Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen, insbesondere einer Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit (BK) entsprechend der Nr. 4111 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).
Der 1934 geborene Kläger war vom 11.07.1951 bis 30.06.1953 und erneut vom 08.02.1954 bis 15.05.1979 im Bergbau unter Tage angelegt. Nach der Abkehr war er bis 18.08.1999 außerhalb des Bergbaus als Maurer beschäftigt und danach arbeitsunfähig. Seit dem 14.01.1992 bezieht er vorzeitige Rentenleistungen von der Bundesknappschaft.
Im Anschluss an die von Dr. H aus M unter dem 18.06.2003 erstellte Verdachtsanzeige hinsichtlich einer BK entsprechend der Nr. 4111 ließ die Beklagte von ihrem Technischen Aufsichtsdienst (TAD) die Staubbelastung ermitteln. Unter dem 08.10.2003 gelangte der TAD zu einer kumulativen Feinstaubdosis von 111 Staubjahren im untertägigen Steinkohlenbergbau.
Ferner zog die Beklagte medizinische Unterlagen zur BK 4101 (Silikose), der Bundesknappschaft, der behandelnden Ärzte und Krankhäuser sowie Vorgänge des Versorgungsamtes E bei. Dabei ist aufgrund der Stellungnahme des Arbeits- und Sozialmediziners Dr. F aus D vom 23.07.2003 von leichtgradigen Quarzstaublungenveränderungen entsprechend der ILO-Klassifikation qq 1/1 ohne deswegen zu erwartende Funktionsbeeinträchtigungen des Herz-Kreislauf-Systems auszugehen. Neben Lungenfunktionsmessdaten vom 16.07.1988 mit Hinweisen auf eine Obstruktion und Ventilationsstörung liegt der Heilverfahrensentlassungsbericht aus C (15.09. bis 13.10.1992) vom 02.11.1992 mit den Diagnosen eines Lungenemphysems sowie einer chronischen Emphysembronchitis vor. Das Gutachten des Sozialmedizinischen Dienstes der Bundesknappschaft vom 31.03.1993 ging von einer chronischen Emphysembronchitis mit Einschränkung der Lungenfunktion aus. In einer gutachtlichen Stellungnahme für das Versorgungsamt E vom 22.05.1999 wurde die chronische Bronchitis und die Lungenüberblähung mit einem GdB von 40 bewertet.
Sodann ließ die Beklagte den Kläger durch den Arbeits-, Sozial- und Umweltmediziner Dr. Q aus D begutachten. Unter dem 23.12.2003 beschreibt dieser Arzt zusammenfassend eine chronische obstruktive Bronchitis, die in den 70er Jahren begonnen haben dürfte, obstruktive Verteilungsstörungen seien seit Oktober 1992 gesichert. Seitdem sei auch das Lungenemphysem radiologisch und funktionsanalytisch nachgewiesen.
Durch Bescheid vom 18.02.2004 lehnte die Beklagte die Anerkennung der streitbefangenen BK ab mit der Begründung, dass der Versicherungsfall der beim Kläger bestehenden chronischen Bronchitis und des Emphysems seit dem 15.09.1992 und damit vor dem Stichtag des 31.12.1992 eingetreten sei.
Mit seinem Widerspruch vom 24.07.2004 hiergegen machte der Kläger geltend, er sei in keiner Weise mehr belastbar, gerate selbst beim Schuhezubinden in Luftnot und leide bei Wetterwechseln und Umwelteinflüssen unter akuter Atemnot. Allerdings gehe er daAus, dass der Versicherungsfall erst nach dem 01.01.1993 eingetreten sei. Die von der Beklagten angeführte Stichtagsregelung halte er für verfassungswidrig.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 12.10.2004 als unbegründet zurück. Bereits während der Kur in C vom 15.09. bis 13.10.1992 habe sich eine gemischte Ventilationsstörung und eine deutliche Lungenüberblähung gezeigt. Deswegen habe der Internist Dr. F1 ab Oktober 1992 regelmäßig bronchialerweiternde Medikamente verordnet. Die Rückwirkungsregelung des § 6 Abs. 2 BKV sei wirksam, solange sie nicht aufgehoben oder vom Bundesverfassungsgericht (BverfG) nicht für nichtig erklärt worden sei.
Mit der hiergegen am 22.10.2004 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er verweist darauf, erst seit 2000 ernsthafte Atemwegsprobleme verspürt zu haben, 2002 habe er erstmals Lungenfachärzte aufgesucht. Bei der Atemwegserkrankung im Jahre 1992 habe es sich um eine befristete Erkrankung gehandelt.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.02.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2004 zu verurteilen, ihm wegen einer Berufskrankheit entsprechend der Nr. 4111 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung ab 16.07.1988 eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, hilfsweise die Revision zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, das der Pneumologe und Allergologe Dr. A aus J unter dem 10.01.2005 erstattet hat. Seines Erachtens ist die chronisch obstruktive Bronchitis des Klägers seit dem 16.07.1988 belegt, das Lungenemphysem seit dem 06.12.2000 computertomographisch nachgewiesen. Diese mit Wahrscheinlichkeit auf die Feinstaubeinwirkung während der Unter-Tage-Tätigkeit zurückzuführende Erkrankung bedinge seit dem 16.07.1988 eine MdE um 20 v.H.
