Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.03.2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls aus dem Jahre 1964.
Der im Jahre 1938 geborene marokkanische Kläger wurde 1963 als Schlepper im deutschen Steinkohlenbergbau angelegt und war dort einige Jahre beschäftigt. Mittlerweile lebt er wieder in Marokko.
Am 23.03.1964 erlitt er während der Frühschicht einen Unfall, als er beim Knebeln der Wagen in den Schacht fiel und sich die linke Hand verletzte. Dabei kam es zu einer Quetschung der rechten Hand mit Wunden, Daumen- und Ringfingerendbruch. Im September 1964 mussten wegen einer fortgeschrittenen eitrigen Osteomyelitis das Endglied und ein Teil des Grundgliedköpfchens des rechten Daumens abgesetzt werden.
Chirurg Dr. H stellte wegen der Unfallfolgen Verlust des rechten Daumens im Grundglied, Bewegungseinschränkungen im Daumengrundgelenk, Narben am 3. und 4. Finger, Muskelminderung des rechten Arms, Herabsetzung der Kraft rechts, Minderung der Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand und glaubhafte Beschwerden eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vom Hundert (v. H.) fest. (Gutachten vom 10.10.1964). Die Beklagte gewährte für den Zeitraum vom 22.06.1964 bis 28.02.1966 eine Gesamtvergütung nach einer MdE von 20 v.H. (Bescheid vom 16.10.1964).
Im Mai 1966 beantragte der Kläger die "Wieder-Gewährung einer Rente". Dr. H fand als Unfallfolgen Narben am 3. und 4. Finger rechts, Verlust des rechten Daumens im körperfernen Drittel des Grundgliedes, reizlose Stumpfnarben, leichte Muskelminderung des rechten Arms und glaubhafte Beschwerden. Gegenüber dem Gutachten vom Oktober 1964 habe sich die Muskulatur des rechten Arms erwartungsgemäß gekräftigt. Der Versicherte habe sich in die Unfallfolgen weitgehend eingewöhnt. Eine MdE um 15 v.H. sei angemessen (Gutachten vom 14.06.1966). Die Beklagte lehnte die Gewährung von Verletztenrente ab.
Im April 1998 wandte sich der Kläger an die Beklagte mit der Bitte um weitere Zahlung wegen seines Unfalls vom 23.03.1964 und fügte ein Farbfoto seiner rechten Hand bei. Der von der Beklagten eingeschaltete Dr. N aus O/Marokko fand als Unfallfolgen eine Amputation der 1. Phalanx des rechten Daumens mit Parästhesien und Dysästhesien am Stumpf. Die Arbeitsfähigkeit sei definitiv zu 20 % eingeschränkt, da der Versicherte keine wesentliche manuelle Tätigkeit ausführen und keine schweren Lasten tragen könne (Gutachten vom 17.11.1998). Beratender Arzt Chirurg Dr. H1 aus C meinte dazu, bei den Unfallfolgen Teilverlust des rechten Daumens – Narben – Röntgenveränderungen handele es sich um einen Dauerzustand; die MdE betrage 15 v.H. (Stellungnahme vom 10.04.1999). Die Beklagte lehnte die Gewährung von Verletztenrente ab (Bescheid vom 30.04.1999). Die dagegen verspätet eingelegte Klage (Sozialgericht (SG) Dortmund Aktenzeichen S 31 KN 350/99 U) nahm der Kläger zurück und stellte gleichzeitig einen Antrag auf Rücknahme des Bescheids vom 30.04.1999. Dies lehnte die Beklagte ab, weil der Bescheid vom 30.04.1999 nicht unrichtig sei. Erst bei Verlust des gesamten Daumens betrage die MdE 20 v.H. (Bescheid vom 17.03.00 und Widerspruchsbescheid vom 14.06.2000, gestützt auf § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)).
Mit seiner Klage zum SG Dortmund hat der Kläger vorgetragen, er habe Schmerzen im Kopf und eine Quasi-Lähmung der Finger; auch die psychischen Folgen seines Unfalls müssten entschädigt werden. Sein Zustand habe sich verschlimmert. Er hat sich auf ein Attest des Chirurgen Dr. F aus O berufen, wonach eine erhebliche Algodystrophie an der rechten Hand und eine Steife aller Finger der rechten Hand vorliege. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage 40 v.H … Die Ausführung manueller Tätigkeit sei unmöglich (Attest vom 26.06.00).
Der vom SG eingeschaltete Chirurg Dr. I aus E hat wegen der Unfallfolgen eine MdE von höchstens 15 v.H. angenommen (Gutachten vom 16.08.00). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 05.03.01).
