Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 14.11.2017 geändert und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt lediglich noch die Feststellung der Unwirksamkeit eines Bescheides.
Der im März 1948 in Bulgarien geborene Kläger lebt in einer Mietwohnung in N. Bis zum 31.06.2013 bezog er vom Jobcenter N Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Seit Erreichen der Regelaltersgrenze erhält er weder Leistungen nach dem SGB II noch nach dem SGB XII.
Am 13.08.2014 beantragte der Kläger bei der Beklagten u.a. die Übernahme von Stromkosten i.H.v. monatlich 32 EUR sowie der Nachforderung aus einer Mietnebenkostenabrechnung für das Jahr 2013 i.H.v. 307,73 EUR.
Die Beklagte forderte den Kläger anschließend wiederholt, zuletzt unter Fristsetzung bis zum 28.10.2014 und Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung (§§ 60 ff. SGB I), auf, diverse Unterlagen u.a. zu seinem Einkommen und Vermögen sowie zur Höhe seiner Unterkunftskosten vorzulegen. Der Kläger übersandte daraufhin am 24.10.2014 lediglich diverse Kontoauszüge bzgl. seines Girokontos (u.a. vom 19.08.2014 bis 02.09.2014) sowie die Quittung über den Kauf eines Pkw.
Durch (am 31.10.2014 mit einfachem Brief versandtem) Bescheid vom 30.10.2014 versagte die Beklagte die Übernahme der Nachforderung aus der Heiz- und Nebenkostenabrechnung für das Jahr 2013 i.H.v. 307,73 EUR sowie der Stromkosten nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I.
Am 16.02.2015 hat der Kläger bei dem Sozialgericht Münster Klage erhoben und sinngemäß (u.a.) die Übernahme der Betriebskostennachforderung für 2013 sowie monatlicher Stromkosten von 35 EUR begehrt. Er habe gegen den Bescheid vom 30.10.2014 am 05.11.2014 Widerspruch erhoben, ohne dass dieser von der Beklagten bislang beschieden worden sei.
Das Sozialgericht hat dem Kläger nach vorheriger Anhörung mit Beschluss vom 04.05.2015 nach § 72 Abs. 1 SGG einen besonderen Vertreter beigeordnet. Dieser hat nach Akteneinsicht mit am 28.08.2015 eingegangenem Schriftsatz vorgetragen, die Klage sei zunächst als Untätigkeitsklage, gerichtet auf Bescheidung des Widerspruchs vom 05.11.2014, auszulegen. Zwar sei in den Verwaltungsvorgängen kein Widerspruch enthalten; der Kläger habe einen solchen nach seinem eigenen Vorbringen jedoch erhoben. Unabhängig davon sei der angefochtene Bescheid vom 30.10.2014 auch rechtswidrig; denn dem prozessunfähigen Kläger könnten Mitwirkungspflichten nach §§ 60 bis 64 SGB I nicht zugemutet werden.
In einem bei dem erkennenden Senat anhängig gewesenen, bereits erledigten Streitverfahren (LSG NRW, Urteil vom 16.10.2017 – L 20 SO 384/15) hat der Senat den Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten Dr. F nach § 106 SGG mit einem Sachverständigengutachten beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 25.11.2016 zu der Beurteilung gelangt, dass der Kläger aufgrund einer Persönlichkeitsstörung schon seit Juli 2013 nicht für sich selbst im Verwaltungsverfahren tätig werden könne und dauerhaft prozessunfähig, höchstwahrscheinlich auch geschäftsunfähig sei. Auf den Inhalt des Gutachtens, welches das Sozialgericht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht hat, wird Bezug genommen.
In der nichtöffentlichen Sitzung vom 25.10.2017 hat der Kammervorsitzende mit den Beteiligten die Auswirkung des Gutachtens auf das hiesige Verfahren erörtert. Der besondere Vertreter des Klägers hat anschließend die Auffassung vertreten, dass der Versagungsbescheid vom 30.10.2014 dem Kläger schon nicht wirksam bekannt gegeben worden sei. Er selbst habe die mangelnde Bekanntgabe nach seiner Bestellung auch nicht genehmigt. Ohnehin sei ein besonderer Vertreter, der im Gerichtsverfahren nach § 72 SGG bestellt werde, schon nicht befugt, die Bekanntgabe von Bescheiden an einen Prozessunfähigen aus dem Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren zu genehmigen.
