Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 07.02.2018 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 90 auf 70 sowie die Entziehung der Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) und B (Berechtigung für eine ständige Begleitung).
Die am 00.00.1961 geborene Klägerin ist studierte Germanistin und Historikerin. Sie arbeitet an der Universität U zum Teil als Dozentin, zum Teil als Geschäftsführerin eines Prüfungsamtes.
Die Klägerin ist gesundheitlich maßgeblich beeinträchtigt durch die Folgen einer intrazerebralen Blutung am 14.10.2009. Das erstbehandelnde Krankenhaus, das Kreisklinikum T, diagnostizierte insbesondere eine linksseitige Thalamusblutung mit Hemiparese rechts und Dysarthrie. Anschließend erfolgte eine Rehabilitationsbehandlung in der I Klinik I. Bei der Aufnahme sei die Klägerin noch bettlägerig gewesen. Es habe noch eine deutliche Sprachstörung bestanden. Zum Therapieverlauf heißt es, die Klägerin sei nach Abschluss der Behandlung ausreichend sicher stehfähig gewesen, habe sich im Klinikalltag aber noch mit einem Rollstuhl fortbewegt. Sie benötige weiter einen Rollstuhl. Eine Sprachtherapie sei nicht mehr erforderlich gewesen. Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 11.02.2010 einen GdB von 90 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G", "B" und "aG" fest.
Im Bericht über eine ambulante Behandlung im Kreisklinikum Siegen im März 2010 hieß es, die Klägerin habe gute Fortschritte gemacht und könne wieder gehen, das Gangbild sei jedoch noch deutlich verändert im Sinne eines Wernicke-Mann-Gangbildes. Ende 2010 befand die Klägerin sich in stationärer Rehabilitationsbehandlung der Kliniken St. X. Im Bericht hierüber hieß es, im Bereich der rechten oberen Extremität fänden sich noch starke feinmotorische Defizite. Im Raum und auf Flurlänge könne die Klägerin ohne Hilfsmittel gehen, danach ermüde das rechte Bein rasch. Beim Gehen im Klinikgebäude benutze die Klägerin einen Nordic-Walking-Stock und komme damit gut zurecht. Ein weiteres Hilfsmittel wünsche sie nicht. Eine zentrale Facialisparese rechts habe sich so gut wie komplett zurückgebildet.
Im Rahmen einer 2011 eingeleiteten Nachprüfung holte der Beklagte einen Befundbericht der Praxis Dres. H und versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Arztes Dr. E sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin, Sozialmedizin Dr. B ein. Diese führten aus, der GdB betrage nur noch 60, die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen aG und B lägen nicht mehr vor. Auf eine Anhörung zu einer entsprechend beabsichtigten Aufhebungsentscheidung hin erklärte die Klägerin, die Facialisparese habe sich nicht weitgehend zurückgebildet. Sie könne u.a. wegen Rumpfinstabilität nur kürzeste Wege zurücklegen. Nach wenigen Schritten fühle sich das rechte Bein bleischwer an. Sie benötige einen Behindertenparkplatz. Einen Rollator könne sie wegen der Beeinträchtigung der rechten Hand nicht nutzen. Sie fügte ein Attest des Facharztes für Innere Medizin T aus der Praxis Dres. H bei, wonach eine erhebliche Gangunsicherheit und eine schwere Gleichgewichtsstörung vorlägen, weswegen ohne fremde Hilfe Gehen nur über sehr kurze Strecken und mit großer Anstrengung bzw. Konzentration möglich sei. Ein darüber hinaus vorliegender Bluthochdruck sei medikamentös eingestellt, eine bestehende Linksherzhypertrophie führe nicht zu einer Einschränkung der linksventrikulären Pumpfunktion.
Auf Veranlassung von Dr. B wurde die Klägerin vom Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie F untersucht. Dieser führte aus, eine Facialisparese bestehe nicht mehr. Es zeige sich lediglich noch eine leichtgradige zentrale Fehlsteuerung der Gesichtsmuskulatur rechts. Es liege noch eine mäßiggradige spastische sensomotorische Halbseitenstörung rechts mit entsprechendem Gangbild nach Wernicke-Mann vor. Der GdB betrage 70, die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen aG und B lägen nicht mehr vor. Allerdings werde das "Merkzeichen aG-light" befürwortet. Dr. B folgte diesem Gutachten, strich aber den Hinweis auf "aG-light". Nach erneuter Anhörung vom 02.09.2011 hob der Beklagte mit Bescheid vom 30.11.2011 den Bescheid vom 11.02.2010 teilweise auf. Der GdB betrage nun 70. Die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen B und aG lägen nicht mehr vor. Mit dem Schwerbehindertenausweis könnten die vorherigen Feststellungen bis zum 29.11.2011 nachgewiesen werden. Mit Schreiben ebenfalls vom 29.11.2011 wandte die Klägerin ein, die Untersuchung durch Herrn F sei nicht ausreichend gewesen, insbesondere habe keine Untersuchung im Außenbereich stattgefunden. Dort sei sie im Ergebnis hilflos. Auf der Arbeit erhalte sie nunmehr einen Greifrollstuhl mit Liftfunktion. Am 07.12.2011 legte sie Widerspruch ein. Die Bezirksregierung Münster wies diesen mit Widerspruchsbescheid vom 29.12.2011 zurück.
Am 27.01.2012 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Dortmund erhoben und ihr Vorbringen vertieft. Der Hinweis von Herrn F auf "aG-light" zeige, dass sie einen Behindertenparkplatz benötige.
