Rev. des Bekl. mit Urteil vom BSG zurückgewiesen.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20.10.2008 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt auch die der Klägerin im zweiten Rechtszug entstandenen außergerichtlichen Kosten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die am 00.00.1978 geborene Klägerin begehrt die Anerkennung als Schwerbehinderte.
Sie ist chinesische Staatsangehörige und verlor nach ihren Angaben infolge der während eines Gefängnisaufenthalts 2003 in China erlittenen körperlichen Gewalt die linke Hand. Seit Juli 2004 lebt die Klägerin im Bundesgebiet. Sie erhielt zunächst eine Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des ersten Asylverfahrens, welches erfolglos blieb. Ein Folgeantrag wurde mit am 16.07.2008 bestandskräftigem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13.09.2007 abgelehnt. Gegenwärtig wird der Aufenthalt der Klägerin gemäß § 60a Abs 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) geduldet. Eine Ausreise nach China ist derzeit aufgrund fehlender Heimreisedokumente nicht möglich. Das zuständige chinesische Generalkonsulat hat bislang auf das Ersuchen der deutschen Behörden auf Ausstellung solcher Dokumente nicht reagiert. Nach Auskunft der Ausländerbehörde ist nicht absehbar, wann mit einer Reaktion gerechnet werden kann.
Am 06.08.2007 beantragte die Klägerin, bei ihr eine Behinderung festzustellen. Dem Antrag lag ein Attest des behandelnden Allgemeinmediziners Dr. E zugrunde, in welchem ein Zustand nach Amputation der linken Hand nach Quetschung beschrieben wird.
Die Versorgungsverwaltung lehnte mit Bescheid vom 10.09.2007, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 28.11.2007 den Antrag der Klägerin ab, weil ihr Aufenthalt im Bundesgebiet lediglich geduldet sei und sie sich damit nicht rechtmäßig im Geltungsbereich des für die Entscheidung maßgeblichen neunten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) aufhalte. Dies folge bereits aus der Dauer des bisherigen Verbleibens in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Klägerin hat am 05.12.2007 Klage zum Sozialgericht (SG) Münster erhoben, zu deren Begründung sie ausgeführt hat, ihr Aufenthalt sei im Bundesgebiet auf Dauer angelegt. Trotz der Duldung sei ihr der Schwerbehindertenausweis auszustellen.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid vom 10.09.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.11.2007 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den für sie maßgeblichen GdB ab 06.08.2007 mit 50 festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das SG hat mit Urteil vom 20.10.2008 den Beklagten antragsgemäß unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide vom 10.09.2007 und 28.11.2007 verurteilt, den GdB ab 06.08.2007 mit 50 festzustellen: Die Klägerin habe Anspruch auf Feststellung eines GdB. Sie erfülle insbesondere auch die in § 2 Abs 2 SGB IX normierte Voraussetzung, ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu haben. Seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe jemand nach § 30 Abs 3 S 2 des ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweile. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts könne nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wie sie insbesondere im Urteil vom 01.09.1999 (9 SB 1/99 R in: SozR 3-3870 § 1 Nr 1 = BSGE 84 253, Juris Rn 10) zum Ausdruck komme, nur hinreichend unter Berücksichtigung des Zwecks des jeweils maßgeblichen Gesetzes bestimmt werden. Die Klägerin habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des SGB IX im Bundesgebiet. Sie habe hier den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen und halte sich trotz ihres aufenthaltsrechtlichen Status auf unbestimmte Zeit hier auf. Insoweit könne nicht ausschließlich darauf abgestellt werden, aufgrund welcher Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes der Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet geduldet werde. Für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltes seien die Gründe, die die Abschiebung unmöglich machten, zu beurteilen. Im Rahmen einer Prognoseentscheidung sei dabei zu klären, ob die einer Abschiebung entgegenstehenden Gründe noch auf unbestimmte Zeit bestehen würden. Dies sei bei der Klägerin der Fall. Die Bemühungen der Ausländerbehörden um die Heimreisedokumente liefen seit fast zwei Jahren. Mit einer Reaktion der chinesischen Behörden sei in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 30.10.2008 zugestellte Urteil am 17.11.2008 Berufung eingelegt, zu deren Begründung er sich auf die im Land Nordrhein-Westfalen (NRW) bestehende Weisungslage hinsichtlich der Durchführung des Schwerbehindertenrechts bei Ausländern, die nur im Besitz einer Duldung sind (Verfügungen vom 09.01.07 und 10.05.2007) bezieht: Die Rechtsprechung des BSG, wie sie insbesondere im Urteil vom 01.09.1999 (aa0) zum Ausdruck komme, sei durch die Änderung des Ausländerrechts, hier die Ablösung des Ausländergesetzes durch das Aufenthaltsgesetz zum 01.01.2005 (Artikel 1 des Zuwanderungsgesetzes vom 30.07.2004, BGBl, I S 1950) überholt. Dies ergebe sich aus dem neuen § 25 Abs 5 Aufenthaltsgesetz. Seit dessen Inkrafttreten könne das Rechtsinstitut der Duldung im Ausländerrecht nicht mehr zu einem rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des SGB IX führen. Geduldete Ausländer, die nach den Maßstäben des BSG im Urteil vom 01.09.1999 (aa0) gleichzustellen seien, hätten nach neuem Recht gemäß § 25 Abs 5 Aufenhaltsgesetz in der Regel einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Diese Vorschrift, die als Sollvorschrift ausgestaltet sei, eröffne den Ausländerbehörden kein Ermessen mehr. Bei Ausländern, die sich auf Dauer im Bundesgebiet aufhielten, jedoch keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 2 Aufenthaltsgesetz erhielten, könne daher davon ausgegangen werden, dass sie nicht unverschuldet an der Ausreise gehindert seien.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20.10.2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Verwaltungsakten des Beklagten und der beigezogenen Ausländerakten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet.