Der besondere Vertreter des Klägers hat in der nichtöffentlichen Sitzung vom 25.10.2017 beantragt,
den Bescheid vom 30.10.2014 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag vom 12.08.2014 zu entscheiden, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, über den Widerspruch des Klägers vom 05.11.2014 zu entscheiden.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, die (Untätigkeits-)Klage sei bereits unzulässig; denn der Kläger habe gegen den Bescheid vom 30.10.2014 keinen Widerspruch erhoben. Darüber hinaus sei die Klage auch unbegründet. Die Versagungsentscheidung sei nicht zu beanstanden.
Das Sozialgericht hat den Kläger und seinen besonderen Vertreter erfolglos aufgefordert, ein etwaiges Widerspruchschreiben gegen den Bescheid vom 30.10.2014 vorzulegen sowie die Art der Übermittlung des vermeintlichen Widerspruchs vom 05.11.2014 mitzuteilen.
Mit (ohne mündliche Verhandlung ergangenem) Urteil vom 14.11.2017 hat das Sozialgericht unter Zulassung der Berufung festgestellt, dass der Bescheid vom 30.10.2014 nicht wirksam geworden sei, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Soweit der Kläger die Aufhebung des Versagungsbescheids vom 30.10.2014 und Bescheidung seines Antrags vom 13.08.2014 begehre, sei die ggf. als kombinierte Anfechtungs- und Untätigkeitsklage statthafte Klage unzulässig. Die Beklagte sei nicht i.S.v. § 88 Abs. 1 bzw. 2 SGG untätig geblieben. Sie habe binnen sechs Monaten über den Antrag des Klägers entschieden. Da der Kläger nicht nachgewiesen habe, gegen den Versagungsbescheid Widerspruch erhoben zu haben, sei auch die Erteilung eines Widerspruchsbescheides nicht notwendig gewesen. Die Zulässigkeit der Anfechtungsklage scheitere daher an der fehlenden Durchführung des Widerspruchsverfahrens (§ 78 SGG). Der als solcher auszulegende weitere Antrag, mit dem der Kläger sinngemäß die Feststellung der Unwirksamkeit des Versagungsbescheides vom 30.10.2014 begehre, sei hingegen nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 4 SGG statthaft und begründet. Der Bescheid vom 30.10.2014 sei nicht wirksam bekanntgegeben worden (§§ 37, 39 Abs. 1 SGB X). Der Kläger sei zum Zeitpunkt der (vermeintlichen) Bekanntgabe handlungs- und prozessunfähig gewesen. Eine Bekanntgabe gegenüber dem besonderen Vertreter des Klägers sei ebenfalls nicht erfolgt. Dieser habe die mangelnde Bekanntgabe des Versagungsbescheides vom 30.10.2014 auch nicht genehmigt. Hierzu sei er rechtlich schon nicht befugt gewesen. Ein besonderer Vertreter i.S.v. § 72 SGG könne zwar schwebend unwirksame Handlungen eines Prozessunfähigen im gerichtlichen Verfahren genehmigen. Handlungen aus dem Verwaltungsverfahren und die nicht wirksame Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber einem Prozessunfähigen könne jedoch lediglich ein Vertreter genehmigen, der gemäß § 15 SGB X im Verwaltungsverfahren für den Betroffenen bestellt worden sei. Folglich könne der besondere Vertreter des Klägers das Recht auf ordnungsgemäße Bekanntgabe nicht mit der Folge verwirken, dass der angefochtene Versagungsbescheid ex tunc wirksam werde. Im Übrigen habe dieser sich auch nicht rügelos auf die fehlende Bekanntgabe eingelassen; denn er habe sich bereits nach seiner Bestellung auf die fehlende Prozessfähigkeit des Klägers berufen. Auf die weiteren Einzelheiten der Entscheidung wird Bezug genommen.