Das Sozialgericht hat zunächst von Amts wegen ein Sachverständigengutachten aufgrund ambulanter Untersuchung des Facharztes für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie, Verkehrsmedizin Dr. M eingeholt. Dieser hat ausgeführt, der nervus facialis sei unauffällig. Es bestehe eine Hemiparese rechts mit einem Paresegrad 3-4, einer leichten Tonussteigerung am rechten Bein und einer hochgradigen Feinmotorikstörung der rechten Hand. Das Gangbild sei deutlich verlangsamt, relativ kleinschrittig, mit einem Stock aber sicher. Der rechte Fuß werde etwas nachgezogen, Wendung mit zwei Zwischenschritten, auch diese gelinge sicher. Es sei eine deutliche Besserung eingetreten. Der GdB betrage 70. Laut Abschlussbericht über die zweite Rehabilitationsbehandlung sei die Klägerin im November 2010 wieder mit einem Nordic-Walking-Stock sicher gehfähig gewesen. Das gelte auch für November 2011. Es könne eine Gehstrecke von 20-30 Metern angenommen werden. Bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei sie nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen.
Der Beklagte hat hierzu unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vorgetragen, das Gutachten bestätige seine Beurteilung. Bei einem GdB von weniger als 80 komme das Merkzeichen aG nicht in Betracht.
Die Klägerin hat Atteste von Herrn T und ihren Physiotherapeuten vorgelegt und vorgetragen, neben der Tiefensensibilität fehle es ihr an Rumpfstabilität. Die Facialisparese bestehe fort. Da sie ihren Fuß nicht spüre, müsse sie diesen ständig im Blick behalten. Das Gehen erfolge von den ersten Schritten an unter größter Anstrengung. Auch ein Paresegrad 4 bedeute eine erhebliche Krafteinschränkung. Das Merkzeichen B stehe zu, weil sie nicht sicher stehen und nicht schnell genug ein- und aussteigen könne. Denkbar sei eine vergleichsweise Einigung dahingehend, dass der GdB abgesenkt, die Aufhebung von B und aG aber zurückgenommen werde.
Herr T gibt in dem Attest für eine private Krankenversicherung an, es bestehe eine zentrale Facialisparese. Die grobe Kraft in Arm und Bein sei gering eingeschränkt (Kraftgrad 4 von 5). Trotz anhaltender Verbesserung der Eigenmobilität sei selbständiges Gehen nur über kurze Strecken möglich mit Anstrengung und unter äußerster Konzentration. Bei mittleren Strecken sei ein Gehwagen oder Rollstuhl nötig. Die Physiotherapeuten geben an, die Rumpfstabilität sei verbesserungsfähig. Gleichgewichtsreaktionen seien andeutungsweise vorhanden. Die motorischen Ausfälle des Nervus facialis seien weitgehend behoben. Die Klägerin habe immense Fortschritte gemacht.
Der Beklagte hat hierzu vorgetragen, die Atteste seien gerade ein Beleg für eine wesentliche Besserung.
Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht sodann ein Sachverständigengutachten aufgrund ambulanter Untersuchung des Chefarztes der D Klinik für Neurologie J, des Facharztes für Neurologie, Physikalische Therapie und Balneologie, Sozialmedizin Dr. V eingeholt. Dr. V hat ausgeführt, es liege keine Störung der Gesichtsmuskulatur vor. Es bestehe eine beinbetonte Hemiparese rechts mit spastischer Tonuserhöhung ohne Muskelatrophien. Im Vergleich zu den letzten Begutachtungen zeige sich keine richtungsweisende Befundänderung. Eine Sprachstörung sei nicht mehr nachzuweisen. Die Klägerin sei mit Hilfsmitteln über kurze Strecken gehfähig, benötige aber weiterhin Hilfe bei den Aktivitäten des täglichen Lebens. Der GdB betrage 70. Während ihr 2010 keine Gehstrecke zuzumuten gewesen sei, sei ihr seit November 2011 eine Gehstrecke von geschätzt 300 Metern zuzumuten. Sie sei bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen angewiesen, da Treppen und Absätze aufgrund der erheblichen spastischen Tonuserhöhung nicht bewältigt werden könnten.
Der Beklagte hat hierzu vorgetragen, die Bejahung des Merkzeichens B werde nicht durch entsprechende Befunde unterlegt.
Die Klägerin hat vorgetragen, Dr. V sei ergänzend zu vernehmen. Er beantworte nicht die Frage, ob die Klägerin sich nur mit großer Anstrengung fortbewegen könne. Ein Gehversuch im Untersuchungszimmer sei abgebrochen worden. Die Schätzung einer Gehstrecke von 300 Metern sei nicht nachvollziehbar. In der Reha in H sei sie nur in Begleitung in der Lage gewesen, sich mithilfe eines Gehstocks fortzubewegen.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 07.02.2018 abgewiesen. Es liege eine wesentliche Änderung der Verhältnisse vor. Nach Maßgabe von Teil B Nr. 3.1.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) sei der GdB innerhalb des eröffneten Bewertungskorridors von 30-100 mit 70 anzusetzen. Nachdem die Klägerin zunächst auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen sei, sei sie Ende 2011 mit einem Gehstock wieder allein gehfähig gewesen. Das Merkzeichen aG stehe ebenso wenig zu wie das Merkzeichen B. Soweit Dr. V die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung damit begründe, dass eine erhebliche spastische Tonussteigerung im rechten Bein vorliege, stehe dies im Gegensatz zu dem früheren und damit im Hinblick auf den relevanten Beurteilungszeitpunkt zeitnäheren Befund von Dr. M, der nur eine leichte Tonussteigerung angenommen habe. Das Antragsrecht nach § 109 SGG sei verbraucht. Auf die ergänzenden Fragen an Dr. V komme es nicht an. Er habe die Fragen des Gerichts auch hinreichend beantwortet.
