NZB als unzulässig verworfen
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28.06.2017 geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 30.04.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 18.06.2015 wird für den Zeitraum 30.04.2015 bis 07.05.2015 vollständig und entsprechend dem Anerkenntnis der Beklagten vom 12.11.2018 für die Zeit ab dem 08.05.2015 insoweit aufgehoben, als der GdB auf weniger als 30 herabgesetzt wird. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu einem Viertel. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 20.
Der am 00.00.1959 geborene Kläger ist Jurist und bei einer Berufsgenossenschaft beschäftigt. Im März 2009 wurde bei ihm ein Prostatakarzinom im Stadium pT2c pNX M0 L0 G2 mittels radikaler Prostatektomie mit Nervenerhalt operativ behandelt. Eine Chemo- oder Strahlentherapie war nicht erforderlich. Rezidive sind nicht aufgetreten. Mit Bescheid vom 27.05.2009 stellte die Beklagte einen GdB von 50 fest.
Im Rahmen eines 2014 eingeleiteten Nachprüfungsverfahrens holte die Beklagte Befundberichte des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. L, der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. F sowie des Urologen Dr. T ein und zog einen Reha-Entlassungsbericht der DRV-KBS bei. Der Kläger trug unter Vorlage u.a. von Attesten von Dr. T und Dr. L vor, er leide an einer erektilen Dysfunktion, Zeugungsunfähigkeit und einer mittelschweren Depression mit Indikation zur psychotherapeutischen Behandlung. Sowohl die erektile Dysfunktion, als auch die Zeugungsunfähigkeit seien mit einem GdB von 20 zu bewerten und verstärkten sich gegenseitig. Hinzu kämen die psychischen Probleme, die mit einem GdB von 40 zu bewerten seien. Insgesamt sei weiterhin eine Schwerbehinderung anzunehmen. Er wies ergänzend hin auf Urteile des Sozialgerichts Düsseldorf (23.08.1999 – S 31 SB 405/98), des Landessozialgerichts NRW (05.01.2011 – L 6 (7) SB 135/06) und des Bundessozialgerichts (22.04.1959 – 11/9 RV 232/57). Für die Beklagte bewerteten die Ärzte Dr. B, Dr. V, T1 und Dr. C den GdB mit 20. Die Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 20.08.2014, 01.12.2014 und 05.02.2015 zu einer Herabsetzung des GdB für die Zukunft auf 20 an.
Mit Bescheid vom 30.04.2015 hob die Beklagte den Bescheid vom 27.05.2009 teilweise auf und stellte den GdB wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse mit 20 fest. Der Bescheid ging dem Kläger nach seinen Angaben am 07.05.2015 zu. Der Kläger legte am 13.05.2015 Widerspruch ein, den die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 18.06.2015 zurückwies.
Am 16.07.2015 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Dortmund erhoben. Er hat u.a. ein Attest der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. F vorgelegt.
Für die Beklagte hat sich Dr. B geäußert und den GdB weiter mit 20 bewertet.
Das Sozialgericht hat Befundberichte des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. L, der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. F sowie des Urologen Dr. T beigezogen und von Amts wegen ein Sachverständigengutachten des Arztes für Innere Medizin, Sozialmedizin Dipl.-Psych. T aufgrund ambulanter Untersuchung eingeholt. Dipl.-Psych. T hat den Verlust der Vorsteherdrüse nach Ablauf der Heilungsbewährung, erektile Dysfunktion, Hormonmangelerscheinungen mit einem Einzel-GdB von 20 und ein seelisches Leiden, eine schlafbezogene Atemregulationsstörung, einen Bluthochdruck und ein Schilddrüsenleiden mit Einzel-GdB von jeweils 10, den GdB insgesamt mit 20 bewertet.
Der Kläger hat u.a. eingewandt, er sei nicht ausreichend von Dipl.-Psych. T befragt worden, es fehle eine eindeutige psychiatrische Diagnose und die Zuordnung des GdB sei nicht überzeugend. Einen Antrag nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) wolle er nicht stellen.