Dagegen hat die Beklagte am 13.12.2017 Berufung eingelegt. Die Klage habe insgesamt keinen Erfolg. Auch die vom Sozialgericht als solche gewertete Feststellungsklage sei schon unzulässig. Zum einen fehle es an einem Feststellungsinteresse des Klägers; zum anderen habe er die Möglichkeit gehabt, eine Anfechtungs- oder Leistungsklage zu erheben. Unabhängig hiervon sei die Feststellungsklage auch unbegründet. Der besondere Vertreter des Klägers habe sich nach Akteneinsicht auf den (unterstellten) Mangel der Bekanntgabe des Bescheides vom 30.10.2014 zumindest rügelos eingelassen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 14.11.2017 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt durch seinen besonderen Vertreter,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Die Feststellungsklage sei zulässig und begründet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Vorgänge (Verwaltungsakten der Beklagten und Streitakten des Sozialgerichts Münster – S 20 SO 32/15) Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
A) Streitig ist allein noch die vom Sozialgericht ausgesprochene Feststellung, dass der Bescheid vom 30.10.2014 nicht wirksam geworden ist; denn gegen die Abweisung der Klage im Übrigen hat der insofern allein beschwerte Kläger keine Berufung eingelegt.
B) Die Berufung der Beklagten ist zulässig, insbesondere unabhängig von dem Erreichen eines Mindestbeschwerdewerts (vgl. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG) statthaft; denn das Sozialgericht hat die Berufung in dem angefochtenen Urteil zugelassen. Die Berufung ist auch begründet.
Ob die zweitinstanzlich allein noch verfolgte Feststellungsklage, auf welche die Beklagte sich im Berufungsverfahren jedenfalls rügelos eingelassen hat (vgl. § 99 Abs. 2 SGG), zulässig ist, kann offen bleiben. Insofern kann insbesondere dahinstehen, ob bei nicht wirksam bekannt gegebenen Verwaltungsakten (ausschließlich) eine Anfechtungsklage und/oder (daneben) eine Feststellungsklage statthaft ist. Ferner braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob sich eine Feststellungsklage – deren Statthaftigkeit unterstellt – nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 4 SGG richtet (vgl. zu diesen Meinungsstreitigkeiten Pattar in jurisPK-SGB X, § 37 Rn. 174, Stand: 01.12.2012) sowie unter welchen Voraussetzungen ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit eines Verwaltungsakts bei (mangelnder) Bekanntgabe besteht. Schließlich kann offen bleiben, ob eine solche Klage gegenüber einer Anfechtungs- und Leistungsklage zumindest subsidiär ist (vgl. zum Subsidiaritätsgrundsatz allgemein Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 12. Auflage 2017, a.a.O., § 55 Rn. 19) und dies insbesondere auch dann gilt, wenn eine etwaige Anfechtungsklage unzulässig ist; denn die Anfechtungsklage hat der Kläger im Berufungsverfahren nicht mehr verfolgt (s.o.) und die Feststellungsklage ist jedenfalls unbegründet.
I. Der Kläger kann nicht die Feststellung beanspruchen, dass der Bescheid vom 30.10.2014 unwirksam ist. Dieser ist dem Kläger im Rechtssinne zugegangen und damit wirksam bekanntgegeben worden. Zwar konnte der Versagungsbescheid dem Kläger (persönlich) gegenüber nicht wirksam bekannt gegeben werden (dazu unter 1.). Die mangelnde Bekanntgabe wurde jedoch im Klageverfahren geheilt (dazu unter 2.).
1. Ein Verwaltungsakt, der – wie hier – einer rechtlich handlungsunfähigen Person i.S.d. § 11 SGB X zugegangen ist, ist mangels Bekanntgabe gemäß § 37 SGB X unwirksam (vgl. Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 37 Rn. 8; Neumann in Hauck/Noftz, SGB X, K § 11 Rn. 62, Stand: Dez. 2016, sowie Pattar, a.a.O., § 37 Rn. 48 m.w.N.). Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. F vom 25.11.2016, das der Senat in einem weiteren, bereits beendeten Berufungsverfahren (L 20 SO 385/15) in Auftrag gegeben und das hier im Wege des Urkundenbeweises Verwertung gefunden hat, steht fest, dass der Kläger aufgrund einer schwerwiegenden pathologischen Persönlichkeitsstruktur (auch schon) seit Juli 2013 dauerhaft prozessunfähig ist und damit im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom 30.10.2014 nicht in der Lage war, für sich selbst im Verwaltungsverfahren tätig zu werden. Zweifel an der Aussagekraft des Gutachtens bestehen nicht; es ist in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Die Einschätzung des Sachverständigen bestätigt zudem die in einer Vielzahl von Vorprozessen gewonnenen, in dem Gutachten wiedergegebenen und den Beteiligten bekannten Erkenntnisse. Sie stimmt insbesondere mit den Ergebnissen des Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. S in einem zur Frage der Betreuerbestellung für den Kläger (auf Veranlassung des Amtsgerichts Münster – 27 XVII K 1153) erstatteten, den Beteiligten ebenfalls bekannten Gutachten überein. Beide Sachverständige sind in einem Erörterungstermin vom 22.08.2012 gemeinsam von den Vorsitzenden des erkennenden Senats sowie des 7. Senats des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen ergänzend gehört worden; sie konnten schon seinerzeit überzeugend die mangelnde Prozessfähigkeit des Klägers darlegen, der allein vor dem Landessozialgericht eine Unzahl von Verfahren in gänzlich unverständiger Weise geführt hat und gerichtlichen Hinweisen in keiner Weise sachgeleitet nachgehen kann.