Die Klägerin hat gegen das ihrer Bevollmächtigten am 21.03.2018 zugestellte Urteil am 16.04.2018 Berufung eingelegt und wiederholt beantragt, beide Sachverständigen zur Erläuterung ihrer Gutachten zu laden. Sie berufe sich auf ihr Fragerecht, das auch für Gutachten nach § 109 SGG gelte. Das Sozialgericht stelle nunmehr überraschend auf den Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides ab, habe aber in der Beweisanordnung nach den gesundheitlichen Verhältnissen "seit" November 2011 gefragt. Die Gutachter hätten entsprechend gar nicht die erforderlichen Feststellungen getroffen. Ggf. hätte ihre Freundin Prof. Dr. K für die fehlende Gehfähigkeit zum Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung als Zeugin benannt werden können. Die fehlende Gehfähigkeit ergebe sich zudem aus dem damaligen Attest von Herrn T. Die in den späteren Attesten beschriebenen Fortschritte seien für den damaligen Zeitpunkt nicht relevant. Im Übrigen bestehe weiterhin eine Stand- und Gangunsicherheit. Die Klägerin hat außerdem ein Attest der Kliniken St. X vorgelegt, wonach seinerzeit die Notwendigkeit einer Begleitperson für die Rückreise bestanden habe.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 13.03.2020 hat der Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid für den Zeitraum 30.11.2011 bis 31.12.2011 aufgehoben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 07.02.2018 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 30.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 29.12.2011 aufzuheben,
hilfsweise den Sachverständigen Dr. M zu den Einwendungen und Fragen zu seinem Gutachten vom 15.10.2012 und den ergänzenden Stellungnahmen vom 19.11.2018, 07.05. und 18.12.2019 in den klägerischen Schriftsätzen vom 18.03.2013 und 11.08.2014 in erster Instanz sowie 13.07.2018, 25.03.2019, 27.06.2019 und 20.02.2020 zu hören,
weiterhin den Sachverständigen Dr. V zu den Einwendungen und Fragen zu seinem Gutachten vom 27.01.2017 und den ergänzenden Stellungnahmen vom 14.02.2019, 23.05.2019 und 21.01.2020 in den klägerischen Schriftsätzen vom 19.04.2017 in erster Instanz und 13.07.2018, 25.03.2019, 27.06.2019 und 20.02.2020 zu hören.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat mehrere ergänzende Stellungnahmen nach Aktenlage von Dr. M und Dr. V eingeholt und dabei darauf hingewiesen, dass maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt der 29.12.2011 sei.
Auf Hinweis von Dr. M auf ein Gutachten seines früheren Kollegen, des Facharztes für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Schlegel über die Klägerin aus 2011 hat der Senat mit Einverständnis der Klägerin dieses für die Deutsche Rentenversicherung erstellte Gutachten beigezogen und in das Verfahren eingeführt. In dem Gutachten heißt es, die Klägerin habe angegeben, dass sie laut ihrem Krankengymnasten sieben Minuten gehen könne. Es bestehe allenfalls eine diskrete Facialisparese. Zehen- und Fersenstand seien möglich, ebenso das monopedale Hüpfen. Die Klägerin könne etwa 100 bis 200 Meter sicher, aber weniger als 500 Meter gehen.
Dr. M hat in seinen ergänzenden Stellungnahmen ausgeführt, die Facialisparese sei nicht mehr zu objektivieren gewesen. Bei der Beobachtung des Gangbildes sei keinesfalls eine maximale Anstrengung von den ersten Schritten an feststellbar gewesen. Dieser Befund decke sich mit dem in der Kliniken St. X erhobenen Befund. Die bestehende Spastik vermittle dem gelähmten Bein erst eine gewisse Stabilität. Angesichts der bestehenden Gehfähigkeit einerseits und einer nur geringen Spastik andererseits müsse von einer guten Kraftentwicklung ausgegangen werden. Die Gangprobe habe im Flur vor dem Arztzimmer stattgefunden, wo ausreichend Raum gewesen sei. Die Sensibilitätsstörung sei für die Gehfähigkeit nicht entscheidend. Die Notwendigkeit einer visuellen Kontrolle des Fußes bedeute keine große Anstrengung. Auch Herr T beschreibe in seinem Attest aus 2011 eine gut erhaltene Restkraft. Eine Rumpfinstabilität könne schon deshalb nicht vorliegen, da die Klägerin dann auch kaum auf einem Stuhl sitzen könne. Sie habe zudem angegeben, sich selbständig an- und ausziehen zu können. Der von Herrn T1 beschriebene Befund sei nur schwer mit einer Hemiparese zu vereinbaren. Gleichwohl spreche das Gutachten nicht für eine das Merkzeichen aG rechtfertigende Einschränkung der Gehstrecke. Der von der Klägerin beschriebene einmalige Sturz im Zug reiche nicht für die Annahme eines regelmäßigen Angewiesenseins auf Begleitung. Einstiegsmöglichkeiten seien oftmals behindertengerecht ausgestaltet, so dass kein genereller Ausschluss vom öffentlichen Verkehr vorliege.
