Die mit dem Bescheid des Beklagten vom 17. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Juli 2014 verlautbarte Aufhebungsentscheidung des Beklagten wird aufgehoben.
Der Beklagte hat der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach in voller Höhe zu erstatten.
Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte zu Recht zuvor gegenüber der Klägerin nach Maßgabe der Bestimmungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) ergangene bewilligende Leistungsverfügungen mit Wirkung ab dem 01. April 2014 aufgehoben hat.
Die im Januar 1966 geborene Klägerin bezieht seit geraumer Zeit passive Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach den Bestimmungen des SGB II von dem Beklagten.
Auf ihren entsprechenden Fortzahlungsantrag gewährte der Beklagte der Klägerin mit bestandskräftig gewordenem Bewilligungsbescheid vom 19. November 2013 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01. Dezember 2013 bis zum 31. Mai 2015 in Höhe eines Betrages von monatlich 514,00 Euro (Dezember 2013) sowie von monatlich 523,00 Euro (Januar 2014 bis Mai 2014).
Mit Bescheid vom 17. April 2014 hob der Beklagte – nach vorheriger Anhörung – seine bewilligenden Verfügungen vom 19. November 2013 – gestützt auf die Regelung des § 45 Abs 2 Nr 2 SGB X – mit Wirkung vom 01. April 2014 auf. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, die Klägerin bilde mit Herrn X eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, weshalb auch der Bedarf, das Einkommen und Vermögen des Herrn X zu berücksichtigen sei. Da bislang keine Prüfung auf einen etwaigen Leistungsanspruch unter dem Aspekt einer Bedarfsgemeinschaft habe vorgenommen werden können, werde angenommen, dass der Bedarf mit dem vorhandenen Einkommen und Vermögen selbstständig gedeckt werden könne. Da eine Änderung der tatsächlichen bzw rechtlichen Verhältnisse eingetreten und diese Änderung für die Zukunft immer zu berücksichtigen sei, sei die Aufhebung für die Zukunft gemäß § 45 Abs 2 Nr 2 SGB X zulässig.
Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 29. April 2014 Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02. Juli 2014 als unbegründet zurückwies. Zur Begründung seiner Entscheidung führt er im Wesentlichen aus, Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung seien die Regelungen der §§ 40 Abs 1 S 1, Abs 2 Nr 3 SGB II, 330 Abs 2 SGB III und § 45 Abs 2 S 3 Nr 1, 2 und 3 SGB X. Die Klägerin habe durch ihre unzutreffenden Angaben den Eindruck erwecken wollen, mit Herrn X lediglich in einer Wohngemeinschaft zu leben, zu ihm keinerlei partnerschaftliche Verbindung zu haben und getrennt von ihm zu wirtschaften. Es habe der Eindruck erweckt werden sollen, es bestünde keine Bedarfsgemeinschaft. Mit diesem Verhalten habe die Klägerin alle vertrauensschutzausschließenden Tatbestände des § 45 Abs 2 S 3 SGB X erfüllt. Zwischen ihr und Herrn X bestehe eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, weil die Voraussetzungen der Vermutungsregelung des § 7 Abs 3a SGB II erfüllt seien, so dass sie eine Bedarfsgemeinschaft bildeten, weshalb gemäß § 9 Abs 2 S 1 und S 3 SGB II auf den Bedarf auch das Einkommen und Vermögen des Partners, hier also von Herrn X, anzurechnen sei. Das Einkommen und Vermögen des Herrn X sei bisher nicht bekannt, erst nach der Auskunftserteilung nach Maßgabe der Regelung des § 60 Abs 4 S 1 Nr 1 SGB II könne der Leistungsanspruch der Klägerin berechnet werden.
Mit Schriftsatz vom 01. August 2014 hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Neuruppin am gleichen Tage Klage erhoben. Zur Begründung ihres auf Aufhebung der sie belastenden Verfügung gerichteten Begehrens führt Sie aus, zwischen ihr und Herrn X bestünde nach der im Jahr 1997 erfolgten Trennung keine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft mehr. Sie und Herr X lebten in keiner Partnerschaft und in keiner Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft.
Die Klägerin beantragt (nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß),
die mit dem Bescheid des Beklagten vom 17. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Juli 2014 verlautbarte Aufhebungsentscheidung aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung seines Antrages verweist er im Wesentlichen auf die Ausführungen in dem – auch – angegriffenen Widerspruchsbescheid vom 02. Juli 2014 und vertieft seine dortigen Erwägungen.