2. Der Kläger bzw. sein besonderer Vertreter hat sein Recht, sich auf die mangelnde Bekanntgabe des Versagungsbescheids vom 30.10.2014 zu berufen, jedoch zumindest verwirkt.
Insofern lässt der Senat dahinstehen, ob der in Rede stehende Bescheid dem besonderen Vertreter des Klägers bekannt gegeben wurde. Zwar wird ein Verwaltungsakt bei Geschäftsunfähigkeit eines Beteiligten wirksam, wenn er seinem besonderen Vertreter oder Betreuer bekanntgegeben wird (vgl. BSG, Urteil vom 02.07.1997 – 9 RV 14/96 Rn. 18). Der Versagungsbescheid ist dem besonderen Vertreter des Klägers durch die Beklagte jedoch nicht eigens bekannt gegeben worden. Dieser hat vom Inhalt des Versagungsbescheides nach seiner Bestellung vielmehr lediglich durch Akteneinsicht Kenntnis erhalten. Eine zufällige Kenntnisnahme bei Akteneinsicht reicht nach überwiegender Ansicht für eine Bekanntgabe jedoch nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2014 – B 14 AS 2/13 R Rn. 12; ferner Pattar in jurisPK-SGB X, § 37 Rn. 153, Stand: 01.12.2012 m.w.N.). Ob dieser Ansicht zu folgen ist, kann indes letztlich dahinstehen. Denn ein gesetzlicher Vertreter und dementsprechend auch der ihn ersetzende besondere Vertreter gemäß § 72 SGG kann jedenfalls – wie hier geschehen – durch "rügelose Einlassung" das Recht auf ordnungsgemäße Bekanntgabe des Verwaltungsakts verwirken mit der Folge, dass der Verwaltungsakt ex tunc wirksam wird (vgl. hierzu die Entscheidung des Senats vom 16.10.2017 – L 20 SO 384/15 Rn. 45 unter Hinweis auf Pattar, a.a.O., § 37 Rn. 157, 160 m.w.N.).
Abweichend von der Auffassung des Sozialgerichts ist die mangelnde Bekanntgabe des streitbefangenen Bescheides vom 30.10.2014 hier spätestens dadurch geheilt worden, dass der besondere Vertreter des Klägers nach seinem Eintritt in das Verfahren den Prozess im Anschluss an die Akteneinsicht weiterführte, ohne eine Verletzung des § 37 SGB X zu monieren (vgl. zu dieser Konstellation die Entscheidung des Senats vom 16.10.2017, a.a.O., Rn. 45).
a) Der besondere Vertreter des Klägers konnte das Recht auf ordnungsgemäße Bekanntgabe des Bescheides vom 30.10.2014 mit der Folge verwirken, dass dieser ex tunc wirksam wurde.
