Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 13.07.2009 geändert und den Antragstellern Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin K aus F bewilligt. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I. Die Antragstellerin zu 1) erhält ergänzend zum Arbeitslosengeld I Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); diese wurden zuletzt durch Bescheid vom 05.03.2009 für die Zeit vom 01.03. bis zum 31.08.2009 auf 280,65 EUR monatlich festgesetzt. Mit einer Veränderungsmitteilung vom 06.05.2009 informierte die Antragstellerin den Antragsgegner darüber, dass ab dem 01.05.2009 ihr Lebensgefährte, der Antragsteller zu 2), in ihren Haushalt eingezogen sei. Beide Antragsteller erklärten, der Antragsteller übe eine selbstständige Tätigkeit aus, erziele hieraus jedoch keine Einkünfte. Unter dem 08.05.2009 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin mit, die Leistungen würden ab dem 01.06.2009 vorläufig storniert. Es werde um Mitteilung gebeten, ob das Gewerbe weiterhin ausgeübt werde und aus welchem Grund keine Einkünfte erzielt würden. Gleichzeitig forderte er die Kontoauszüge des Antragstellers der letzten drei Monate und die Mitgliedsbescheinigung der Krankenkasse unter Angabe der Rentenversicherungsnummer an.
Mit Schreiben vom 14.05.2009 erhob die Antragstellerin Widerspruch. Dem Widerspruch beigefügt war eine Erklärung des Antragstellers, er übe das Gewerbe weiterhin aus, erziele aber wegen der schlechten Auftragslage keinerlei Einkünfte. Bei einer Vorsprache wenige Tage später erklärte er, er werde die selbstständige Tätigkeit als Hausmeister nur noch auf nebenberuflicher Basis ausüben. Einen Tag später machte er geltend, es sei nicht abzusehen, ob aus dieser Tätigkeit in Zukunft überhaupt noch Gewinne zu erzielen seien.
Durch Änderungsbescheid von 27.05.2009 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern ab dem 01.05.2009 Leistungen in Höhe von monatlich 615,65 EUR. Dabei berücksichtigte er jeweils 90% der Regelleistung für die Antragsteller. Mit ihrem hiergegen gerichteten Widerspruch vom 09.06.2009 wandten die Antragsteller ein, ihnen stehe jeweils der ungekürzte Regelsatz zu, da es sich bei ihnen nicht um eine Bedarfsgemeinschaft handele. Gleichzeitig setzten sie dem Antragsgegner eine Frist bis zum 26.06.2009 und kündigten für den Fall des fruchtlosen Fristablaufs die gerichtliche Geltendmachung des Anspruchs im Eilverfahren an.
Am 29.6.2009 haben die Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz begehrt und beantragt,
1. den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen unbefristet ab Eingang des Antrages bei Gericht bis zum 31.12.2009 (über die im angegriffenen Bescheid bereits bewilligten Leistungen hinaus) jeweils 100 % der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung zu gewähren,
2. hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) die Vollziehung des angefochtenen Bescheides (vom 27.05.2009) gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszusetzen.
Gleichzeitig haben sie beantragt, ihnen Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin K zu bewilligen.
Durch Bescheide vom 01.07.2009 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern für die Zeit vom 01.05.2009 bis zum 31.08.2009 Leistungen jeweils in voller Höhe. Daraufhin erklärten die Antragsteller das Eilverfahren für erledigt.
Den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat das Sozialgericht durch Beschluss vom 13.07.2009 abgelehnt. Die Anträge im einstweiligen Rechtsschutz hätten keine hinreichende Erfolgsaussicht gehabt, ihnen habe es an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis gefehlt: Durch die angefochtenen Änderungsbescheide seien der Antragstellerin jeweils höhere Leistungen zuerkannt worden, als ihr bereits vorher bewilligt worden seien, für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs sei deshalb kein Raum. Auch der auf die Auszahlung der Regelleistung vorläufig in voller Höhe gerichtete Antrag sei unzulässig gewesen, da die Antragsteller dem Antragsgegner nicht eine angemessene Frist eingeräumt hätten, um über den Antrag/Widerspruch zu entscheiden. Grundsätzlich sei zwar ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Stellung eines Leistungsantrags auch vor Ablauf der Frist für eine Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) zulässig, wenn ein entsprechender Eilbedarf zu verzeichnen sei. Dies setze allerdings voraus, dass die Behörde zuvor zu erkennen gegeben habe, dass sie dem Antrag nicht in der gewünschten Weise entsprechen werde. Auch aus Sicht eines bedürftigen Arbeitsuchenden sei es grob unangemessen, die Bearbeitung des entsprechenden Leistungsantrags innerhalb von weniger als drei Wochen zu erwarten, bevor ein Antrag im einstweiligen Rechtsschutz gestellt werde. Zumindest hätten sich die Antragsteller vor Einreichung des Antrags durch Rückfrage bei der Behörde versichern müssen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang voraussichtlich Leistungen bewilligt würden.
