978, 8 RU 66/77, SozR 2200 § 548 Nr 38). Nach der im Rahmen des Urkundsbeweises verwerteten Stellungnahme von Prof. Dr. S steht zur Überzeugung des Senats fest, dass ein wesentlicher Ursachenzusammenhang zwischen der beruflichen Exposition und der chronisch obstruktiven Bronchitis wahrscheinlich ist. Denn Prof. Dr. S geht davon aus, dass die chronisch obstruktive Bronchitis mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Feinstaubbelastung unter Tage zurückzuführen ist. Damit liegen die Voraussetzungen für die Annahme eines Versicherungsfalles im Sinne des § 551 Abs 2 RVO vor.
Dem steht nicht entgegen, dass bei Verpflichtungs- und Leistungsklagen grundsätzlich auf die Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen ist. Hierbei handelt es sich nicht um einen abschließenden Rechtssatz (Hennig, SGG, § 54 SGG Rdn 136). Vielmehr ist stets auf den zeitlichen Geltungswillen des materiellen Rechts abzustellen und jeweils zu untersuchen, ob das aktuelle Recht auf zu beurteilenden Sachverhalt anzuwenden ist (Hennig, SGG, § 54 SGG Rdn, 136, BSG 26,06.2001, B 2 U 28/00 Soz R 3-2700 § 44 Nr 1; Becker, SGb 2006, 97 (100): Der Grundsatz bedarf dann einer Einschränkung, wenn sich durch die Veränderung der Rechtslage die Rechtsposition des Versicherten verschlechtert.). Das im Zeitpunkt der Entscheidung geltende Recht (§ 551 Abs 1 RVO in Verbindung mit der zum 01.12.1997 inkraftgetretenen BKV) findet vorliegend keine Anwendung, weil eine verfassungskonforme Auslegung der Regelungen der § 551 Abs 1/ § 9 Abs 1 SGB VII in Verbindung mit § 6 Abs 2 BKV n. F und § 551 Abs 2/§ 9 Abs 2 SGB VII dazu führt, dass in Fällen, in denen vor dem Inkrafttreten der Veränderungsverordnung ein Verwaltungsverfahren eingeleitet worden ist, der Versicherte einen Anspruch auf Entschädigung "wie eine BK" (§ 551 Abs 2/§ 9 Abs 2 SGB VII) besitzt. Mit dem Antrag bzw. mit dem von Amts wegen eingeleiteten Verwaltungsverfahren erhält der Versicherte eine Rechtsposition (eine anwartschaftsähnliche Position, so BSG Urteil vom 27.06.2007, B 2 U 5/05 R, SozR 4-5671 § 6 Nr 2), die ihm ohne Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs 1 GG) und das aus Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs 1 GG) nicht durch die Rückwirkungsklausel einer später inkraftretenden Änderungsordnung genommen werden kann (ähnlich Vossen, Ungereimtes (unreimbares?) um § 9 II SGB VII und die Rückwirkungsklausel des § 6 BKV SGb 2000, 610 ( 612); Koch in Lauterbach, UV (SGB VII), 4 Aufl., Stand Januar 1998 Anhang III zu § 9, § 6 BKV Rdn 11). Soweit im Rahmen der Gewährung von Hinterbliebenenleistungen inzidenter zu prüfen ist, ob in der Person des Versicherten der Versicherungsfall eingetreten ist, gilt nichts anders. Auch diesbezüglich findet, die Rechtsposition der Klägerin – nach Einleitung des Verwaltungsverfahrens – ihren Ausdruck zunächst darin, dass sie gegen den Unfallversicherungsträger bis zum Inkrafttreten der jeweiligen Änderungsverordnung – entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsverfahrensrechts – einen Anspruch auf eine zügige Entscheidung – auf der Grundlage des § 551 Abs 2 RVO – hat (BVerfG, Beschluss vom 09.10.2000, 1 BvR 791/95, SozR 3-2200 § 551 Nr 15; BVerfG Beschluss vom 23.06.2005, 1 BvR 235/00, SozR 4-1100 Art 3 Nr 32). Vorliegend war spätestens nach Eingang der Stellungnahme von Prof. Dr. S (am 12.08.1996) Entscheidungsreife eingetreten, mit der Folge, dass sich die Entscheidung über den Anspruch der Klägerin einzig und allein danach richtete, ob in der Person des verstorbenen Ehemannes die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO vorlagen.