Dagegen hat der Kläger "Reklamationsantrag" eingelegt und Rentenzahlung begehrt. Nach den Ausführungen des Dr. N und des Dr. F sei ein rentenberechtigender Grad der MdE gegeben. Jedenfalls sei weitere medizinische Sachaufklärung erforderlich.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 05.03.2001 zu ändern und die Beklagte unter Änderung der Bescheide vom 30.04. und 09.08.1999 zu verurteilen, dem Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 23.03.1964 Verletztenrente als Teilrente nach einem Grad der MdE um mindestens 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bezieht sich zur Begründung auf eine Stellungnahme des Prof. Dr. U, Leitender Oberarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik der BG-Kliniken Bergmannsheil in C (Stellungnahme vom 26.11.03).
Der Senat hat den Orthopäden und Chirurgen Dr. B aus S und Dr. K, Chefarzt der Neurochirurgischen Abteilung der BG-Unfallklinik N, als Sachverständige gehört. Dr B hat eine Amputation der 2. Phalanx des rechten Daumens mit defektem Stumpf, Neurom und möglichem Phantomglied, das Schlaflosigkeit verursache, beschrieben. Die fortdauernde Minderung der Arbeitsfähigkeit könne auf 25% veranschlagt werden (Gutachten vom 14.07.03). Dr. K hat im Vergleich zu den 1966 beschriebenen Befunden keine Änderung gesehen; es handele sich um einen Dauerzustand, die MdE betrage weiter 15 v.H. (Gutachten vom 15.04.04).
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt der Senat auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug; sämtliche Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Zu Recht hat das SG. die Klage für unbegründet gehalten, weil der Kläger durch den Bescheid vom 17.03.00 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.06.2000 (§ 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) nicht beschwert ist, § 54 Abs 2 SGG. Diese Entscheidung ist rechtmäßig, weil ein Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 30.04.1999 und Gewährung einer Verletztenrente nicht besteht, §§ 44 Abs 1 SGB X, 548 Abs 1 Satz 1, 551 Abs 1, 580 Abs 1, 581 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO). Dies steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Senats fest.
Ein Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 30.04.1999 und Gewährung von zu Unrecht nicht erbrachten Sozialleistungen ab dem 01.04.1998 oder einem früheren Zeitpunkt (§ 44 Abs 4 SGB X) besteht nicht, § 44 Abs 1 SGB X. Gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er – wie hier – unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die Beklagte hat einen solchen Anspruch verneint und – jedenfalls im Widerspruchsbescheid – dargelegt, warum ein Rentenanspruch nicht bestehe. Dadurch hat sie nach außen hin deutlich gemacht, dass sie aufgrund erneuter Prüfung in der Sache entschieden hat. Diese Entscheidung ist gerichtlich darauf zu überprüfen, ob die Beklagte bei ihrer Überprüfung zu dem Ergebnis hätte kommen müssen, dass sie mit ihrem früheren, bindend gewordenen Bescheid einen Rentenanspruch zu Unrecht abgelehnt hat (vgl dazu BSG SozR3-2600 § 243 Nr 8 mwN). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Der streitige Anspruch richtet sich noch nach dem alten, durch das Siebte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) zum 01.01.1997 abgelösten Recht der RVO, da der Versicherungsfall im Jahre 1964 eingetreten ist, und es sich wegen der früher gewährten Gesamtvergütung nicht um die erstmalige Feststellung einer Rente, Beihilfe oder Abfindung (§§ 214 Abs 3, 75 SGB VII) handelt, § 212 SGB VII, Art 36 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz- UVEG).
Nach §§ 580 Abs 1, 581 Abs 1 RVO erhält der Verletzte eine Rente, wenn die zu entschädigende Minderung der Erwerbsfähigkeit über die dreizehnte Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauert, solange infolge des Arbeitsunfalls seine Erwerbsfähigkeit um mindestens ein Fünftel gemindert ist. Als Folgen eines Arbeitsunfalls sind dabei alle Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen und in die Bewertung einzubeziehen, die mit Wahrscheinlichkeit unmittelbar oder mittelbar im Sinne wesentlicher Teilursächlichkeit auf die bei dem Unfall erlittenen gesundheitlichen Schäden zurückzuführen sind (zur im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung maßgeblichen Ursachentheorie von der wesentlichen Bedingung vgl Hauck in: Weiss/Gagel(Hrsg). Handbuch des Arbeits- und Sozialrechts. Systematische Darstellung. Stand Januar 2003. § 22 A. Die Unfallrenten. Rdnrn 67ff, zum Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Gesundheitsschaden insbesondere Rdnrn 71f). Wahrscheinlich ist ein solcher Zusammenhang, wenn unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Tatsachen mehr dafür als dagegen spricht. Die als Unfallfolgen in Betracht kommenden Gesundheitsstörungen müssen dagegen nachgewiesen sein; sie müssen mit an Sicherheit grenzender, vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit vorliegen. Unfallfolgen, die die Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. ("ein Fünftel") mindern, liegen beim Kläger – weiterhin – nicht vor. Dies steht zur Überzeugung des Senats als Ergebnis der Beweisaufnahme fest. Der Senat stützt sich dabei auf das überzeugende, alle für die Beurteilung wesentlichen Gesichtspunkte abhandelnde Gutachten von Dr. K, der im Ergebnis mit Dr. H1, Dr. I und Prof. Dr. U übereinstimmt. Soweit die marokkanischen Ärzte eine MdE bzw "Minderung der Arbeitsfähigkeit" von mehr als 15 v.H. angenommen haben, vermag sich der Senat dem nicht anzuschließen, weil diese Bewertung nicht mit den maßgeblichen Erfahrungswerten der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (vgl dazu Hauck, aaO, Rdnr 88 mwN; Schönberger/ Mehrtens/Valentin. Arbeitsunfall und Berufskrankheit. 7. Auflage 2003, S 155ff) in Einklang steht (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, S 641ff; Mehrhoff/Muhr. Unfallbegutachtung. 10. Auflage 1999, Anhang l, S 288).