Gegen den am 15.07.2009 zugestellten Beschluss haben die Antragsteller am selben Tage Beschwerde eingelegt. Sie tragen im Wesentlichen vor, die Antragsgegnerin habe durch ihre Untätigkeit das Eilverfahren provoziert. Nach Ablauf der gesetzten Frist von drei Wochen sei keine nochmalige Rückfrage erforderlich gewesen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen einschließlich des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der die Antragsteller betreffenden Verwaltungsakten des Antragsgegners verwiesen; dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.
II.
Die zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe ist begründet.
Nach § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§ 114, 115 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Sowohl der von der Antragstellerin zu 1) gestellte Antrag gem. § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 27.05.2009 als auch der Antrag beider Antragsteller auf vorläufige Zahlung ungekürzter Leistungen gem. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG haben erstinstanzlich hinreichende Aussicht auf Erfolg geboten. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts mangelte es den Anträgen nicht am Rechtsschutzbedürfnis.
Voraussetzung für das Rechtsschutzbedürfnis im Rahmen eines Antrags nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG (Antrag zu 2) ist nicht, dass sich ein Antragsteller zunächst an den Leistungsträger wenden muss, um eine Entscheidung über die Aussetzung der sofortigen Vollziehung nach § 86 a Abs. 3 Satz 1 SGG zu erhalten (vgl. LSG NRW Beschluss vom 23.11.2009 – L 19 B 262/09 AS mwN). Der Antragstellerin zu 1) sind auch nicht – wie das Sozialgericht ausgeführt hat – mit dem Bescheid vom 27.05.2009 höhere Leistungen zugesprochen worden als mit dem vorherigen Bewilligungsbescheid. Vielmehr hat der Antragsgegner ihre Regelleistung mit diesem Bescheid um 10% gekürzt. Hiergegen hat sich die Antragstellerin zu 1) nach Einlegung des Widerspruchs zulässig mit einem Antrag gem. § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG an das SG gewandt.
Auch dem Eilantrag gem. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG fehlte es nicht am Rechtsschutzbedürfnis. Nur bei besonderen Umständen kann dem Hilfebedürftigen das Recht abgesprochen werden, zur Existenzsicherung gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Dies ist der Fall, wenn die Notwendigkeit gerichtlichen Eingreifens fehlt, weil der Hilfebedürftige nicht zuvor die ihm zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft hat, das erstrebte Ziel auch ohne Einschaltung des Gerichts zu erreichen (vgl Beschluss des erkennenden Senats vom 11.01.2011 – L 6 AS 1602/10 B; LSG NRW – Beschluss vom 29.07.2009 – L 19 B 158/09 AS – juris Rn 6 mwN). So ist insbesondere bei erstmaligem Leistungsbegehren eine Kontaktaufnahme mit dem zuständigen Verwaltungs- bzw Leistungsträger erforderlich (LSG NRW, aaO). Besondere Umstände, die die Antragsteller hier nach Einlegung des Widerspruchs gegen den nur teilweise bewilligenden Bescheid hätten verpflichten können, sich vor gerichtlicher Inanspruchnahme nochmalig beim Antragsgegner zu erkundigen, ob diese nicht wohlmöglich aufgrund des Widerspruch zu einer anderen Erkenntnis gelangt sei, sind nicht ersichtlich.
