Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24.07.2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Gründe:
I.
Streitig ist die Höhe des Arbeitslosengeldes (Alg).
Die 1963 geborene Klägerin arbeitete nach dem Abbruch ihres Studiums der Betriebswirtschaftslehre und Politikwissenschaft von 1994 bis 1997 als Leiterin Marketing. Seit 01.01.1998 arbeitete sie als kaufmännische Angestellte im Bereich Marketing und Vertrieb und verdiente 2.658,00 EUR monatlich. Vom 12.03.2000 bis 25.11.2005 war sie wegen der Geburt ihrer beiden Kinder wegen des Beschäftigungsverbotes nach dem Mutterschutzgesetz und sich daran anschließenden Erziehungsurlaubs nicht beschäftigt.
Am 30.09.2005 meldete sich die Klägerin zum 26.11.2005 arbeitslos.
Mit Bescheid vom 09.12.2005 bewilligte die Beklagte Alg ab 26.11.2005 in Höhe von täglich 21,69 EUR. Grundlage der Berechnung war ein tägliches Arbeitsentgelt in Höhe von 64,40 EUR, Lohnsteuerklasse 5 und der erhöhte Leistungssatz von 67 %. Den dagegen von der Klägerin erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 09.02.2006 zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach § 132 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) sei ein fiktives Bemessungsentgelt zugrunde zu legen, wenn im erweiterten Bemessungsrahmen nicht mindestens 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt festgestellt werden könnten. Das letzte Versicherungspflichtverhältnis habe am 25.11.2005 geendet und im erweiterten Bemessungszeitraum von 2 Jahren seien keine versicherungspflichtigen Arbeitsentgelte erzielt worden. Zwar verfüge die Klägerin über keine abgeschlossene Berufsausbildung, im Hinblick auf ihre vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten habe jedoch eine Zuordnung zur Qualifikationsgruppe 3 vorgenommen werden können.
Am 07.03.2006 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Aachen mit dem Hinweis Klage erhoben, die zugrunde gelegte gesetzliche Neuregelung sei umstritten und Gegenstand sozialgerichtlicher Verfahren.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.12.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.02.2006 zu verpflichten, an die Klägerin Arbeitslosengeld nach einem höheren Bemessungsentgelt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat an ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Auffassung festgehalten.
Das SG hat durch Urteil vom 24.07.2006 die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
Gegen das am 04.08.2006 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15.08.2006 Berufung eingelegt, die sie wie zuvor die Klage auf das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29.05.2006 – S 77 AL 961/06 – stützt.
Der Senat geht von dem Antrag der Klägerin aus,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 24.07.2006 zu ändern und nach ihrem erstinstanzlichen Klageantrag zu erkennen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und weist insbesondere die vom SG Berlin vertretene Ansicht zurück, wonach in § 130 Abs. 2 SGB III das Tatbestandsmerkmal der "Ermittlung" so auszulegen sei, dass der Begriff des "Bemessungszeitraums" den des "Bemessungsrahmens" bestimmt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen. Diese Akte und die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten lagen bei Beschlussfassung durch den Senat vor.
II.
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig, denn der Klägerin steht kein höheres Alg zu.
Anwendbar ist vorliegend das seit dem 01.01.2005 geltende Bemessungsrecht des SGB III, das auf dem Dritten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003 (BGBl. I S. 2848) beruht (allgemein dazu Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, vor §§ 129 bis 134 Randnr. 3 ff.). Nach § 129 SGB III beträgt das Alg für Arbeitslose, die mindestens ein Kind haben, 67 % des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Der Bemessungszeitraum umfasst gemäß § 130 Abs. 1 SGB III die beim Ausscheiden des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abge-rechneten Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasst 1 Jahr, er endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses (§ 130 Abs. 1 S. 2 SGB III). Bei der Ermittlung des Bemessungszeitraums bleiben bestimmte Zeiten außer Betracht (§ 130 Abs. 2 SGB III). Nach § 130 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB III wird der Bemessungsrahmen auf 2 Jahre erweitert, wenn der Bemessungszeitraum weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält. Kann ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt innerhalb des auf 2 Jahre erweiterten Bemessungsrahmens nicht festgestellt werden, ist als Bemessungsentgelt ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde zu legen (§ 132 Abs. 1 SGB III).
Im Fall der Klägerin kann ein Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen innerhalb des Bemessungsrahmens nicht festgestellt werden. Das letzte Versicherungspflichtver-hältnis (Erziehungszeit – § 26 Abs. 2 a SGB III -) endete am 25.11.2005. Im erweiterten zweijährigen Bemessungszeitrahmen vom 26.11.2003 bis 25.11.2005 hat die Klägerin kein versicherungspflichtiges Arbeitsentgelt erzielt. Eine Verlängerung, Verschiebung oder Teilung des Bemessungsrahmens wegen der Mutterschutz- bzw. Erziehungszeiten, wie sie die Klägerin – gestützt auf das Urteil des SG Berlin vom 29.05.2006 (S 77 AL 961/06) – in Anwendung des § 130 Abs. 2 SGB III vornehmen will, ist nicht möglich. Schon der Wortlaut des § 130 Abs. 1 und 2 SGB III steht der Konstruktion des SG Berlin entgegen, wonach der Bemessungsrahmen Tatbestands-merkmal des Bemessungszeitraums und daher teilbar und verschiebbar sei. In § 130 Abs. 1 SGB III werden beide Begriffe klar unterschieden (dazu: BSG, Urteil vom 02.09.2004 – B 7 AL 68/03 R – SozR 4 – 4300 § 416 a Nr. 1 Randnr. 19; vgl. auch: LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.09.2006 – L 8 AL 3082/06 – Randnr. 19). § 130 Abs. 2 SGB III, der die außer Betracht zu bleibenden Zeiten benennt, bezieht sich ausdrücklich nur auf den Bemessungszeitraum.