aa) Nicht nur ein geeigneter Vertreter i.S.v. § 15 SGB X, sondern auch der hier bestellte besondere Vertreter nach § 72 SGG ist befugt, Handlungen eines Prozess- bzw. Geschäftsunfähigen im Verwaltungsverfahren (etwa den Leistungsantrag und die Erhebung eines Widerspruchs) zu genehmigen, wenn dieses dem anschließenden Klageverfahren als Sachurteilsvoraussetzung zwingend vorausgeht; denn das Verwaltungsverfahren und das gerichtliche Verfahren sind wegen des einheitlichen Verfahrensziels als Einheit aufzufassen und zu behandeln (vgl. BSG, Urteil vom 29.06.1995 – 11 RAr 57/94 Rn. 23). Dementsprechend hat das Bundessozialgericht in einer weiteren Entscheidung (Urteil vom 13.07.2017 – B 8 SO 1/16 R Rn. 11) ausdrücklich festgestellt, dass der Mangel der Bekanntgabe eines Widerspruchsbescheides gegenüber dem dort im Verlauf des Widerspruchsverfahrens geschäftsunfähig gewordenen Kläger dadurch geheilt wurde, dass der zweitinstanzlich bestellte besondere Vertreter (§ 72 SGG) die Bekanntgabe genehmigt hat. Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.
(1) Bereits der Wortlaut des § 72 Abs. 1 SGG deutet darauf hin, dass der besondere Vertreter i.S.v. § 72 SGG die Befugnis hat, auch schwebend unwirksame Prozesshandlungen aus dem vorgeschalteten Verwaltungsverfahren und die dort erfolgte (mangelnde) Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gegenüber einem Prozessunfähigen zu genehmigen. Der Vorschrift lässt sich die vom Sozialgericht angenommene Beschränkung auf Verfahrenshandlungen aus dem gerichtlichen Verfahren an keiner Stelle entnehmen. Vielmehr lässt der in Abs. 1 benannte Personenkreis (= nicht prozessfähige Beteiligte ohne gesetzlichen Vertreter) darauf schließen, dass der besondere Vertreter die gleichen Rechte wie ein gesetzlicher Vertreter haben soll (vgl. zu letzterem auch Roller in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 72 SGG, Rn. 36). Ein gesetzlicher Vertreter kann Rechtsgeschäfte eines Geschäftsunfähigen aber nachträglich unbegrenzt – und damit auch erst im Rahmen eines späteren gerichtlichen Verfahrens – genehmigen, ohne an irgendwelche Fristen gebunden zu sein, solange keine Aufforderung des Vertragspartners nach § 108 Abs. 2 BGB erfolgt (vgl. dazu im Einzelnen J. Lange in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a., jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 108 BGB, Rn. 18).
(2) Darüber hinaus ergibt sich aus Sinn und Zweck des § 72 Abs. 1 SGG, dass der besondere Vertreter auch Handlungen des Prozessunfähigen sowie formelle Mängel eines Bescheides bzw. die unterbliebene Bekanntgabe eines Verwaltungsakts im Verwaltungsverfahren genehmigen kann, wenn dieses Zulässigkeitsvoraussetzung für das Klageverfahren war.
Die Bestellung eines besonderen Vertreters dient zum einen der Prozessökonomie, weil die Einrichtung einer Betreuung durch das Betreuungsgericht nicht abgewartet werden muss, um den Prozess fortführen zu können. Zugleich sichert die Bestellung eines besonderen Vertreters die Verwirklichung der prozessualen Rechte eines Prozessunfähigen durch Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), indem der besondere Vertreter alle Rechte des Prozessunfähigen wahrnehmen kann (BSG, Urteil vom 15.11.2012 – B 8 SO 23/11 R Rn. 9). Ein (ehemals) Prozessunfähiger hat aber ebenfalls die Möglichkeit, die nicht wirksam vorgenommene Bekanntgabe eines Verwaltungsakts nach Wiedererlangung der Prozessfähigkeit noch im gerichtlichen Verfahren zu genehmigen. Ebenso kann er dieses Recht durch rügelose Einlassung verwirken.
(3) Abgesehen davon zeigt auch die systematische Stellung der Vorschrift (Unterabschnitt: Allgemeine Vorschriften), dass das "Verfahren" i.S.v. § 72 Abs. 1 SGG den "gesamten Rechtsstreit" meint (vgl. BSG, Urteil vom 21.10.1969 – 11 RA 40/69 Rn. 10). Hierzu gehört aber auch das zwingend vorauszugehende Verwaltungsverfahren, das mit dem gerichtlichen Verfahren wegen des einheitlichen Verfahrensziels eine Einheit bildet (s.o.).