Dr. V hat ausgeführt, die Klägerin habe keinerlei Einschränkung der Gesichtssensibilität angegeben. Die seit Ende 2010 dokumentierten Befunde zur Gehfähigkeit stimmten weitgehend überein. Das Gehen sei für die Klägerin anstrengend, weil die spastische Parese überwunden werden müsse. Die Parese und das daraus resultierende Gangbild seien aber mit Hilfsmitteln kompensierbar. Ihm sei nicht erinnerlich, dass ein beabsichtigter Gehversuch bei der Untersuchung abgebrochen worden sei. Hinsichtlich des Merkzeichens B komme es maßgeblich auf eine rechtliche Würdigung an. Das Gutachten von Herrn T1 stütze die Annahme einer Gehstrecke von mehreren hundert Metern.
Die Klägerin hat auf die ergänzenden Stellungnahmen hin jeweils ausgeführt, diese seien nicht genügend, weswegen weiterhin eine persönliche Anhörung in einem Termin begehrt werde.
Zu Dr. M hat sie ausgeführt, die von ihm durchgeführte Gehprobe sei auf einem engen Flur erfolgt. Er führe nicht aus, welche Anstrengung dies für sie bedeutet habe. Bei der Wende habe sie sich an der Wand abstützen müssen. Er sei nicht auf den Bericht von Herrn T aus Mai 2011, auf die fehlende Rumpfstabilität und auf die Notwendigkeit der Überwindung von Stufen im öffentlichen Nahverkehr eingegangen. Es sei unzutreffend, dass die fehlende Sensibilität sich nicht auf die Gehfähigkeit auswirke. Sie müsse ständig ihren Fuß kontrollieren, was eine hohe Konzentration erfordere. Dass sie sitzen könne, bedeute nicht, dass die Rumpfstabilität gegeben sei. Ob sie sich an- und ausziehen könne, sei nicht untersucht worden. Sie könne sich selbst nicht an- und ausziehen, was auch an der Beeinträchtigung der oberen rechten Extremität liege. Insofern helfe ihr Prof. Dr. K, was diese auch bezeugen könne.
Zu Dr. V hat die Klägerin ausgeführt, dieser habe sich weder zu den Anstrengungen geäußert, die das Gehen für sie bedeutet habe, noch zum Bericht von Herrn T. Seine Einschätzung, sie könne 300 Meter gehen, sei nicht plausibel. Er verschweige, dass ein beabsichtigter Gehversuch abgebrochen worden sei. Wenn er sich jetzt darauf berufe, dass er sich daran nicht erinnern könne, sei dies nicht ausreichend.
Zu dem Gutachten von Herrn T1 hat die Klägerin ausgeführt, dieses sei nicht verwertbar. Es genüge nicht den Mindestanforderungen an ein wissenschaftliches Gutachten. Die Deutsche Rentenversicherung habe weder zuvor drei Gutachter zur Auswahl vorgeschlagen, noch habe sie einen konkreten Gutachter benannt, sondern den Auftrag einfach an eine Gemeinschaftspraxis versandt. Die dort erhobenen Befunde seien fragwürdig. Dies sähen auch die gerichtlich bestellten Gutachter so. Sie könne sich nicht erinnern gesagt zu haben, dass sie laut ihren Krankengymnasten sieben Minuten gehen könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, deren jeweiliger wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nach der teilweisen Aufhebung des angefochtenen Bescheides durch den Beklagten im Berufungsverfahren unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage im Wesentlichen zu Recht abgewiesen. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nur insofern im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert gewesen, als die Aufhebungsentscheidung bereits mit Wirkung ab dem 30.11.2011 und nicht erst ab dem 04.12.2011 getroffen worden ist. Dem hat der Beklagte mit seiner teilweisen Aufhebung Rechnung getragen.
Streitgegenstand ist der Aufhebungsbescheid vom 30.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Münster vom 29.12.2011. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist der des Widerspruchsbescheids (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 10.09.1997 – 9 RVs 15/96, juris Rn. 11; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rn. 33).
Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides ist § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Vergleichsmaßstab sind die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Bescheides des Beklagten vom 11.02.2010.
Im Vergleich der Verhältnisse am 11.02.2010 und 29.12.2011 ist eine wesentliche Änderung eingetreten. Eine wesentliche Änderung liegt im Schwerbehindertenrecht vor, wenn geänderte gesundheitliche Verhältnisse einen um 10 höheren oder niedrigeren GdB begründen (vgl. Teil A Nr. 7a Satz 1 VMG und etwa BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R, juris Rn. 26) oder die gesundheitlichen Voraussetzungen von Merkzeichen entfallen sind (vgl. Teil A Nr. 7a Satz 2 VMG). Das war hier der Fall. Während Anfang 2010 der GdB 90 betrug und die gesundheitlichen Voraussetzungen (u.a.) der Merkzeichen aG und B vorlagen, war dies Ende 2011 nicht mehr der Fall. Der GdB betrug zu diesem Zeitpunkt nur noch 70.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) a.F. sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden festgestellt, § 69 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 SGB IX a.F. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F. gelten für diese Feststellung die Maßstäbe der aufgrund des § 30 Abs. 16 BVG a.F. erlassenen Rechtsverordnung (VersMedV vom 10.12.2008) und insbesondere ihrer Anlage 2 (VMG) entsprechend.