Das Sozialgericht hat die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung mit Urteil vom 28.06.2017 abgewiesen. Mit Ablauf der Heilungsbewährung sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten. Die erektile Dysfunktion könne nicht mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet werden, da laut den behandelnden Ärzten die Behandlung zumindest teilweise erfolgreich gewesen sei. Eine Zeugungsunfähigkeit sei nur in jüngerem Alter und bei noch bestehendem Zeugungswunsch relevant. Im Hinblick auf die schlafbezogene Atemregulationsstörung fehle es an einer Bestätigung der Notwendigkeit einer nächtlichen Überdruckbeatmung durch ein Schlaflabor. Der Blutdruck sei zufriedenstellend eingestellt, die Nierenwerte hätten bei einer nephrologischen Abklärung im Normbereich gelegen. Insgesamt betrage der GdB nach den überzeugenden Ausführungen von Dipl.-Psych. T nicht mehr als 20. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf das Urteil Bezug genommen.
Der Kläger hat gegen das ihm am 02.08.2017 zugestellte Urteil am 02.09.2017 Berufung eingelegt. Der Aufhebungsbescheid vom 30.04.2015 sei unbestimmt, da er nicht angebe, ab wann die Aufhebung gelten solle. Schon deswegen sei er aufzuheben. Der Kläger verweist insofern auf das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 16.06.2015 (L 13 SB 120/14). Er trägt weiter vor, er habe sich mittlerweile getrennt. Dies belege, dass schon seine psychische Störung mit einem Einzel-GdB von mindestens 30 zu bewerten sei. Ein Rückschluss von der Diagnose auf den GdB sei unzulässig. Auch bei nervenerhaltenden Operationen komme es zu Impotenz. Die erektile Dysfunktion sei erfolglos behandelt worden. Wegen der Bedeutung des Sexuallebens unabhängig vom Alter verweist er auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 25.07.2017 (17484/15). Ob noch ein Kinderwunsch bestehe, sei unerheblich. Er leide aktuell an einer Thrombose, seit 2017 sei es wiederholt zu Blutdruckkrisen gekommen.
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 08.11.2018, bei Gericht eingegangen am 12.11.2018, ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass der GdB ab Bekanntgabe des Bescheides vom 30.04.2015 nur auf 30 herabzusetzen sei.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 28.06.2017 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 30.04.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 18.06.2015 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die über das Teilanerkenntnis vom 12.11.2018 hinausgehende Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat Behandlungsunterlagen der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. F beigezogen, von Dipl.-Psych. T eine ergänzende Stellungnahme nach Aktenlage und von der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. L ein Sachverständigengutachten aufgrund ambulanter Untersuchung eingeholt. Dr. L hat ausgeführt, der Kläger sei psychisch maßgeblich belastet wegen Problemen am Arbeitsplatz infolge der Krebserkrankung. Er sei jedoch nur in wenigen Alltagsaktivitäten beeinträchtigt. Es liege eine Dysthymia vor. Es handele sich um eine leichte psychische Störung, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei, wobei dann schon die Folgen der Prostata-OP mit berücksichtigt seien. Die Nierenfunktionsstörung sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, der GdB insgesamt mit 30.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Senat hat in seiner Sitzung am 16.11.2018 ohne mündliche Verhandlung ein Urteil gefällt und den Kläger auf dessen telefonische Nachfrage am 23.11.2018 über den Verfahrensausgang informiert. Am 25.11.2018 ist ein weiterer Schriftsatz des Klägers eingegangen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Dabei ist der Schriftsatz des Klägers vom 25.11.2018 nicht mehr zu berücksichtigen, nachdem dem Kläger auf dessen telefonische Nachfrage hin auf Veranlassung des Berichterstatters in Rücksprache mit dem Vorsitzenden durch die Geschäftsstelle des Senats der Tenor des Urteils mitgeteilt worden ist (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 124 Rn 4b, § 125 Rn 4b m.w.N.). Ungeachtet dessen kann der Senat dem Schriftsatz des Klägers vom 25.11.2018 keinen neuen Vortrag entnehmen, der zu einer anderen Beurteilung hätte führen können.