Eine erweiternde Auslegung widerspricht daneben auch dem Sinn und Zweck des Bemessungsrechts, nämlich wegen des Lohnersatzcharakters des Alg eine zeitliche Nähe zum aktuell erzielbaren Arbeitsentgelt sicher zu stellen (vgl. dazu: Urteil des Senats vom 10.03.2004 – L 12 AL 83/03 -; Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, § 130 Randnr. 1 f.). Schließlich führt die Auffassung der Klägerin sowie des SG Berlin keinesfalls zu einer Vereinfachung der Bemessung. Sie widerspricht damit auch diesem klar formulierten Ziel der Neuregelung des Bemessungsrechts ab 01.01.2005 (vgl. dazu: BT-Drucks. 15/1515, S. 85).
Gerade wegen dieser sachlich begründbaren Ziele bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber dem Regelungskonzept, selbst wenn – wie hier – Mutterschafts- und Erziehungszeiten mitursächlich dafür geworden sind, dass eine fiktive Bemessung zu erfolgen hat (so bereits Urteil des Senats vom 10.03.2004 – L 12 AL 83/03 – Randnr. 29 zu § 133 Abs. 4 SGB III in der bis 31.12.2004 geltenden Fassung und Urteil des Senats vom 21.03.2007 – L 12 AL 113/06 -). Zwar hat nach Artikel 6 Abs. 4 Grundgesetz (GG) jede Mutter Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft. Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass der Gesetzgeber gehalten wäre, jede mit der Mutterschaft zusammenhängende wirtschaftliche Belastung (insbesondere auf dem Gebiet der Sozialversicherung) auszugleichen ( BSG, Urteil vom 21.10.2003, BSGE 91, 226 ff.).
Die Beklagte hat daher vorliegend zu Recht auf der Grundlage des § 132 SGB III der Berechnung des Alg ein fiktives Arbeitsentgelt zugrunde gelegt. Ebenfalls ist nicht zu beanstanden, dass sie die Klägerin der Qualifikationsgruppe 3 (§ 132 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 SGB III) zugeordnet hat. Dass für die Klägerin eine qualifiziertere Tätigkeit in Betracht kommen könnte, ist nicht ersichtlich. Aus § 132 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 SGB III folgt ein fiktives Arbeitsentgelt und damit ein Bemessungsentgelt in Höhe von täglich 64,40 EUR, das die Beklagte der Berechnung auch zugrunde gelegt hat.
Der Senat konnte sich nicht davon überzeugen, dass die in § 132 Abs. 2 SGB III konkret vorgegebenen Pauschalbeträge verfassungswidrig sind (anders auch insoweit SG Berlin, Urteil vom 29.05.2006 – S 27 AL 961/06 – Randnr. 63 ff., 81). Zwar sind die vorgebrachten Bedenken im Hinblick auf die Kriterien der Qualifikationsgruppenbildung und Zuordnung der fiktiven Entgelte durchaus beachtlich. Jedoch hat der Gesetzgeber einen Einschät-zungsspielraum, der letztlich nur dahingehend zu überprüfen ist, ob der Einschätzung ausreichende Erfahrungswerte zugrunde gelegt wurden (vgl.: Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, § 132 Randnr. 50). Wie die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Festlegung der Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) (vgl. nur: BSG vom 23.11.2006 – B 11 b AS 1/06 R – Randnr. 46 ff.) zeigt, sind die Anforderungen gering. Im Hinblick auf die Erläuterungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 14.12.2005 zur Neuregelung des § 132 SGB III (dokumentiert als Anlage zu § 132 in Eicher/Schlegel, SGB III) mit dem Hinweis auf die Gehalts- und Lohnstrukturerhebung des Jahres 1995, wird man die zugrunde gelegten Erfahrungswerte als ausreichend ansehen und davon ausgehen können, dass der Gesetzgeber seinen Spielraum nicht überschritten hat. Richtig ist zwar, dass es sich hier um ein Schreiben der Exekutive handelt (dazu auch: SG Berlin, Urteil vom 29.05.2006 – S 77 AL 961/06 – Randnr. 86). Jedoch ist es – unbeschadet der verfassungsrechtlichen Lage – mittlerweile politische Realität, dass gerade in Spezial-bereichen – so auch im Sozialrecht – die Gesetzgebung durch die Exekutive im Vorfeld entscheidend gestaltet wird. Diese ist daher auch in der Lage, autentisch zu den Motiven des Gesetz-gebers Stellung zu nehmen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Erstellt am: 20.12.2011
Zuletzt verändert am: 20.12.2011