Der Antrag des Beschwerdeführers, die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 04.10.2012 einstweilen auszusetzen, wird abgelehnt. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
Die Entscheidung beruht auf § 199 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn – wie hier – das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Die Anordnung ist eine Ermessensentscheidung (s BSG SozR 4-1500 § 154 Nr. 1; LSG BW Beschl v 26.01.2006 – L 8 AS 403/06 ER – ; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG 10. Aufl. § 199 Rn 8 mwN; aA BSG SozR 3-1500 § 199 Nr. 1). Sie erfordert eine Abwägung des Interesses an der Vollziehung mit dem Interesse des Schuldners, nicht vor der endgültigen Klarstellung der Rechtslage zu leisten (s Leitherer aa0 mwN). Dabei wird das Interesse des Schuldners wesentlich durch die Erfolgsaussichten des (von ihm) eingelegten Rechtsmittels bestimmt. Die Interessenabwägung entspricht inhaltlich damit weitgehend der Folgenabwägung, die das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss vorgenommen hat.
Die Beschwerde gegen den Beschluss vom 04.10.2012 hat nach der hier gebotenen summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage keine Aussicht auf Erfolg. Aus den vom Sozialgericht im Einzelnen dargelegten Gründen hat auch das erkennende Gericht erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des in der Hauptsache angefochtenen Aufhebungsbescheides vom 17.07.2012.
Das Sozialgericht hat den Anspruch des Antragstellers als sog (Alt-)Unionsbürger aus Art. 1 EFA als unmittelbar geltendem Bundesrecht abgeleitet. Dem steht der von der Bundesregierung erklärte Vorbehalt nicht entgegen, denn es sprechen gewichtige Gründe dafür, dass dieser Vorbehalt unbeachtlich ist (s etwa SG Berlin Beschl v 25.04.2012 – S 55 AS 9238/12 -; LSG RhPf Beschl v 21.08.2012 – L 3 AS 250/12 B -). Ist Anspruchsgrundlage aber Art. 1 EFA, kommt es auf die Frage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II das Recht der Europäischen Union verletzt, nicht an.
Findet – bei Beachtlichkeit des erklärten Vorbehalts – das EFA als speziellere Regelung keine Anwendung, wäre der Anspruch dann aber wohl aus dem Gleichbehandlungsgebot nach Art 4 VO (EG) 883/2004 begründet (vgl. hierzu etwa LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse v. 29.06.2012 – L 14 AS 1460/12 B ER – ; v. 23.05.2012 – L 25 AS 837/12 B ER – ; LSG Hessen Beschl. v. 14.07.2011 – L 7 AS 107/11 B ER – (bejahend); aA LSG Berlin-Brandenburg Beschl. V. 12.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen Beschl. V. 23.05.2012 – L 9 AS 347/12 B ER -). Art. 4 VO (EG) 883/2004 regelt, dass Personen, für die die VO gilt und sofern in dieser VO nichts anderes bestimmt ist, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates.
Diese Bestimmung ist seit dem 01.05.2010 als unmittelbar geltendes Recht anwendbar. Die VO (EG) hat die VO (EWG) 1408/71 abgelöst und ist seit diesem Zeitpunkt in Kraft (s Art. 91 VO (EG) 883/2004 in Verbindung mit der DurchführungsVO (EG) 987/2009). Die VO (EG) 883/2004 erzeugt unmittelbare Rechtswirkungen in allen Mitgliedsstaaten, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedarf; die Regelungen können in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden (s Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); BVerfG Beschl v 06.04.2010 – 2 BvR 2261/06 Rn 53; s auch schon EuGH Urt v 15.07.1964 – RS 6/64 – Costa./. E.N.E.L.).
Die Antragsteller unterfallen wohl auch dem persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 (vgl Art. 2 Abs. 1 der VO). Die hier in Rede stehenden Leistungen nach dem SGB II dürften vom sachlichen Anwendungsbereich der VO erfasst sein. Es handelt sich insbesondere auch um Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Art. 1 Buchstabe l) VO (EG) 883/2004 definiert diesen Begriff zwar als "Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit". Damit ist aber keine für die Einbeziehung des SGB II maßgebliche Beschränkung verbunden, denn die Zuordnung nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 erfolgt zuallererst thematisch nach dem Inhalt der Leistung, nicht nach der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit (s. Art. 3 Abs. 1 (Buchstabe h: "Leistungen bei Arbeitslosigkeit"), Abs. 3 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1, Abs. 2 VO (EG) 883/2004 und Anhang X; VO (EG) 988/2009). Die Frage der Beitrags(un)abhängigkeit ist, wie Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 zeigt, keine Frage des sachlichen Anwendungsbereichs, sondern – die Anwendbarkeit vorausgesetzt – nur der Anknüpfungspunkt für die Frage, ob die Leistung auch in einen anderen Mitgliedstaat exportiert werden kann (s Art. 7 VO (EG) 883/2004; s auch SG Berlin Urt v 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 -).