Offenbleiben kann die Frage, ob für die Beurteilung der Kausalität zwischen Versicherungsfall und Eintritt des Todes, ebenfalls Entscheidungsreife gegeben sei muss (Dafür könnte sprechen, dass Ansprüche der Hinterbliebenen selbständige, nicht vom Verstorbenen abgeleitete Ansprüche sind, die hinsichtlich des für die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen selbständigen Versicherungsfalls der Verursachung des Todes durch eine Berufskrankheit voll überprüft werden (BSG SozR 3 – 2700 § 63 Nr 1 mwN)). Jedenfalls lag diesbezüglich Entscheidungsreife ebenfalls bereits mit Eingang der Stellungnahme von Prof. Dr. S vor. Ob die Verursachung des Todes eines Versicherten infolge eines Versicherungsfalls festgestellt werden kann, entscheidet sich – bei Vorliegen einer Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne – letztlich danach, ob die Berufskrankheit selbst – und nicht eine andere, davon unabhängige Ursache – die wesentliche Bedingung für den Eintritt des Todes bildet (st Rspr des BSG; u.a. BSG Urteil vom 28.06.1988, 2/9b RU 28/87, SozR 2200 § 548 Nr 91; Brackmann/Krasney, SGB VII, 12. Aufl. § 8 RdNrn 308 ff). Am Vorliegen dieser Voraussetzung bestehen keine Zweifel. Prof. Dr. S hat insoweit festgestellt, dass die chronisch obstruktive Bronchitis wesentliche Mitursache für den Tod des Versicherten gewesen ist.
Dem Anspruch der Klägerin steht nicht entgegen, dass die neuen medizinischen Erkenntnisse erst nach Eintritt des Versicherungsfalls gewonnen wurden. Für die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO reicht es aus, wenn die neuen Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung über den erhobenen Anspruch vorliegen. Weder dem Wortlaut des § 551 Abs 2 RVO oder einer anderen Bestimmung noch dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist zu entnehmen, dass nur die Einzelfälle entschädigt werden dürfen, bei denen die Erkrankung erst nach Festigung neuer medizinischer Erkenntnisse aufgetreten ist. Andernfalls wäre – der Funktion des § 551 Abs 2 RVO als "Öffnungsklausel" widersprechend – eine Entschädigung gerade der Erkrankungen, die Anlass zur Entwicklung des neuen Erkenntnisstands gegeben haben, nicht möglich (BSG, Urteil vom 14. November 1996, SozR 3-2200 § 551 Nr 9).
Die Auffassung, dass der Versicherungsfall der Quasi-BK (kraft einer gesetzlichen Fiktion) erst mit dem Anerkennungsbescheid des Trägers der UV – also nur der positiven, bestandskräftigen Entscheidung – (konstitutiv) begründet wird (BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 6) kann vor dem Hintergrund der Rechtsprechung (BVerfG Beschluss vom 23.06.2005, 1 BvR 235/00, SozR 4-1100 Art 3 Nr 32; BSG Urteil vom 27.06.2007, B 2 U 5/05 R, SozR 4-5671 § 6 Nr 2) nur so verstanden werden, dass der Versicherte bzw. Hinterbliebene – im Rahmen der Prüfung des Versicherungsfalls – einen Anspruch auf eine entsprechende positive Entscheidung des Versicherungsträgers hat. Ansonsten würde diese Rechtsprechung ins Leere laufen, denn dem dort entschiedenen Fällen ist immanent, dass es an einer positiven, bestandskräftigen Entscheidung des Versicherungsträgers fehlt, es gleichwohl ausreicht, dass die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO im Übrigen erfüllt sind. Letztlich ist hinsichtlich der Frage, ob ein Anspruch auf der Grundlage des § 551 Abs. 2 RVO besteht, vorliegend zumindest ein Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren durchgeführt worden. Die Beklagte hat in ihrem Ablehnungsbescheid vom 18.10.1996 sowie im Widerspruchsbescheid vom11.04.1997 einen Anspruch nach dieser Norm ausdrücklich abgelehnt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), liegen nicht vor.
Erstellt am: 22.11.2007
Zuletzt verändert am: 22.11.2007