Die zulässige Berufung ist teilweise begründet, im Übrigen unbegründet.
Das Sozialgericht hat die über das Teilanerkenntnis hinausgehende Klage im Wesentlichen zu Recht abgewiesen. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nur insofern im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, als der GdB bereits mit Wirkung ab dem 30.04.2015 herabgesetzt und ab dem 08.05.2015 ein GdB von weniger als 30 festgestellt worden ist.
Streitgegenstand ist der Aufhebungsbescheid vom 30.04.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 18.06.2015. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist der des Widerspruchsbescheids (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 10.09.1997 – 9 RVs 15/96, Rn 11; Keller, a.a.O., § 54 Rn 33).
Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 SGB Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.
Vergleichsmaßstab sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Bescheides der Beklagten vom 27.05.2009.
Im Vergleich der Verhältnisse am 27.05.2009 und 30.04.2015 ist eine wesentliche Änderung eingetreten. Eine wesentliche Änderung liegt im Schwerbehindertenrecht vor, wenn geänderte gesundheitliche Verhältnisse einen um 10 höheren oder niedrigeren GdB begründen (vgl. Teil A Nr. 7a Satz 1 VMG und etwa BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R, juris Rn 26). Auch der Ablauf einer Heilungsbewährung kann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse begründen (vgl. Teil A Nr. 7b VMG).
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) in der zum maßgeblichen Zeitpunkt gültigen Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden festgestellt, § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 SGB IX aF. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX aF gelten für diese Feststellung die Maßstäbe der aufgrund des § 30 Abs. 17 BVG (seit 01.07.2011 § 30 Abs. 16 BVG) erlassenen Rechtsverordnung (VersMedV vom 10.12.2008) und insbesondere ihrer Anlage 2 (VMG) entsprechend. Die Bemessung des (Gesamt-)GdB ist dabei in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSG, Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B, juris Rn 5 m.w.N.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche (Gesamt-)GdB zu bilden (BSG, Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R, juris Rn 18 m.w.N.). Außerdem sind nach Teil A Nr. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (BSG, Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R, juris Rn 25; vgl. zum Ganzen auch LSG NRW, Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11, juris Rn 42 ff. und daran anschließend BSG, Beschluss vom 17.04.2013 – B 9 SB 69/12 B, juris Rn 8 ff.).
Am 27.05.2009 wurde der GdB zutreffend mit 50 bewertet. Gemäß Teil B Nr. 13.6 VMG ist bei Prostatakarzinomen ab dem Grading G2 – wie hier – ein GdB von 50 anzusetzen, wobei die Heilungsbewährung fünf Jahre beträgt. Am 30.04.2015 war diese Heilungsbewährung abgelaufen. Der GdB betrug zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als 30.