Der Kläger geht auch angesichts dieses Gutachtens daAus, dass es sich bei ihm nicht um einen "Stichtagsfall" handele, weil er 1988 unter einer Lungenentzündung gelitten habe.
Das ursprünglich wegen der ausstehenden Entscheidung des BVerfG zur Stichtagsregelung mit Zustimmung der Beteiligten mit Beschluss vom 11.04.2005 zum Ruhen gebrachte Verfahren ist am 21.09.2005 durch das Gericht wieder aufgenommen worden, nachdem das BVerfG am 23.06.2005 – 1 BvR 235/00 – lediglich zu den sogenannten "Vorgriffsfällen", nicht aber zur eigentlichen Stichtagsregelung des § 6 Abs. 2 BKV entschieden hat.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und den der Verwaltungsakten der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Die Beklagte hat es mit dem Bescheid vom 18.02.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.10.2004 zu Recht abgelehnt, dem Kläger eine Verletztenrente wegen der streitbefangenen BK 4111 zu gewähren, der Kläger wird hierdurch nicht beschwert (§ 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Entschädigung der bei ihm bestehenden chronischen obstruktiven Bronchitis und des Lungenemphysems. Dieser Anspruch war noch nach der bis zum 31.12.1996 gültigen Reichsversicherungsordnung (RVO) zu prüfen, weil der Versicherungsfall vorliegend vor dem 01.01.1997 (In-Kraft-Treten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches – SGB VII –) eingetreten ist (§ 212 SGB VII). Der geltend gemachte Anspruch nach § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. der Nr. 4111 der Anlage zur BKV scheitert daran, dass der Versicherungsfall vor dem 01.01.1993 eingetreten ist (§ 6 Abs. 2 BKV). Der Begriff "Versicherungsfall" im Sinne dieser Vorschrift geht von dem Vorliegen der Voraussetzungen für den Anspruch eines Versicherten auf Anerkennung einer BK im Sinne des § 551 Abs. 1 RVO aus (vgl. dazu BSG in SozR 3-5679 Art. 3 Nr. 1 und 2 zu den Rückwirkungsvorschriften der BKV), er setzt noch nicht den Anspruch auf Gewährung einer Teilverletztenrente nach einer MdE von 20 bzw. mindestens 10 v.H. (§ 581 RVO) voraus (Leistungsfall).
Die Kammer stützt sich insoweit auf die sie ohne Einschränkung überzeugende Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. A, der anhand der von ihm ausgewerteten ärztlichen Unterlagen und Lungenfunktionsmessergebnisse bereits von einem am 16.07.1988, also mehr 4 Jahre vor dem in Rede stehenden Stichtag eingetreten Versicherungsfall ausgeht, weil zu diesem Zeitpunkt auf eine schon chronisch obstruktive Bronchitis geschossen werden könne. Bereits im Jahre 1988 hat demnach eine mittel- bis schwergradige, teilreversible Atemwegsobstruktion und eine schwergradige Überblähung mit konsekutiver Minderung der Vitalkapazität vorgelegen, wie dies der Sachverständige Dr. A näher dargelegt hat. Der Einwand des Klägers, die Einschätzung des Sachverständigen sei unzutreffend und es habe sich lediglich um die Folgen einer 1988 durchgemachten Lungenentzündung gehandelt, greift nicht durch. Dr. A hat aufgrund der gesamten Lungenfunktionsmessergebnisse sowohl seine Diagnose gestellt als auch die erwerbsmindernde Auswirkung der chronisch obstruktiven Bronchitis und des Lungenemphysems mit einer bereits feststellbaren MdE um 20 v.H. seit dem 16.07.1988, also im Sinne eines nicht nur eingetretenen Versicherungsfalls, sondern auch im Hinblick auf einen ungeachtet der Rechtslage feststellbaren Leistungsfall gedeutet.
Die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs. 2 BKV ist rechtswirksam. Die Kammer schließt sich der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an, die derartige Rückwirkungsklauseln der BKV bisher weder hinsichtlich ihrer prinzipiellen Zulässigkeit noch mit Blick auf die bislang erfolgten Stichtagsregelungen (vgl. dazu die Darstellungen in BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 13) beanstandet hat. Dem hat sich das BVerfG ebenfalls bislang angeschlossen (vgl. die Beschlüsse vom 09.10.2000 – 1 BvR 791/95 – und 24.10.2000 – 1 BvR 1319/95 –).