Bei Anwendbarkeit der VO (EG) 883/2004 folgt der Anspruch unmittelbar aus Art 4. Dessen Voraussetzungen sind erfüllt. Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, denn das entscheidende Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit Eine derartige unterschiedliche Behandlung ist aber nur zulässig, wenn die VO sie ausdrücklich zulässt (s dazu auch Dern in Schreiber/Wunder/Dern VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 4 VO Rn 5). In der VO (EG) 883/2004 findet sich keine entsprechende Regelung.
Andere Ausnahmen für eine unmittelbare Diskriminierung im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 sind nicht vorgesehen. Deshalb vermag auch die Unterscheidung zwischen vollumfänglich freizügigkeitsberechtigten (Alt-)Unionsbürgern einerseits und den nur eingeschränkt freizügigkeitsberechtigte (Neu-)Unionsbürgern, die nicht den gleichen Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitsuchende oder uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger haben, den Leistungsausschluss auch von (Neu-)Unionsbürgern nicht zu rechtfertigen. Nur für eine mittelbare Ungleichbehandlung dürfte überhaupt die Prüfung einer Rechtfertigung durch objektive, von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängige Erwägungen in Betracht kommen, sofern diese in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stehen, der mit nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird (vgl Dern aa0 Rn5, 8).
Stehen dem Antragsteller danach aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 grundsätzlich die zuerkannten Leistungen nach dem SGB II wie deutschen Staatsangehörigen zu, wird dieser aus dem Gleichbehandlungsgebot erwachsene Anspruch seinerseits nicht durch Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38/EG (sog Unionsbürgerrichtlinie) eingeschränkt.
Es gilt im Recht der EU nach formellen Kriterien keine Rangordnung zwischen VO und Richtlinie. Nach inhaltlichen Kriterien mag ein Rangverhältnis zwischen den beiden Rechtsquellen nicht ausgeschlossen sein (ein solches bejahend SG Duisburg Beschl v 24.09.2012 – S 3 AS 3413/12 ER – ). Gegen die Einschränkung des Art. 4 VO (EG) 883/2004 durch die Unionsbürgerrichtlinie auch ggfs als lex specialis spricht aber, dass Richtlinie und VO (EG) das selbe Datum (29.04.2004) tragen. Bei unterschiedlichen Regelungsinhalten hätte man eine ausdrückliche Bestimmung oder systematische Verknüpfung erwarten dürfen, wenn eine solche Einschränkung tatsächlich gewollt war. Im Übrigen lässt Art 4 VO (EG) 883/2004 Ausnahmen ausdrücklich nur durch die VO selbst zu, nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG hingegen sollen sie vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen erfolgen. Selbst wenn man aber im Sinne einer Rangordnung das europäische Sozialrecht als "freizügigkeitsspezifisches Sozialrecht" (Fuchs Europäisches Sozialrecht (2010) 29)) interpretiert, das dazu bestimmt ist, der Grundfreiheit "Freizügigkeit" zu dienen (so SG Duisburg aaO), betreffen die Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgebot in Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38/EG – soweit hier von Bedeutung – nicht den grundsätzlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004.
Folgt man im Ausgangspunkt der Auffassung des Beschwerdeführers, verneint einen Anspruch sowohl aus Art 1 EFA als auch Art 4 VO (EG) 883/2004 und sieht die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als erfüllt an, wäre eine Rücknahme dann aber nur auf der Grundlage des § 45 SGB X möglich gewesen. Die nach Maßgabe dieser Vorschrift erforderliche Ermessensentscheidung entfällt gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs. s SGB III nur in den Fallgestaltungen, die von § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X erfasst werden ("Bösgläubigkeit"), die hier wohl nicht gegeben sein dürften. Das Sozialgericht hat bereits darauf hingewiesen, es sei nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer sich mit den Umständen des Einzelfalls bei der Ermessensentscheidung befasst habe. Auch unter diesem Blickwinkel bestehen erhebliche Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 19.12.2012
Zuletzt verändert am: 19.12.2012