Im Vordergrund stand am 30.04.2015 die psychische Erkrankung. Gemäß Teil B Nr. 3.7 VMG sind leichtere psychische Störungen mit Einzel-GdB von 0-20 und erst stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit Einzel-GdB von 30-40 zu bewerten. Dr. F diagnostizierte ebenso wie Dipl.-Psych. T und die 2014 behandelnde D-Klinik eine Anpassungsstörung (F43.2 ICD-10). Soweit Dr. F in ihrer vom Kläger vorgelegten Bescheinigung außerdem eine "inkomplette PTBS" diagnostizierte, ist dies nicht überzeugend. Zum einen existiert die Diagnose einer "inkompletten" PTBS nicht. Zum anderen hat Dr. F selbst diese Diagnose in ihrem kurze Zeit später erstellten Befundbericht nicht aufgeführt. Sie wird auch sonst von keinem Behandler oder Gutachter gestellt. Wenn Dr. L anlässlich ihrer Begutachtung Anfang 2018 die Diagnose Dysthymia (F34.1 ICD-10) stellt, ist dies entsprechend ihren überzeugenden Ausführungen zur nur vorübergehenden Natur von Anpassungsstörungen nachvollziehbar und begründet keinen Widerspruch zu den vorangegangenen Diagnosen. Überzeugend sind ebenso die Überlegungen von Dr. L zur Psychodynamik mit Verweis auf die selbstunsicher-abhängige, aber noch normwertige Persönlichkeitsstruktur des Klägers und das aufeinanderfolgende Auftreten von Anpassungsstörungen zunächst wegen der Krebserkrankung und dann wegen Kränkungen am Arbeitsplatz sowie ihre Überlegungen zum Ausmaß der dadurch bedingten funktionellen Beeinträchtigungen. Danach äußert sich die psychische Erkrankung maßgeblich in schlechtem Schlaf und Erschöpfung sowie einem gewissen sozialen Rückzug. Eine krankheitsbedingte wesentliche Einschränkung der Alltagskompetenzen ist dagegen nicht erkennbar und wird auch nicht schlüssig vorgetragen. Soweit der Kläger auf die zwischenzeitliche Trennung von seiner Lebensgefährtin verweist, ist schon nicht erkennbar, dass diese gerade krankheitsbedingt erfolgte. Zudem gab der Kläger Anfang 2018 gegenüber Dr. L an, noch bis vor zwei Jahren in der Partnerschaft gelebt zu haben, so dass die Trennung nach dem hier relevanten Zeitpunkt erfolgte. Gegen eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit spricht zudem der weitgehend deckungsgleiche psychopathologische Befund, den die D-Klinik, Dipl.-Psych. T und Dr. L erhoben haben. Danach findet sich allenfalls eine leichte bzw. thematisch beschränkte Herabgestimmtheit. Im Wesentlichen ist der psychopathologische Befund jedoch unauffällig. Gestützt wird die Annahme einer leichten psychischen Störung – wenngleich am oberen Bewertungsrand – des Weiteren durch die nur vorübergehende Inanspruchnahme fachärztlicher bzw. therapeutischer Hilfe. Nach der psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung Mitte 2014 in der D-Klinik begab sich der Kläger in Behandlung bei Dr. F, die bis Anfang 2016 dauerte. In dieser Zeit sind zwölf Termine dokumentiert, wobei ab Januar 2015 bereits kein monatlicher Behandlungsrhythmus mehr bestand und die Termine zuletzt nicht mehr 50, sondern nur noch zwanzig Minuten dauerten. Soweit der Kläger anführt, im Folgenden noch Gespräche im Rahmen der Ergotherapie geführt zu haben, handelt es sich dabei nicht um eine fachpsychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung.
Im Bereich des Funktionssystems Geschlechtsapparat besteht zunächst eine Zeugungsunfähigkeit. Diese bedingt nach Teil B Nr. 13.2 VMG einen GdB von 20 in jüngerem Lebensalter bei noch bestehendem Kinderwunsch. Im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt stand der Kläger kurz vor seinem 56. Geburtstag. Dass zu diesem Zeitpunkt und selbst zum Zeitpunkt der Prostatektomie ein Kinderwunsch bestand, ist nicht glaubhaft gemacht. Nur einmalig, nämlich im Berufungsverfahren im Schriftsatz vom 04.05.2018 behauptet der Kläger einen Kinderwunsch bezogen auf den Zeitpunkt der Operation. In seinem Schriftsatz vom 14.09.2018 erklärt er, dass es auf einen Kinderwunsch gar nicht ankomme.