Richtiger Berufungsbeklagter ist seit dem 01.01.2008 der für den Kläger örtlich zuständige Kreis D (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung Urteile des erkennenden Senats vom 05.03.2008 L 10 SB 40/06 , Juris Rn 26 ff rechtskräftig, sowie des 6. Senats dieses Hauses vom 12.02.2008 L 6 SB 101/06, Juris Rn 30 ff rechtskräftig und vom 26.02.2008 L 6 SB 35/05, Juris Rn 19 ff = BSG, Urteil vom 23.04.2009 B 9 SB 3/08 R, Juris Rn 14 ff (zum Entschädigungsrecht vgl. BSG, Urteile vom 11.12.2008, B 9 Vs 1/08 R, Juris Rn 20 ff und B 9 V 3/07 R, Juris Rn 21 f).
Das SG hat zu Recht entschieden, dass bei der Klägerin wegen des Verlustes ihrer linken Hand ein GdB von 50 festzustellen ist. Die Vorschrift des § 2 Abs. 2 SGB IX steht der Feststellung der Schwerbehinderung nicht entgegen, denn Klägerin, die sich mit ihrer Familie seit mehr als fünf Jahren, wenn auch nur immer wieder geduldet, im Bundesgebiet aufhält, hat hier unter Berücksichtigung des Zwecks des SGB IX ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Ein nicht nur vorübergehendes Verweilen liegt auch bei lediglich geduldeten Ausländern dann jedenfalls vor, wenn weitere Umstände ergeben, dass sie sich gleichwohl auf unbestimmte Zeit in Deutschland aufhalten werden. Dies hat das SG zutreffend festgestellt. Der Senat nimmt im Wesentlichen gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug und sieht von einer weiteren Darlegung der Entscheidungsgründe ab.
Das Berufungsvorbringen führt zu keiner anderen Beurteilung. Der aktuellen Weisungslage zur Durchführung des Schwerbehindertenrechts bei Ausländern, die im Besitz einer Duldung sind (Weisungen vom 09.01.2007 und 10.05.2007), folgt der Senat nicht.
Die Rechtsstellung des Personenkreises der in Deutschland lebenden behinderten Ausländer, die nicht über eine Aufenthaltserlaubnis, sondern nur über eine Duldung verfügen, hat sich mit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005 zur Überzeugung des Senats nicht geändert. Auch unter Berücksichtigung des Aufenthaltsgesetzes würde das Schwerbehindertenrecht zu seinen eigenen Zielen in unlösbaren Widerspruch geraten, wenn es eine bestimmte Gruppe auf unabsehbare Zeit in Deutschland lebende ausländische Behinderte allein wegen ihrer fremden Staatsangehörigkeit und der Art des bei ihnen vorliegenden Aufenthaltstitels auf Dauer von Hilfen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft ausschlösse. Der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Ausländers im Sinne des Aufenthaltsgesetzes folgt das Schwerbehindertenrecht auch weiterhin nur eingeschränkt. Dies hat das SG Duisburg in der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten und besprochenen Entscheidung vom 15.06.2007 (S 30 SB 140/04, rechtskräftig) überzeugend dargelegt. Danach genügt bei einem Ausländer ein nicht nur vorübergehendes Verweilen weiterhin ausnahmsweise dann, wenn er nicht mit seiner Abschiebung in sein Heimatland zu rechnen braucht, weil der Abschiebung Hindernisse entgegenstehen, die er nicht zu vertreten hat, er sich hier rechtmäßig seit Jahren aufhält und ein Ende des Aufenthalts unabsehbar ist, die Ausländerbehörde aber dennoch keine Aufenthaltsbefugnis erteilt. Zutreffend hat das SG Duisburg dargelegt, dass auch nach der Neuregelung des Ausländerrechts auf unabsehbare Dauer jedoch ohne Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet lebende ausländische Behinderte nicht allein wegen ihrer fremden Staatsangehörigkeit auf Dauer von Hilfen zur Eingliederung in die Gesellschaft ausgeschlossen werden dürften und dies mit den Zielen des Schwerbehindertenrechts weiterhin nicht vereinbar sei. Das Ziel des Gesetzgebers, die Praxis der Kettenduldungen mit Hilfe der Regelung des § 25 Abs. 5 AufenthG einzuschränken (vgl. die Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur weitgehend inhaltsgleichen Regelung des § 25 Abs 6 RegE-AufenthG, BT-Drs. 15/42), sei auch nicht erreicht worden. Der Senat schließt sich den Ausführungen des SG Duisburg an.