Die Bemessung des (Gesamt-)GdB ist in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG, Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B, juris Rn. 5 m.w.N.). In einem ersten Schritt sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB, in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der maßgebliche (Gesamt-)GdB zu bilden (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R, juris Rn. 18 m.w.N.). Außerdem sind nach Teil A Nr. 3b VMG bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der Tabelle der VMG feste GdB-Werte angegeben sind (vgl. BSG, Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 4/10 R, juris Rn. 25; vgl. zum Ganzen auch LSG NRW, Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11, juris Rn. 42 ff. und daran anschließend BSG, Beschluss vom 17.04.2013 – B 9 SB 69/12 B, juris Rn. 8 ff.).
Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 SGB IX a.F. stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind.
1) GdB
Führendes Leiden waren und sind die Folgen der 2009 erlittenen Hirnblutung.
Maßstab für die Beurteilung ist Teil B Nr. 3.1 VMG (Hirnschäden). Gemäß Teil B Nr. 3.1.1 VMG werden Hirnschäden ab einer schwereren Leistungsbeeinträchtigung generell mit einem GdB von 70-100 bewertet. Für Hirnschäden mit isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndromen enthält Teil B Nr. 3.1.2 VMG weitere Beurteilungshilfen. So werden Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen (spino-) zerebellarer Ursache je nach dem Ausmaß der Störung der Ziel- und Feinmotorik einschließlich der Schwierigkeiten beim Gehen und Stehen mit einem GdB von 30-100 bewertet. Zerebral bedingte Teillähmungen und Lähmungen bedingen bei leichten Restlähmungen und Tonusstörungen der Gliedmaßen einen GdB von 30. Bei ausgeprägteren Teillähmungen und vollständigen Lähmungen ist der GdB aus Vergleichen mit dem GdB bei Gliedmaßenverlusten, peripheren Lähmungen und anderen Funktionseinbußen der Gliedmaßen abzuleiten. Die vollständige Lähmung von Arm und Bein (Hemiplegie) bedingt einen GdB von 100.
Ausweislich des Entlassungsberichts der I Klinik I aus Dezember 2009 benötigte die Klägerin seinerzeit im Klinikalltag noch einen Rollstuhl. Die obere Extremität konnte im Alltag nur geringfügig eingesetzt werden. Auch wenn demnach keine Hemiplegie vorlag, war der Zustand der Klägerin Anfang 2010 nicht weit von einer solchen Hemiplegie entfernt, so dass ein GdB von 90 gerechtfertigt war.
Ende 2011 – die Klägerin hatte Ende 2010 eine weitere stationäre Rehabilitationsmaßnahme absolviert und stand seit Ende 2009 in laufender physiotherapeutischer Behandlung – hatte sich der Zustand der Klägerin merklich gebessert. Im Reha-Entlassungsbericht der Kliniken St. X von Ende 2010 wurde die Klägerin bereits bezogen auf ihre Arbeitsstelle wieder für voll erwerbsfähig gehalten, auch wenn etwa bimanuelle Tätigkeiten nicht möglich seien. Im Raum und auf Flurlänge könne sie ohne Hilfsmittel gehen. Eine zentrale Facialisparese habe sich so gut wie komplett zurückgebildet. Die feinmotorischen Defizite hätten sich zumindest leicht gebessert. Ein gutes halbes Jahr später und kurz vor dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt gab Herr F an, es zeige sich noch eine leichtgradige zentrale Fehlsteuerung der Gesichtsmuskulatur rechts, eine Facialisparese finde sich nicht mehr. Es bestehe noch eine mäßiggradige (!) spastische sensomotorische Halbseitenstörung rechts mit entsprechendem Gangbild nach Wernicke-Mann. Damit liegt eine wesentliche Besserung vor. Der von Herrn F angesetzte und vom Beklagten übernommene GdB von 70 entspricht immerhin noch der generellen Vorgabe für Hirnschädigungen mit schwerer Leistungsbeeinträchtigung. Bei einem Parkinson-Kranken würde ein GdB von 80 nach den VMG erst bei einer schweren Störung der Bewegungsabläufe bis zur Immobilität zuerkannt, womit der Zustand der Klägerin nicht vergleichbar ist. Im Bereich der oberen Extremitäten wird nach Teil B Nr. 18.13 VMG ein GdB von 70 erst bei Verlust eines Armes im Oberarm oder im Ellenbogengelenk vergeben, im Bereich der unteren Extremitäten nach Teil B Nr. 18.14 VMG bei Verlust eines Beines im Oberschenkel. Von beidem ist die Klägerin deutlich entfernt. In der Zusammenschau der Beeinträchtigung von oberer und unterer Extremität ist der GdB von 70 gleichwohl gerechtfertigt.
Weitere Leiden, die einen für die Gesamt-GdB-Bildung relevanten Einzel-GdB (vgl. hierzu Teil A Nr. 3.d.ee VMG) begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Laut dem Attest von Herrn T aus Mai 2011 bestand noch eine Bluthochdruckerkrankung, die medikamentös gut eingestellt war und eine Linksherzhypertrophie, die noch nicht zu einer Einschränkung der Pumpfunktion geführt hatte. Mangels Leistungsbeeinträchtigung kann, im Gegensatz zur Einschätzung von Herrn T, nach Teil B Nr. 9.3 VMG kein Einzel-GdB von 20 angenommen werden (vgl. hierzu Wendler/Schillings, VMG, 9. Aufl. 2018, S. 245).