Hieran hält die Kammer auch nach eigener Rechtsprüfung fest. Die vorliegende Rückwirkungsklausel in § 6 Abs. 2 BKV bezogen auf die streitbefangene BK 4111 ist bislang auch nicht durch das BVerfG beanstandet worden. In seiner Entscheidung vom 23.06.2005 – 1 BvR 235/00 – hat das BVerfG sich lediglich mit der Frage auseinandergesetzt, ob in den sogenannten "Vorgriffsfällen" bereits die dann durch die Änderung der BKV vom 31.10.1997 zum 01.12.1997 eingeführte Stichtagsklausel hinsichtlich der vorliegend streitbefangenen BK entsprechend der Nr. 4111 der Anlage zur BKV schon angewendet werden durfte, bevor sie überhaupt in Kraft gesetzt war. In dieser Entscheidung hat das BVerfG ausdrücklich ausgeführt: "Dabei kann offenbleiben, ob die von der Beschwerdeführerin angegriffene Stichtagsregelung in § 6 Abs. 1 BKV (jetzt § 6 Abs. 2 BKV) verfassungsrechtlich zu beanstanden ist."
Im Rahmen des § 551 Abs. 1 RVO (entspricht § 9 Abs. 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches – SGB VII –) verstößt die zeitliche Beschränkung der Rückwirkung nach Maßgabe des § 6 Abs. 2 BKVO grundsätzlich nicht gegen Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG), weil für eine solche Beschränkung der Leistungsgewährung in der Vergangenheit sachliche Gründe angeführt werden können (vgl. dazu auch BSG a.a.O. hinsichtlich der Risiken und Probleme bezogen auf weit zurückliegende Sachverhalte. Das BSG hat in dieser Entscheidung, die einen sogenannten "Vorgriffsfall" zum Gegenstand hatte, weiter ausgeführt, dass zwar Bedenken gegen die Rückwirkungsklausel deshalb bestünden, weil bei deren Anwendung nur einem unverhältnismäßig kleinen Kreis der einschlägig Erkrankten eine Entschädigung aufgrund der streitbefangenen BK zustehen könnte. Jedoch hat es die Rückwirkungsklausel im Ergebnis für rechtmäßig angesehen. Dem schließt sich die Kammer nach eigener Prüfung im Hinblick auf das vom BSG a.a.O. genannte normative Ermessen des Verordnungsgebers insoweit an. Danach ist die Entscheidungsfreiheit des Verordnungsgebers im Rahmen der Einführung dieser neuen BK entsprechend der Nr. 4111 der Anlage zur BKV nicht soweit eingeschränkt gewesen, dass nur eine Lösung, also die der unbegrenzten oder jedenfalls wesentlich weiter zurückreichenden Rückwirkung von Versicherungsfällen vor dem 01.01.1993 denkbar ist. Zudem sieht die Kammer den Stichtag des 31.12.1992 bzw. 01.01.1993 gemäß § 6 Abs. 2 BKV nicht als willkürlich an, zumal die Erkenntnisse in der medizinischen Wissenschaft, die letztlich zur Einführung der in Rede stehenden BK in die Liste der Anlage zur BKV geführt haben, sich erst im Jahre 1994 soweit verdichtet hatten, dass der ärztliche Beirat beim Bundesministerium für Arbeit den Vorschlag unterbreitete, die chronische obstruktive Bronchitis und das Lungenemphysem aufgrund von 100 Feinstaubjahren im Steinkohlenbergbau unter Tage als neue Listen-BK einzuführen. Wenn dann der Verordnungsgeber von diesen Erkenntnissen ausgehend lediglich eine Rückwirkung von ca. zwei Jahren hinsichtlich der Entschädigungspflicht von Versicherungsfällen vor 1994 vorsieht, ist dies jedenfalls nicht als willkürlich einzuordnen, selbst wenn aufgrund der technischen Entwicklung im Steinkohlenbergbau unter Tage und der damit einhergehenden Verbesserung der Staubbedingungen ein Großteil der Erkrankungsfälle bezogen auf die streitbefangene BK nicht zu entschädigen ist. Der Verordnungsgeber hat bislang trotz der vom BSG (a.a.O.) geäußerten Bedenken offensichtlich an der Rückwirkungsklausel bezogen auf die streitbefangene BK entsprechend der Nr. 4111 der Anlage zur BKV festgehalten und damit den vom BSG bezeichneten politischen Entscheidungsspielraum jedenfalls im Sinne einer Nicht-Vorverlegung des Stichtages genutzt.
Die Kammer hat die Revision gemäß § 161 Abs. 2 i.V.m. § 160 Abs. 1 SGG zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Im Anschluss an die Entscheidung des BVerfG vom 23.06.2005 – 1 BvR 235/00 – ist beim BVerfG keine Rechtssache mehr anhängig, die die Wirksamkeit der Stichtagsklausel gemäß § 6 Abs. 2 BKV zum Gegenstand hat. Auch beim BSG ist die generelle Wirksamkeit dieser Stichtagsklausel derzeit nicht anhängig, weil die vom BVerfG erfolgte Rückverweisung an das BSG lediglich die sogenannten "Vorgriffsfälle" betrifft und damit nicht die regelmäßige Anwendung der Stichtagsklausel gemäß § 6 Abs. 2 BKV.
Erstellt am: 14.09.2006
Zuletzt verändert am: 14.09.2006