Zu beachten wäre nach Teil B Nr. 13.2 VMG weiter eine Impotentia coeundi bzw. eine erektile Dysfunktion bei nachgewiesener erfolgloser Behandlung. Entgegen der Behauptung des Klägers war die durchgeführte Behandlung jedoch nicht erfolglos. Dies belegen die Karteikarteneinträge des Urologen Dr. T. Danach konnte bereits 2009 eine Besserung mit dem Medikament Cialis erzielt werden. Im September 2009 sei die Erektionsfähigkeit bereits wieder vorhanden gewesen. In den Folgejahren und jedenfalls bis einschließlich 2015 finden sich dann regelmäßige Rezeptierungen von Cialis mit Bemerkungen wie "Potenz mit Cialis gut" (Januar 2010), "mit Cialis keine ED" (Januar 2012), "mit PDE 5 Potenz normal" (Januar 2014). Im April 2015 wird der Testosteronwert als nicht normwertig beschrieben. Sonst sei der Kläger aber beschwerdefrei. Die Cialis-Dosis habe erhöht werden müssen. Im Juli 2015 wird dann erstmals von Libidomangel gesprochen, aber weiter Cialis verordnet.
Des Weiteren besteht ein Testosteronmangel-Syndrom. Ob daraus entsprechend dem klägerischen Vortrag funktionelle Beeinträchtigungen resultieren, ist mehr als fraglich. Dagegen spricht etwa eine E-mail des Klägers an Dr. F aus Mai 2016, in der er davon berichtet, dass eine Hormontherapie nichts an seinen Beschwerden wie innere Unruhe/Schlafstörungen geändert habe. Es liegt daher näher, diese Symptome der psychischen Störung zuzuordnen.
Zusammenfassend ist das Funktionssystem Geschlechtsapparat nach den übereinstimmenden Ausführungen der Beratungsärzte der Beklagten sowie der gerichtlichen Sachverständigen (maximal) mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten.
Die vom Kläger in Bezug genommenen Urteile des Bundessozialgerichts und des Landessozialgerichts NRW führen zu keinem anderen Ergebnis. Soweit dort auf mögliche oder sogar regelhafte psychische Folgen erektiler Dysfunktion und Zeugungsunfähigkeit hingewiesen wird, sind diese durch die gerichtlichen Sachverständigen hinreichend abgeklärt. Das vom Kläger angeführte Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte betraf einen Fall, in dem Schmerzensgeld für ein durch einen Kunstfehler verlorenes sexuelles Empfinden bei einer Frau wegen ihres Alters von 50 Jahren geringer angesetzt worden war, was der Gerichtshof als Diskriminierung ansah. Weder im konkreten Fall, noch in den VMG wird die Bewertung der Impotentia coeundi in Abhängigkeit vom Alter vorgenommen. Im Hinblick auf die Zeugungsfähigkeit fehlt es bereits an einem glaubhaften Kinderwunsch.
Ob das Nierenleiden nach Teil B Nr. 12.1.3 VMG entsprechend den Ausführungen von Dr. L mit einem Einzel-GdB von 20 oder nach den Ausführungen von Dipl.-Psych. T mit einem Einzel-GdB von 0 zu bewerten war, kann dahinstehen, da eine relevante funktionelle Beeinträchtigung des Klägers auch von Dr. L nicht festgestellt werden konnte, so dass dieser Einzel-GdB für den Gesamt-GdB ohne Relevanz bleibt.
Das Bluthochdruckleiden begründete seinerzeit keinen höheren Einzel-GdB als 10. Nach Teil B Nr. 9.3 VMG ist eine mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertende mittelschwere Form des Bluthochdrucks erst gegeben bei Organfolgeschäden und mehrfachem diastolischem Blutdruck über 100 mm Hg (vgl. hierzu Wendler/Schillings, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 8. Aufl. 2017, S. 238 f.). Beides war jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt nicht gegeben.
Im Hinblick auf die schlafbezogenen Atemprobleme wurde nach Angaben des Klägers gegenüber Dr. L eine Indikation zur Überdruckbeatmung wiederholt verneint. Ein Schlaf-Apnoe-Syndrom ist auch noch nicht im Schlaflabor bestätigt worden. Gemäß Teil B Nr. 8.7 VMG kann dann nicht einmal ein Einzel-GdB von 10 angesetzt werden.