2) Merkzeichen aG
Zu den maßgeblichen Zeitpunkten richtete sich die Beurteilung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG nach Abschnitt II Nr. 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO). Maßgeblich ist danach, ob der Betreffende zu einer der dort genannten Fallgruppen gehört oder im Hinblick auf seine Gehfähigkeit diesen Fallgruppen gleichzustellen ist (vgl. hierzu im Einzelnen BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/14 R, juris Rn. 19 ff. (21); Urteil vom 29.03.2007 – B 9a SB 5/05 R, juris Rn. 11 ff. (14); Urteil vom 29.03.2007 – B 9a SB 1/06 R, juris Rn. 15 ff. (18); vgl. auch Bayerisches LSG, Urteil vom 28.02.2013 – L 15 SB 113/11, juris).
Eine weitere Konkretisierung fand sich in Teil D Nr. 3c VMG a.F. Danach darf die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen (vgl. zur Verbindlichkeit der VMG a.F. im Hinblick auf das Merkzeichen aG BSG, Urteil vom 11.08.2015 – B 9 SB 2/14 R, juris Rn. 11 ff.).
Anfang 2010 war die Klägerin praktisch auf einen Rollstuhl angewiesen. Die entsprechenden Aussagen im Entlassungsbericht der I Klinik I decken sich mit den Angaben der Klägerin gegenüber Dr. V, wonach sie seinerzeit auch mit Hilfsmitteln nicht gehfähig gewesen sei.
Ende 2011 stellte sich das verbliebene Gehvermögen bereits deutlich besser dar. Es war allerdings noch erheblich eingeschränkt durch die Parese, Spastiken und eine Sensibilitätsstörung im Bereich der rechten unteren Extremität. Nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. M wird die Parese in gewisser Weise durch die Spastiken kompensiert, wobei für die Frage, inwiefern das rechte Bein einsetzbar ist, auch die Restkraft von Belang ist. Die beeinträchtigte Sensibilität führt zu fehlender Rückmeldung bzw. Kontrolle, was wiederum dazu führt, dass die Klägerin ihren Fuß beim Gehen beobachten muss. Eine sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Rumpfinstabilität, wie von der Klägerin behauptet, liegt dagegen nicht vor. Sie wird von keinem Gutachter festgestellt. Einzig die behandelnden Physiotherapeuten berichten 2013 davon, dass bei Behandlungsbeginn die Rumpfstabilität noch stark vom Schlaganfall gekennzeichnet gewesen sei und diese nach wie vor "verbesserungswürdig" sei. Gleichzeitig heißt es zum Gangbild, dass eine aufrechte Körperhaltung "über einen längeren Zeitraum noch nicht vollständig vorhanden" sei (Hervorhebung durch den Senat).
Es steht außer Frage, dass die Überwindung der Parese beim Gehen mit einer Anstrengung verbunden war und ist und dass die visuelle Kontrolle des Fußes entsprechende Konzentration erforderte und erfordert. Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts für die Bejahung von aG erforderliche aufs Schwerste eingeschränkte Gehfähigkeit praktisch von den ersten Schritten an liegt damit aber nicht (mehr) vor. Sämtliche Behandler und Gutachter – mit Ausnahme von Herrn T – gehen jedenfalls bei der Nutzung von Hilfsmitteln (die nicht zur Annahme von aG führen, vgl. Wendler/Schillings, a.a.O., S. 468 f.) davon aus, dass ein sicheres Gehen zumindest auf kurzen Strecken möglich ist, ohne dass dies mit erheblichen Anstrengungen verbunden wäre.
Anlässlich einer ambulanten Vorstellung im Kreisklinikum T im März 2010 gab die Klägerin bereits an, "wieder gehen" zu können, wobei noch ein deutlich verändertes Gangbild beschrieben wurde. Im Entlassungsbericht der Kliniken St. X wird für Ende 2010 angegeben, die Klägerin könne sogar ohne Hilfsmittel im Raum und auf Flurlänge gehen, danach (!) ermüde das rechte Bein aber rasch. Nur mit Blickkontakt zum Fuß könne sie "deutlich besser gehen". Im Entlassungsgespräch habe sie angegeben, nun flüssiger und schneller gehen zu können. Herr F beschreibt das typische Wernicke-Mann-Gangbild und verneint das Merkzeichen aG, befürwortet aber "aG-light". Der von der Deutschen Rentenversicherung beauftragte Neurologe T1 gibt 2011 die Aussage der Klägerin wieder, sie könne "laut ihrem Krankengymnasten sieben Minuten gehen". Er geht von einer Gehfähigkeit von 100-200 Metern aus. Dr. M beschreibt im Oktober 2012 ein deutlich verlangsamtes, relativ kleinschrittiges, mit einem Stock aber sicheres (!) Gangbild und sieht darin insbesondere eine Übereinstimmung mit dem Entlassungsbericht der Kliniken St. X. In einer der ergänzenden Stellungnahme betont er, dass eine maximale Anstrengung von den ersten Schritten an "keineswegs" feststellbar gewesen sei. Laut Dr. V fanden sich 2016 keine Muskelatrophien. Der Befund habe sich im Vergleich zu den Vorgutachten nicht wesentlich verändert. Es bestehe mit Hilfsmitteln Gehfähigkeit.