(4) Abweichend von der Auffassung des Sozialgerichts enthält § 15 SGB X überdies keine Sonderregelung, welche die nachträgliche Genehmigung nicht (wirksam) bekannt gegebener Verwaltungsakte im anschließenden Gerichtsprozess durch den dort bestellten besonderen Vertreter i.S.v. § 72 SGG ausschließt. Zutreffend ist zwar, dass der Geltungsbereich des § 15 Abs. 1 Nr. 4 SGB X, der die Bestellung eines geeigneten Vertreters im Verwaltungsverfahren durch das Betreuungsgericht auf Ersuchen einer Behörde betrifft, mit Abschluss des Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahrens endet. Der Umstand, dass beide Vorschriften sich in zeitlicher Hinsicht ausschließen, lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass Verfahrenshandlungen im Verwaltungsverfahren von einem besonderen Vertreter nach § 72 SGG nicht (mehr) genehmigt werden können. Dies liefe völlig dem oben dargestellten Zweck des § 72 SGG zuwider, dem besonderen Vertreter zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes sämtliche Rechte einzuräumen, die auch der Betroffene hätte. Gerade dann, wenn -wie hier – ein geeigneter Vertreter im Verwaltungsverfahren nicht bestellt wurde, besteht ein Bedürfnis, dem Betroffenen im gerichtlichen Verfahren einen besonderen Vertreter zur Seite zu stellen, der ggf. auch die mangelnde Bekanntgabe von Verwaltungsakten gegenüber dem Prozessunfähigen im Verwaltungsverfahren genehmigen kann.
(5) Soweit das Sozialgericht schließlich zur Begründung seiner Rechtsauffassung auf Literatur verweist, nach welcher die Wirkung des § 72 SGG nur für den einzelnen "Prozess" gilt (vgl. z.B. Arndt in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 72, Rn. 2), fehlt es dort schon an einer konkreten Aussage, ob hierzu auch das dem gerichtlichen Verfahren zwingend vorausgehende Verwaltungsverfahren gehört. Im Übrigen lässt die genannte Literaturstelle – ebenso wie das angefochtene Urteil des Sozialgerichts – jegliche Auseinandersetzung mit der bereits dargestellten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (s.o.) sowie Sinn und Zweck des § 72 SGG vermissen.
bb) Ist der besondere Vertreter nach § 72 SGG somit aber befugt, (auch) Verfahrenshandlungen eines Prozessunfähigen aus dem vorgeschalteten Verwaltungsverfahren sowie die mangelnde Bekanntgabe eines Verwaltungsakts zu genehmigen, so kann er dieses Recht folglich auch durch rügelose Einlassung verwirken. b) Der besondere Vertreter des Klägers hat sein Recht, sich auf die mangelnde Bekanntgabe des Versagungsbescheides zu berufen, in diesem Sinne auch verwirkt.
Eine rügelose Einlassung setzt voraus, dass der Betroffene – ohne hinsichtlich der fehlerhaften Bekanntgabe einen Vorbehalt zu machen – die Handlung vornimmt, die ihm der Verwaltungsakt aufgibt oder die vorgesehenen Rechtsbehelfe ergreift (Bayerisches LSG, Urteil vom 30.09.2016 – L 1 R 673/13 Rn. 37 unter Hinweis auf Pattar, a.a.O., § 37 SGB X Rn. 156 und Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Auflage 2014, § 41 Rn. 238). Die betroffene Person muss den Verwaltungsakt erkennbar als gültig behandelt haben, ohne die mangelnde Bekanntgabe zu rügen (Pattar, a.a.O., Rn. 166). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Der besondere Vertreter des Klägers hat nach Einsichtnahme in die Streit- und Verwaltungsakten (mit am 28.08.2015 beim Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz) vorgetragen, die Klage sei zunächst als Untätigkeitsklage, gerichtet auf Bescheidung des Widerspruchs vom 05.11.2014 auszulegen. Zwar mag ein Widerspruch auch gegen einen nicht bekannt gegebenen Verwaltungsakt statthaft sein. Auch hat der Kläger Anspruch auf Bescheidung eines ggf. unzulässigen Widerspruchs. Dem (ursprünglichen) Vorbringen des besonderen Vertreters lässt sich jedoch an keiner Stelle entnehmen, dass er von einer mangelnden Bekanntgabe des Bescheides vom 30.10.2014 ausging und diese (zumindest hilfsweise) beanstandet. Auch im weiteren Verlauf (mit Schriftsatz vom 16.10.2017) hat er den Bescheid ausschließlich inhaltlich angegriffen, indem er diesen mangels zumutbarer Mitwirkungspflichten (§§ 60 bis 64 SGB I) für rechtswidrig gehalten hat. Ein rechtswidriger Verwaltungsakt setzt aber zwingend voraus, dass er überhaupt existent ist; dies wiederum erfordert seine wirksame Bekanntgabe (vgl. Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 37 Rn. 3 m.w.N.).