Mit Beschluss vom 12. Juni 2014 – S 24 AS 691/14 ER – hat die 24. Kammer des Sozialgerichts Neuruppin die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Klägerin vom 29. April 2014 gegen die Aufhebungsentscheidung des Beklagten vom 17. April 2014 angeordnet; die ursprünglich für den Streitzeitraum bewilligten Leistungen hat der Beklagte daraufhin an die Klägerin ausgezahlt (vgl hierzu auch das Schreiben der Beklagten vom 19. Juni 2014).
Das Gericht hat die Beteiligten mit Verfügung vom 19. Mai 2020 zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
Die Prozessakte und die die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten sowie die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Neuruppin haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird ergänzend auf den Inhalt der Prozess- und der Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage, über die die Kammer gemäß § 105 Abs 1 S 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Gerichtsbescheid entscheiden konnte, weil die Sache keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten aufweist, der Sachverhalt geklärt ist, die Beteiligten gemäß § 105 Abs 1 S 2 SGG zuvor mit der gerichtlichen Verfügung vom 19. Mai 2020 zu dieser beabsichtigten Entscheidungsform ordnungsgemäß angehört worden sind, eine ausdrückliche Zustimmung der Beteiligten hierzu nicht erforderlich ist und weil das Gericht – ebenso wie im Rahmen der mündlichen Verhandlung – weder zur vorherigen Darstellung seiner Rechtsansicht (vgl Bundessozialgericht, Beschluss vom 03. April 2014 – B 2 U 308/13 B, RdNr 8 mwN) noch zu einem vorherigen umfassenden Rechtsgespräch verpflichtet ist (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 30. Oktober 2014 – B 5 R 8/14 R, RdNr 23), hat Erfolg.
1. Gegenstand des Klageverfahrens sind die in der Antragstellung genannten Verfügungen des Beklagten, mit denen dieser die mit dem Bewilligungsbescheid vom 19. November 2013 zuvor gewährten bewilligenden Rechtspositionen für den Zeitraum vom 01. April 2014 bis zum 31. Mai 2014 aufgehoben hat.
2. a) Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zu Recht mit einer (isolierten) Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 S 1 Regelung 1 SGG, weil der Beklagte in die bislang der Klägerin gewährten Rechtspositionen – nämlich in die bestandskräftig gewordenen bewilligenden Verfügungen – zu ihren Lasten eingegriffen hat und sie allein durch die Aufhebung dieser Verfügungen ihr Klageziel erreichen kann. Bereits durch die Aufhebung der mit der Aufhebungsentscheidung leben die ursprünglichen bewilligenden Verfügungen, mit denen der Beklagte der Klägerin Leistungen nach dem SGB II gewährt hatte, wieder auf.
b) Dem Begehren der Klägerin steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin von dem Beklagten für den hier streitigen Zeitraum bereits aufgrund einer stattgebenden Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen erhalten hat (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 09. August 2018 – B 14 AS 32/17 R, RdNr 10 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 03. Dezember 2015 – B 4 AS 44/15 R, RdNr 12). Dies zeigt sich hier insbesondere daran, dass der Beklagte die Klägerin in ihrem Schreiben vom 19. Juni 2014 zutreffend darauf hingewiesen hat, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit der Unanfechtbarkeit der Entscheidung über den Widerspruch ende und deshalb die Leistungen lediglich vorläufig ausgezahlt würden (vgl zu alledem auch Bundessozialgericht, Urteil vom 27. Juni 2013 – B 10 EG 2/12 R, RdNr 20 mwN), so dass die Klägerin lediglich eine vorläufige Rechtsposition erlangt hat, die sie nur mit dem vorliegenden Verfahren in eine endgültige Rechtsposition umwandeln kann.
c) Die so verstandene statthafte Klage ist auch im Übrigen zulässig.