Demgegenüber gab Herr T in seinem Attest aus Mai 2011 an, es bestünden eine erhebliche Gangunsicherheit und schwere Gleichgewichtsstörungen, ein Gehen ohne fremde Hilfe sei nur über sehr kurze Strecken und mit großer Anstrengung und äußerster Konzentration möglich. 2013 gab er an, selbständiges Gehen sei über kurze Strecken mit Anstrengung und unter äußerster Konzentration möglich, bei mittleren oder längeren Distanzen sei die Klägerin auf einen Gehwagen oder Rollstuhl angewiesen. Während die späteren Ausführungen die Annahme von aG nicht zulassen dürften, dürften seine Angaben aus Mai 2011 aG durchaus begründen. Diese Angaben sind jedoch nicht überzeugend. Sie stehen im Widerspruch zu den übrigen Befunden, die zum Teil wenige Monate zuvor, zum Teil wenige Monate danach erhoben wurden. Herr T ist zudem kein Neurologe. Bei der Beurteilung der Aussagekraft von Attesten behandelnder Ärzte ist schließlich zu berücksichtigen, dass zwischen behandelndem Arzt und Patient ein Vertrauensverhältnis besteht, dass die Gefahr der unkritischen Übernahme von Angaben des Patienten birgt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.09.2016 – L 6 VG 381/15, juris Rn 38 m.w.N.; Urteil vom 11.07.2018 – L 3 U 3108/17, juris Rn. 65).
Ob die Klägerin sich, wie sie behauptet, beim Umwenden anlässlich der Gehprobe bei Dr. M an der Wand festgehalten hat, ist im Ergebnis ebenso ohne Belang wie die Frage, ob Prof. Dr. K ihr beim An- und Ausziehen hilft. Zu einer weiteren Sachaufklärung in Gestalt der Vernehmung von Prof. Dr. K zu diesen Fragen als Zeugin musste sich der Senat nicht gedrängt fühlen.
Das Gutachten von Herrn T1 kann ohne Weiteres im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden (vgl. hierzu Keller, a.a.O., § 128 Rn. 7f). Die Klägerin hat der Beiziehung ausdrücklich zugestimmt. Die von ihr nach Kenntnis des Gutachteninhalts vorgetragenen formalen Bedenken führen nicht zur Unverwertbarkeit, zumal es sich nicht um ein gerichtliches Sachverständigengutachten handelt. Zwar weist die Klägerin zutreffend darauf hin, dass der in diesem Gutachten beschriebene Befund sich deutlich besser darstellt als selbst in den späteren Gutachten der gerichtlich bestellten Sachverständigen. Diese äußern auch entsprechende Zweifel. Dies ändert aber nichts daran, dass Herr T1 unbeschadet der Richtigkeit einzelner Feststellungen insgesamt eine Gehfähigkeit beschreibt, die eben nicht das Merkzeichen aG begründet. Sein Gutachten rundet damit das bestehende Bild ab. Entscheidend stützen muss sich der Senat darauf nicht.
Gegen die Bejahung von aG spricht schließlich der GdB von 70. Nach neuer Rechtslage ist für aG ein mobilitätsbezogener GdB von 80 erforderlich (§ 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Zum Teil wurde auch zur hier maßgeblichen alten Rechtslage vertreten, ein GdB von 80 sei erforderlich (vgl. Wendler/Schillings, a.a.O., S. 465 f.). Auch wenn der erkennende Senat sich dem nicht angeschlossen hat, ist zu bedenken, dass die Beeinträchtigung der Klägerin hier insgesamt nur einen GdB von 70 bedingt und dieser zu einem nicht unerheblichen Anteil auf eine für die Gehfähigkeit nicht relevante Beeinträchtigung der oberen rechten Extremität zurückgeht. Je geringer der allein auf die Gehfähigkeit bezogene GdB ist und je mehr er sich von einem GdB von 80 entfernt, desto eher wird aG auch nach alter Rechtslage zu verneinen sein.
3) Merkzeichen B
Gemäß § 146 Abs. 2 SGB IX a.F. sind zur Mitnahme einer Begleitperson schwerbehinderte Menschen berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind.
Gemäß Teil D Nr. 2b VMG ist eine Berechtigung für eine ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, Gl oder H vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind.
Eine relevante Standunsicherheit, die dies begründen könnte, lässt sich den ärztlichen Unterlagen nicht entnehmen. Soweit die Klägerin zur Begründung im Klageverfahren angegeben hat, sie sei einmal mit dem Zug gefahren und dann bei ruckartigem Anfahren gestürzt, weil sie nicht rechtzeitig zu ihrem Platz gelangt sei, ist schon fraglich, ob dies ein krankheitsspezifisches Ereignis war, jedenfalls begründet dieser Vorfall, wie Dr. M zutreffend ausführt, nicht ein "regelmäßiges" Angewiesensein auf Hilfe bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel.
Dr. V hat ausgeführt, die Klägerin könne wegen einer erheblichen spastischen Tonusstörung keine Treppen oder Absätze überwinden. Das Sozialgericht hat demgegenüber zutreffend darauf hingewiesen, dass Dr. M keine erhebliche, sondern nur eine leichte Tonussteigerung festgestellt habe. Herr F sprach von leicht- bis mäßiggradiger Tonuserhöhung. Jedenfalls hat Dr. M auch hiergegen zutreffend das Erfordernis eines "regelmäßigen" Angewiesenseins angeführt. Der Senat kann angesichts auch im Jahr 2011 verbreiteter – wenn auch nicht flächendeckender – Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr nicht positiv feststellen, dass regelmäßig bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel Stufen zu überwinden sind (vgl. auch Wendler/Schillings, a.a.O., S. 435; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2015 – L 6 SB 1430/15, juris Rn. 35, 37; zust. Dahm, Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze und ihre Bedeutung für eine ständige Begleitung, br 2016, S. 75; SG Stade, Urteil vom 06.10.2015 – S 24 SB 38/14, juris Rn. 8; krit. insbesondere zu der Entscheidung des LSG Baden-Württemberg Masuch, in: Hauck/Noftz, SGB IX, 8/18, § 229 Rn. 102).