Wegen der Beurteilung der sonstigen Nebenleiden, die jeweils keinen Einzel-GdB von mehr als 10 bedingen, wird auf das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG).
In der Gesamtschau beträgt der GdB nicht mehr als 30. Dabei ist schon fraglich, ob der führende Einzel-GdB für das psychische Leiden überhaupt wegen der Folgen der Prostatektomie erhöht werden kann oder ob hier nicht vielmehr – wofür insbesondere die Ausführungen von Dr. L sprechen – erhebliche Überschneidungen vorliegen. Jedenfalls scheitert eine weitere Erhöhung wegen des Nierenleidens an daraus resultierenden relevanten funktionellen Beeinträchtigungen. Die übrigen Leiden sind entsprechend Teil A Nr. 3.d.ee. Satz 1 VMG unbeachtlich. Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall sind nicht ersichtlich.
Der Aufhebungsbescheid vom 30.04.2015 ist hinreichend bestimmt i.S.v. § 33 SGB X. Entgegen dem klägerischen Vorbringen ist erkennbar, ab wann die Aufhebungsentscheidung gelten soll (vgl. zur Notwendigkeit der Erkennbarkeit des Aufhebungszeitraumes Engelmann, in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 33 Rn 8). Zwar wird im angefochtenen Bescheid selbst nicht ausdrücklich ein Tag benannt, ab dem die Aufhebung gelten soll. Bei fehlenden anderweitigen Hinweisen ist der vorliegende Aufhebungsbescheid aber so zu verstehen, dass die Aufhebung ab dem Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides gilt. In der Bescheidbegründung wird ausgeführt, dass der GdB "nun" niedriger zu bewerten sei (vgl. zur Zulässigkeit der Heranziehung der Begründung eines Bescheides bei der Bestimmung des Regelungsgehalts Littmann, in: Hauck/Noftz, SGB, 12/11, § 31 SGB X Rn 35). Dieses "nun" bezieht sich offensichtlich auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses. Nach Kenntnis des Senats findet sich in Aufhebungsbescheiden im hiesigen Zuständigkeitsbereich zudem häufig auf deren Seite 2 der Hinweis, dass mit den ausgegebenen Schwerbehindertenausweisen die Schwerbehinderteneigenschaft bis zum Tag vor dem jeweiligen Bescheiderlass nachgewiesen werden könne. Und im Zusammenhang mit dem hier abgegebenen Teilanerkenntnis hatte die Beklagte zunächst auch einen Vorschlag unterbreitet, bei dem das Teilanerkenntnis ab dem 30.04.2015, also dem Tag des Bescheiderlasses, gelten sollte. Soweit das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 16.06.2015 einen Aufhebungsbescheid, der keine explizite Angabe des Tages enthielt, ab dem die Aufhebung wirken sollte, als unbestimmt und insgesamt rechtswidrig angesehen hat (L 13 SB 120/14, juris Rn 16), teilt der Senat diese Einschätzung aus den vorgenannten Gründen nicht, wobei die genaue Gestaltung der dort gegenständlichen Bescheide unbekannt und dort ausdrücklich mit dem vorherigen Verfahrensverlauf argumentiert worden ist.
Aufzuheben war der angefochtene Bescheid für den Zeitraum 30.04.2015 bis 07.05.2015, da insofern die Voraussetzungen einer Aufhebung für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht gegeben waren. Die "Zukunft" beginnt bei einem Aufhebungsbescheid regelmäßig am Tag nach der Bekanntgabe (vgl. Merten, in: Hauck/Noftz, SGB, Stand: 08/17, § 48 SGB X Rn 30 m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.08.2017 – L 6 VS 1447/16, juris Rn 51; BSG, Urteil vom 09.09.1986 – 7 RAr 47/85, juris Rn 17; wohl auch BSG, Urteil vom 24.04.1997 – 13 RJ 23/96, juris Rn 50; a.A. Steinwedel, in: KassKomm, Stand: September 2016, § 48 SGB X Rn 34 m.w.N.; wohl auch BSG, Urteil vom 24.02.1987 – 11b RAr 53/86, juris Rn 13). Die Bekanntgabe erfolgte hier gemäß § 37 Abs. 2 Satz 3 SGB X am Tag des Zugangs, nach den glaubhaften Angaben des Klägers demnach am 07.05.2018.