3. Die danach insgesamt zulässige Klage ist auch begründet. Die angegriffene Aufhebungsentscheidung des Beklagten vom 17. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Juli 2014 ist materiell rechtswidrig und beschwert die Klägerin in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten (vgl § 54 Abs 2 S 1 SGG), weil die Feststellungen des Beklagten die zugrunde zu legenden Aufhebungsvoraussetzungen nicht tragen. Die Voraussetzungen der Regelungen des § 40 Abs 1 S 1 SGB II, des § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II, des § 330 Abs 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) und des § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 bis Nr 3 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) – jeweils in der Fassung, die die genannten Vorschriften vor dem Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums hatten, weil in Rechtsstreitigkeiten über bereits abgeschlossene Bewilligungszeiträume das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden ist (sog Geltungszeitraumprinzip, vgl dazu nur Bundessozialgericht, Urteil vom 19. März 2020 – B 4 AS 1/20 R, RdNr 13 mwN) – als der zumindest in dem Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 02. Juli 2014 genannten Rechtsgrundlagen liegen nicht vor.
a) Nach den von dem Beklagten herangezogenen Regelungen darf eine begünstigende Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II, soweit sie rechtswidrig ist, auch nachdem sie unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 des § 45 SGB X ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 1 SGB X kann sich der Begünstigte dabei nicht auf sein Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsakts berufen, wenn er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, ferner nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB X nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, und schließlich nach § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X nicht, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts nach der genannten Vorschrift setzt nach deren systematischen Stellung im Gefüge der §§ 44 ff SGB X voraus, dass eine ursprüngliche Rechtswidrigkeit vorlag, der Verwaltungsakt also bereits im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war (vgl Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 15 mwN). Diese Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsverfügungen sind dem Bescheid vom 17. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02. Juli 2014 allenfalls rudimentär zu entnehmen. Der Beklagte hat zur Begründung seiner Aufhebungsentscheidung im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin und Herr X wegen des Bestehens einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft eine Bedarfsgemeinschaft iSd § 7 Abs 3 SGB II bilde, dass deshalb auch dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu berücksichtigen seien, die jedoch bislang nicht bekannt seien und der Leistungsanspruch deshalb nicht berechnet werden könne.
Diese – insoweit für den Beklagten offenbar – maßgebliche Begründung trägt indes nicht die Aufhebung der Leistungsbewilligungen, weil es an einer entscheidenden Voraussetzung für eine solche Aufhebung fehlt. Notwendig für die Verneinung der Hilfebedürftigkeit ist in derartigen Konstellationen nicht nur das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft, sondern ebenfalls, dass innerhalb der Bedarfsgemeinschaft ein ausreichendes zu berücksichtigendes Einkommen erzielt wird (§ 9 Abs 2 S 1 SGB II). Zur Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens hat der Beklagte in den angegriffenen Verfügungen allerdings – was er auch selbst einräumt – keine Feststellungen getroffen, keine Berechnungen vorgenommen und insbesondere keinerlei Ermittlungen hierzu vorgenommen oder diese zumindest nicht konsequent – notfalls mit Mitteln der Verwaltungsvollstreckung – zu Ende geführt. Die Annahme, der Klägerin stünden keinerlei Leistungen zu, was es rechtfertigen würde, die Leistungsbewilligungen vollständig aufzuheben, war jedenfalls keine Feststellung aufgrund von Ermittlungen, sondern eine bloße Vermutung, auf die jedoch die Aufhebungsverfügung nicht gestützt werden kann (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 17).
b) Dass es Aufgabe des Beklagten ist, alle Tatsachen zu ermitteln, die zum Erlass eines Verwaltungsakts notwendig sind, folgt aus dem in § 20 SGB X festgeschriebenen Untersuchungsgrundsatz, dessen Reichweite sich nach dem jeweiligen Gegenstand des Verwaltungsverfahrens richtet vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 18 unter Hinweis auf Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, § 20, RdNr 5). Es müssen somit alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Verwaltungsentscheidung wesentlich im Sinne von entscheidungserheblich sind. Ein Absehen von Ermittlungen ist nur zulässig, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, sie offenkundig ist oder als wahr unterstellt werden kann oder das Beweismittel unerreichbar ist vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 18 unter Hinweis auf Siefert, aaO, § 20 RdNr 15 sowie Luthe in jurisPK-SGB X, 2013, § 20, RdNr 13).