Das damalige Attest der Kliniken St. X über die Notwendigkeit einer Begleitperson für die Rückreise ist nicht aussagekräftig.
Auch mit ihren Hilfsanträgen hat die Klägerin keinen Erfolg.
Eine Vertagung und Ladung der gerichtlichen Sachverständigen war auch nicht unter dem Aspekt des aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs resultierenden Fragerechts der Klägerin geboten, das, wie die Klägerin zutreffend ausführt, auch für Gutachten nach § 109 SGG gilt (vgl. hierzu und zum Folgenden Keller, a.a.O., § 118 Rn. 12d ff.).
Grundsätzlich kommt eine solche Befragung nur in der jeweiligen Instanz in Betracht. Davon ist dann eine Ausnahme zu machen, wenn das Gericht der betreffenden Instanz einen entsprechenden Antrag übergeht (Keller, a.a.O., Rn. 12g; BSG, Beschluss vom 18.06.2018 – B 9 V 1/18 B, juris Rn. 13 f.). Hier hat die Klägerin erstinstanzlich nur die ergänzende Befragung von Dr. V beantragt, nicht dagegen die ergänzende Befragung von Dr. M. Demnach kann sie im Hinblick auf dessen Gutachten – anders als im Hinblick auf seine ergänzenden Stellungnahmen – das Fragerecht nicht mehr ausüben.
Das Gericht hat jedenfalls die Wahl, anstelle der Ladung die von der Klägerseite gestellten Fragen dem Sachverständigen zur schriftlichen Beantwortung vorzulegen. Es gibt keinen Anspruch darauf, das Fragerecht in jedem Fall mündlich auszuüben (BSG, Beschluss vom 10.12.2013 – B 13 R 198/13 B, juris Rn. 10). Ergänzende schriftliche Stellungnahmen sind hier gleich mehrfach eingeholt worden. Die Sachverständigen haben dabei die diversen Fragen der Klägerin spätestens mit ihren zweiten ergänzenden Stellungnahmen im Berufungsverfahren hinreichend beantwortet. Ein Mehrwert einer persönlichen Befragung ist, zumal angesichts der Maßgeblichkeit eines Beurteilungszeitpunktes im Jahr 2011 und Begutachtungen in den Jahren 2012 und 2016, nicht ersichtlich.
Das Fragerecht begründet im Übrigen keinen Anspruch auf stets neue Befragungen, wenn der Beteiligte und der Sachverständige in ihrer Beurteilung nicht übereinstimmen (BSG, Beschluss vom 10.12.2013 – B 13 R 198/13 B, juris Rn. 18). Spätestens ab den zweiten ergänzenden Stellungnahmen der beiden Sachverständigen im Berufungsverfahren lag ein solcher Fall vor. Dies wird eindrucksvoll dadurch belegt, dass die Klägerin in ihrem darauffolgenden Schriftsatz vom 27.06.2019 die ergänzenden gutachterlichen Äußerungen jeweils als "falsch" bezeichnete. Dadurch wird deutlich, dass es jedenfalls ab diesem Zeitpunkt im Kern nur noch um einen inhaltlichen Dissens ging.
Dafür, dass das Beharren auf einer Ladung der Sachverständigen sich zumindest zuletzt als nicht mehr zielführend darstellt (vgl. Keller, a.a.O.; BSG, Beschluss vom 25.04.2013 – B 13 R 29/12 R, juris Rn. 12), spricht der Umstand, dass die Klägerin als Bezugspunkt ihrer ergänzenden Befragung nicht nur die jeweiligen Gutachten, sondern jede weitere, zum betreffenden Zeitpunkt vorliegende ergänzende Stellungnahme wählte. Zwar kann durchaus auch eine ergänzende Stellungnahme Anlass für eine ergänzende Befragung sein. Dies gilt aber dann nicht, wenn es, wie hier, im Kern immer wieder um dieselben Fragen geht.
In formeller Hinsicht hat der Beklagte mit der teilweisen Aufhebung des angefochtenen Bescheides vom 30.11.2011 dem Umstand Rechnung getragen, dass er mit diesem Bescheid eine Aufhebung ab dem Tag des Bescheiderlasses und damit nicht nur für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, sondern auch für die Vergangenheit nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X vorgenommen hat, ohne dass deren Voraussetzungen vorlagen. Dass die Aufhebung ab dem 30.11.2011 erfolgen sollte, ergibt sich insbesondere aus den Hinweisen zum Ausweisinhalt auf Seite 3 des Bescheides. Die Zukunft i.S.v. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X beginnt aber erst am Tag nach der Bekanntgabe des Aufhebungsbescheids, hier unter Berücksichtigung von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X am 04.12.2011. Die teilweise Rechtswidrigkeit des Aufhebungsbescheides lässt seine Rechtmäßigkeit im Übrigen – also im Hinblick auf die Aufhebung für die Zukunft – unberührt (vgl. zum Ganzen Urteil des erkennenden Senats vom 16.11.2018 – L 13 SB 280/17, juris Rn. 41 ff.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der klägerische Erfolg im Berufungsverfahren ist im Verhältnis zum eigentlichen Begehren geringfügig (arg. ex § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).
Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht (vgl. auch hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 16.11.2018 – L 13 SB 280/17, juris Rn. 46). Die gegenteilige Beurteilung durch das LSG Rheinland-Pfalz in seinen Urteilen vom 16.10.2019 (L 4 SB 69/19 und L 4 SB 77/19) ändert hieran nichts.
Erstellt am: 11.08.2020
Zuletzt verändert am: 11.08.2020