Es läßt sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststellen, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen des Unfalls vom 23.03.1964 wenigstens um ein Fünftel (= 20 v.H.) gemindert ist, § 581 Abs 1 Nr 2 RVO. Beim Kläger liegt – wie schon 1966 – als Unfallfolge der Verlust des Daumenendglieds mit Verlust des Grundgliedköpfchens vor (Dr. K). Die damit einhergehende Minderung der Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand ist nicht bereits mit einer MdE von 20 v.H. zu bewerten. Denn der Funktionszustand ist noch besser als bei Verlust des gesamten Daumens. Erst dieser wird aber nach den maßgeblichen Erfahrungswerten der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer MdE um 20 v.H bewertet (Schönberger/Mehrtens/Valentin und Mehrhoff/ Muhr, jeweils aaO). Weitere Unfallfolgen, die mit Wahrscheinlichkeit unmittelbar oder mittelbar im Sinne wesentlicher Teilursächlichkeit auf die bei dem Unfall erlittenen gesundheitlichen Schäden zurückzuführen sind, oder Besonderheiten, die für eine abweichende Beurteilung Anlass bieten, sind nicht nachgewiesen. Ein funktionell relevantes Neurom oder Sensibilitätsstörungen (Dr. B) vermochte Dr. K nicht zu erkennen.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sind insbesondere funktionell bedeutsame Phantomschmerzen nicht erwiesen. Es kann unentschieden bleiben, ob das Auftreten von Phantomschmerzen nach mehr als 30 Jahren der üblichen neurotraumatologischen Erfahrung widerspricht (Prof. Dr. U) und ob ein nach so langer Zeit auftretender Phantomschmerz meist zur Gebrauchsunfähigkeit der Hand führt (Dr. K). Selbst wenn der Senat zugunsten des Klägers unterstellt, dass – entsprechend seiner Schilderung gegenüber Dr. B Phantomgefühle und/oder – schmerzen auftreten, führt dies nicht zur Annahme einer MdE von 20 v.H. Denn jedenfalls – darauf stellt auch Dr. K entscheidend ab – ist ein funktionelle Relevanz solcher Beschwerden, dh eine weiterreichende Einschränkung von Greif-, Tast- oder Druckfunktion der Hand, nicht festzustellen. Denn auf der von Dr B gefertigten Röntgenaufnahme ist keine – in solchen Fällen zu erwartende -signifikante Minderung der Gelenkspalte vorwiegend im Bereich des Daumens zu erkennen. Vielmehr stellt sich der Amputationsbereich weitgehend unauffällig dar. Außerdem zeigt das vom Kläger vorgelegte Foto keine, für eine eingeschränkte Gebrauchsfähigkeit sprechenden trophischen Störungen.
Für weitere Unfallfolgen entsprechend dem Vorbringen des Klägers (Kopfschmerzen, Quasilähmung der Finger, psychische Störungen) besteht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ebenfalls keine Anhalt. Solche hat nämlich keiner der gehörten Sachverständigen bestätigt.
Im Ergebnis besteht daher mit Dr. K keine Veranlassung, bei der Betrachtung der Unfallfolgen von einem gegenüber 1966 abweichenden Funktionszustand auszugehen, der eine höhere als die damals zugrunde gelegte MdE von 15 v.H. rechtfertigt. Besteht aber kein Anspruch auf Verletztenrente, so besteht auch kein Anspruch auf "Abfindung" oder eine sonstige Einmalzahlung, wie sie dem Kläger – offenbar wegen der früher gezahlten Gesamtvergütung – vorschwebt.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Maßgeblich für die Entscheidung sind vielmehr die zu würdigenden konkreten Umstände des Einzelfalls.
Erstellt am: 12.07.2004
Zuletzt verändert am: 12.07.2004