Der Erfolgsaussicht des Eilantrags der Antragsteller steht im Übrigen auch nicht der Umstand entgegen, dass die Antragsteller wesentliche Teile der Leistungen nach dem SGB II (hier: 90 %) bereits mit Bescheid vom 27.05.2009 erhalten haben und Streitgegenstand des Eilverfahrens somit "lediglich" weitere 10 % Grundsicherungsleistungen waren. Nach Auffassung des erkennenden Senats lässt sich ein allgemeiner Rechtssatz, wonach Eilbedürftigkeit bereits dann generell auszuschließen ist, wenn ein bestimmter Anteil des Regelsatzes zur Verfügung steht, nicht aufstellen (so auch LSG NRW Beschluss vom 19.11.2008 – L 19 B 178/08 AS – juris Rn 8; LSG NRW Beschluss vom 10.09.2009 – L 7 B 269/09 AS ER – juris Rn 4; vgl auch LSG NRW Beschluss vom 16.10.2008 – L 7 B 289/08 AS ER – juris Rn 6). Vielmehr ist der Senat der Auffassung, dass auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren in der Regel 100 Prozent der Regelleistung zuzusprechen sind (ebenso zB LSG NRW Beschluss vom 19.11.2008 – L 19 B 178/08 AS – juris Rn 7; Beschluss vom 10.09.2009 – L 7 B 269/09 AS ER – juris Rn 4; Beschluss vom 08.07.2009 – L 7 B 188/09 AS ER – juris Rn 6 mwN; Beschluss vom 16.10.2008 – L 7 B 289/08 AS ER – juris Rn 6; LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 13.02.2008 – L 13 AS 237/07 ER – juris Rn 43; LSG NRW Beschluss vom 02.05.2007 – L 20 B 310/06 AS ER – juris Rn 21; Beschluss vom 29.09.2006 – L 9 B 87/06 AS ER – juris Rn 27; aA mit Abschlag von 20 % oder weniger: LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 19.05.2010 – L 5 AS 797/10 B ER – juris Rn 3; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 29.01.2007 – L 7 SO 5672/06 ER-B – juris Rn 6; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 30.03.2009 – L 5 B 121/08 AS ER – juris Rn 27; mit Abschlag bis 30 %: LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 09.09.2010 – L 10 AS 1023/10 B ER – juris Rn 20; LSG Bayern Beschluss vom 24.06.2010 – L 7 AS 322/10 B ER – juris Rn 21; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 02.02.2006 – L 14 B 1157/05 AS ER – juris Rn 10). Die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II sind im Hinblick auf ihre Pauschalierung und den Bedarfsdeckungsgrundsatz so knapp ausgestaltet, dass es im Hinblick auf die erfahrungsgemäß lange Dauer eines Hauptsacheverfahrens nicht zumutbar erscheint, über diesen längeren Zeitraum nur einen regelmäßig abgesenkten Leistungssatz zuzubilligen (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 13.02.2008 – L 13 AS 237/07 ER – juris Rn 43). Da der elementare Lebensbedarf eines Menschen nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er entsteht (sog. Gegenwärtigkeitsprinzip), könnte die durch eine (generelle) Leistungskürzung verursachte Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden (BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05 Rn 19). Dies schließt nicht aus, in begründeten Einzelfällen im Rahmen der Folgenabwägung Leistungen nur mit einem Abschlag zuzusprechen – das grundsätzliche Bestehen des Anordnungsgrundes wird hiervon jedoch nicht berührt (so auch LSG NRW Beschluss vom 19.11.2008 – L 19 B 178/08 AS – juris Rn 7, 8 unter Bezugnahme auf BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn 26; vgl auch LSG NRW Beschluss vom 10.09.2009 – L 7 B 269/09 AS ER – juris Rn 4; Beschluss vom 29.09.2005 – L 9 B 49/05 AS ER – juris Rn 11).
Die Antragsteller sind ausweislich ihrer Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bedürftig und beziehen Leistungen nach dem SGB II. Sie verfügen daher über kein im Rahmen des § 115 ZPO einzusetzendes Einkommen oder Vermögen, so dass ihnen (ratenfrei) Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren zu bewilligen gewesen ist. Die Beiordnung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragsteller ist auch erforderlich i.S.v. § 121 Abs. 2 ZPO, weil sich auch ein bemittelter Antragsteller vernünftigerweise eines Rechtsanwaltes bedient hätte.
Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten (§ 73a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 127 ZPO).
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 20.04.2011
Zuletzt verändert am: 20.04.2011