Vorliegend ist maßgeblich darauf abzustellen, dass sich die Klägerin zwischenzeitlich seit mehr als fünf Jahren geduldet im Bundesgebiet aufhält. Seit der Entscheidung der Beklagten sind erneut zwei Jahre vergangen, ohne dass sich an dem ausländerrechtlichen Status der Klägerin etwas geändert hätte. Nach der aktuellen vom Senat unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung eingeholten telefonischen Auskunft der zuständigen Ausländerbehörde ist auch derzeit nicht absehbar, ob überhaupt und wann die Klägerin das Bundesgebiet verlassen wird. Solange die chinesischen Heimatbehörden auf die Anfragen der Ausländerbehörden nicht reagieren und die Klägerin nicht über einen Pass oder Passersatzpapiere verfügt, ist die Abschiebung weiterhin ausgeschlossen. Dass die Klägerin der Ausländerbehörde gegenüber unwahre Angaben machen und bewusst nicht an der Beschaffung von Passersatzpapieren mitwirken würde, sondern ihre Probleme aussitze, ist spekulativ, jedenfalls nicht belegt. Anhaltspunkte für ein Vertretenmüssen der Klägerin sind nicht ersichtlich. Diese aktuelle Sachlage belegt vielmehr, dass sich, wie von der Ausländerbehörde vermutet, die Abschiebung noch Jahre hinauszögern kann. Das Ende des Aufenthalts ist nicht absehbar und die behinderte Klägerin wird von dem SGB IX geschützt, auch wenn sie sich seit Jahren nur geduldet im Bundesgebiet aufhält. Als Behinderte hat sie Anspruch auf gesellschaftliche Integration und auf die für sie notwendigen Eingliederungshilfen, die ihr nicht jahrelang vorenthalten bleiben dürfen.
Soweit das BSG in der angeführten Entscheidung nicht konkret festgelegt hat, nach welcher Zeit des Aufenthalts der Schutz des Schwerbehindertenrechts greift, so ist dies jedenfalls nach mehr als fünf Jahren der Fall. Es liegt nahe, eine Aufenthaltsdauer in entsprechender Anwendung des § 1 Abs 1 S 1 Nr 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) mit drei Jahren als ausreichend anzusehen (BSG aaO, Juris Rn 21, vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.06.2009 – L 11 SB 88/09 B -, Juris Rn 3). Zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung hielt die Klägerin sich bereits drei Jahre im Bundesgebiet auf.
Die Klägerin erfüllt auch die weiteren Voraussetzungen für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft, was von dem Beklagten auch nicht in Abrede gestellt wird. Der Senat nimmt auch insoweit gemäß § 153 Abs 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug und weist ergänzend darauf hin, dass sich die Höhe des GdB seit dem 01.01.2009 nicht mehr nach den Anhaltspunkten, sondern nach den, bezüglich der Behinderungen von Seiten der ganzen Hand aber gleichlautenden, Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008) richtet. Nach dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag kommt es der Klägerin im Übrigen lediglich auf die Feststellung der Schwerbehinderung für die Zukunft an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG zugelassen, weil er der Frage, ob durch das Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 01.01.2005 bzgl. der Rechtsstellung geduldeter Ausländer im Bereich des Schwerbehindertenrechts eine Rechtsänderung eingetreten ist, grundsätzliche Bedeutung beimisst.
Erstellt am: 19.07.2010
Zuletzt verändert am: 19.07.2010