Die Rechtswidrigkeit der rückwirkenden Aufhebung führt nicht zur Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide insgesamt. Das LSG Berlin-Brandenburg hat zwar in einem Urteil vom 25.02.2015 in einer vergleichbaren Konstellation einen Aufhebungsbescheid wegen fehlender Teilbarkeit in zeitlicher Hinsicht und nur punktueller Wirkung für insgesamt rechtswidrig gehalten hat (L 13 SB 90/13, juris Rn 14). Der erkennende Senat schließt sich dem aber nicht an und sieht sich dabei in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Das Bundessozialgericht hat in einem Fall, in dem rechtswidrig rückwirkend der Wegfall des Schutzes der Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt worden war, entschieden, dass nur die an § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X zu messende rückwirkende Feststellung rechtswidrig, im Übrigen aber die Klage abzuweisen sei (BSG, Urteil vom 04.07.1989 – 9 RVs 3/88, juris Rn 19 f.). In einem weiteren Fall, in dem über eine rückwirkende Aufhebung von Arbeitslosenhilfe zu entscheiden war, unterschied das Bundessozialgericht ebenfalls zwischen der Rechtmäßigkeit der Aufhebung für die Vergangenheit und der Rechtmäßigkeit der Aufhebung für die Zukunft (BSG, Urteil vom 09.09.1986 – 7 RAr 47/85, juris Rn 16 ff.). Dahinstehen kann, ob dies dogmatisch damit begründet wird, dass eine Aufhebung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X immer auch eine solche nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X beinhaltet, dass eine entsprechende Umdeutung erfolgen kann oder dass es sich schlichtweg um einen Austausch der Begründung handelt.
Der teilweisen Aufhebung der angefochtenen Bescheide steht nicht entgegen, dass nach § 199 Abs. 1, 2. HS SGB IX (zuvor § 116 SGB IX) die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen bei einer Verringerung des GdB auf unter 50 erst drei Kalendermonate nach Bestandskraft des Herabsetzungsbescheides nicht mehr anzuwenden sind. Denn diese Regelung betrifft nur die aus der Schwerbehinderteneigenschaft folgenden Vergünstigungen, nicht aber die Frage der Rechtmäßigkeit des Herabsetzungsbescheides. Nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung gilt diese Norm zudem nicht für steuerrechtliche Vorteile, insbesondere die Pauschbeträge nach § 33b EStG (vgl. Simon, in: jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 199 Rn 36 f.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht. Die Entscheidungen des LSG Berlin-Brandenburg vom 16.06.2015 (L 13 SB 120/14) und 25.02.2015 (L 13 SB 90/13) begründen keine grundsätzliche Bedeutung der Sache im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Zur Bestimmtheit von Verwaltungsakten findet sich eine umfassende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Die Voraussetzungen der Bestimmtheit sind als geklärt anzusehen. Im Übrigen handelt es sich um die Auslegung von Bescheiden. Im Urteil vom 16.06.2015 argumentierte das LSG Berlin-Brandenburg u.a. mit dem dortigen Verfahrensverlauf. Die Entscheidung ist, soweit ersichtlich, eine Einzelentscheidung geblieben. Gleiches gilt für das Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 25.02.2015 (Brandenburg, in: jurisPK-SGB X, Stand: 01.12.2017, § 48 Rn 127 weist auf diese Entscheidung zwar hin, bewertet sie aber nicht). Die dort aufgeworfene Rechtsfrage ist im Übrigen angesichts der hier zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als geklärt anzusehen.
Erstellt am: 18.06.2019
Zuletzt verändert am: 18.06.2019