Der Umstand, dass der besondere Vertreter die behauptete Rechtswidrigkeit des Versagungsbescheides bereits nach Akteneinsicht auf die Prozessunfähigkeit des Klägers gestützt hat, rechtfertigt keine andere Beurteilung; denn dieses Vorbringen bezog sich allein auf die (fehlenden) materiellen Voraussetzungen der §§ 60 ff. SGB I und damit die inhaltliche Richtigkeit des Versagungsbescheides vom 30.10.2014. Die Rüge der mangelnden Bekanntgabe eines Verwaltungsakts setzt jedoch schon per defitionem (s.o.) voraus, dass der Erklärende die entsprechenden rechtlichen Schlüsse zieht und unmissverständlich zumindest hilfsweise die (schwebende) Unwirksamkeit des Verwaltungsakts beanstandet. Einen Vorbehalt hinsichtlich der fehlerhaften Bekanntgabe des Versagungsbescheides hat der besondere Vertreter seinerzeit jedoch unstreitig nicht gemacht. Ihm war schon nicht bewusst, dass die Prozessunfähigkeit des Klägers auch Einfluss auf die Bekanntgabe des Versagungsbescheides hatte; denn er hat erstmals nach dem entsprechenden Hinweis des Kammervorsitzenden in der nichtöffentlichen Sitzung vom 25.10.2017 und damit mehr als zwei Jahre nach Begründung der Klage die Auffassung vertreten, der Versagungsbescheid sei dem Kläger schon nicht wirksam bekannt gegeben worden. Hat sich der besondere Vertreter – wie hier – aber in der Klagebegründung auf die mangelnde Bekanntgabe eingelassen, so kann diese Einlassung – ebenso wie eine (sonstige) Prozesserklärung – nicht im Nachhinein wieder rückgängig gemacht werden.
II. Selbst wenn vorliegend allein eine Anfechtungsklage statthaft und das zweitinstanzliche ("Feststellungs-")Begehren des Klägers meistbegünstigend (vgl. zum Meistbegünstigungsgrundsatz u.a. BSG, Urteil vom 15. November 2012 – B 8 SO 23/11 R, Rn. 11 m.w.N.) in dem Sinne auszulegen sein sollte, dass er sein ursprüngliches Klageziel, gerichtet auf (u.a.) Aufhebung des Versagungsbescheides vom 30.10.2014 im Berufungsverfahren weiterverfolgt, hätte eine solche Klage ebenfalls keinen Erfolg. Sie wäre jedenfalls unbegründet; denn der Bescheid vom 30.10.2014 ist bestandskräftig und damit zwischen den Beteiligten verbindlich geworden (§ 77 SGG). Der Kläger hat nicht nachgewiesen, innerhalb der (gemäß § 64 Abs. 1 und 2 SGG i.V.m. § 37 Abs. 2 SGB X) am 03.11.2014 beginnenden und am 03.12.2014 endenden Widerspruchsfrist (§ 84 Abs. 1 SGG) gegen den (mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehenen) Bescheid vom 30.10.2014 Widerspruch erhoben zu haben. Der insofern einzig behauptete Widerspruch vom 05.11.2014 ist in den Verwaltungsvorgängen der Beklagten nicht enthalten. Der Kläger selbst hat ein solches Schreiben auf Anforderung des Sozialgerichts weder vorgelegt noch dargelegt, in welcher Form er Widerspruch erhoben haben will.
C) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
D) Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) bestehen nicht. Insbesondere ist bereits höchstrichterlich geklärt, dass der besondere Vertreter nach § 72 SGG auch die mangelnde Bekanntgabe eines Verwaltungsakts gegenüber einem Prozessunfähigen im Verwaltungsverfahren genehmigen kann (s.o.).
Erstellt am: 23.10.2018
Zuletzt verändert am: 23.10.2018