Dementsprechend durfte es der Beklagte bei seiner Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 45 SGB X für eine vollständige Aufhebung der Leistungsverfügungen vorlagen, nicht offen lassen, ob und ggf in welcher Höhe Einkommen vorhanden war, das für die Deckung der Bedarfe der Bedarfsgemeinschaft ganz oder teilweise ausgereicht hätte. Es kam dann bei der folgenden Prüfung auch nicht darauf an, ob die Klägerin ihre Hilfebedürftigkeit darlegen konnte, sondern in der Aufhebungssituation war der Beklagte gehalten, die erforderlichen Ermittlungen zum zu berücksichtigenden Einkommen und der sich daraus ergebenden Folgen für die Hilfebedürftigkeit der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft anzustellen, wozu er zunächst das von dem Beklagten selbst angesprochene Verfahren nach § 60 Abs 4 S 1 SGB II gegenüber Herrn X nicht nur – wie hier – einleiten (vgl hierzu auch das bei der Kammer geführte Verfahren des Herrn X – S 26 AS 1641/14), sondern auch konsequent hätte zu Ende führen müssen.
c) Nach den allgemeinen Regeln für die Darlegungs- und Beweislast gilt, dass derjenige die objektiven Tatsachen darlegen muss, die den von ihm geltend gemachten Anspruch begründen. Dies betrifft sowohl das Vorhandensein von positiven, als auch das Fehlen von negativen Tatbestandsvoraussetzungen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 20 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Oktober 1957 – 10 RV 945/55). Damit trägt der Beklagte nicht nur die objektive Beweislast für die belastende Aufhebungsentscheidung (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 20 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 13. September 2006 – B 11a AL 13/06 R, RdNr 18; Bundessozialgericht, Urteil vom 20. Oktober 2005 – B 7a/7 AL 102/04 R, RdNr 13 ff sowie Bundessozialgericht, Urteil vom 02. April 2009 – B 2 U 25/07 R), sondern er ist bereits im vorherigen Verfahrensstadium verpflichtet, die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Norm, auf die er seine Verwaltungsentscheidung stützt, zu ermitteln und entsprechend festzustellen, damit sich der Leistungsberechtigte im Verfahren mit seiner Argumentation auf die die Entscheidung tragenden Gründe einrichten kann.
Das ist auch deshalb nicht ausnahmsweise unbeachtlich, weil von Ermittlungen abgesehen werden konnte, da die ungeklärte Tatsache nicht oder nur unter unzumutbar erschwerten Bedingungen zu erreichen war. Vielmehr stand dem Beklagten gerade für Sachverhalte wie dem vorliegenden, die Möglichkeit zur Verfügung, sich zur Ermittlung des Vorliegens der tatsächlichen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs unmittelbar an den Dritten zu wenden. Der Beklagte kann auf der Grundlage des § 60 Abs 4 S 1 Nr 1 SGB II einen Verwaltungsakt erlassen und bei unterbliebener oder pflichtwidriger Erfüllung der Auskunftspflicht durch den Dritten die Rechte und Befugnisse nach den §§ 62 und 63 SGB II (Schadenersatz, Ordnungswidrigkeitenrecht) in Anspruch nehmen, zudem wäre ein vollstreckungsrechtlicher Zwangsgeldverwaltungsakt gemäß § 40 Abs 6 SGB II nach Erlass des Auskunftsverwaltungsakts gemäß § 60 Abs 4 SGB II zu erwägen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 21 unter Hinweis auf vgl Blüggel in Eicher, SGB II, 3. Aufl 2013, § 60, RdNr 56 ff mwN).
d) Die Kammer war aufgrund ihrer Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG auch nicht verpflichtet, die vom Beklagten unterlassene Ermittlung des zu berücksichtigenden Einkommens als Voraussetzung für seine Aufhebungsverfügung hinsichtlich der bewilligenden Verfügungen nachzuholen.
aa) Die Gerichte sind grundsätzlich verpflichtet, den angefochtenen Verwaltungsakt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend nachzuprüfen (vgl § 54 Abs 2 S 1 SGG und § 103 SGG); die beklagte Behörde kann deshalb im Laufe des Gerichtsverfahrens neue Tatsachen und Rechtsgründe "nachschieben" (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 ua unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 87/09 R sowie Bundessozialgericht, Urteil vom 21. September 2000 – B 11 AL 7/00 R, BSGE 87, 132, 139 = SozR 3-4100 § 128 Nr 10 S 87 f: nicht nur "Kassation", sondern auch "Reformation"). Hinsichtlich eines solchen Nachschiebens von Gründen gibt es jedoch bei belastenden Verwaltungsakten, die im Wege der reinen Anfechtungsklage angefochten werden, Einschränkungen, wenn die Verwaltungsakte dadurch in ihrem Wesen verändert werden und der Betroffene infolgedessen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden kann (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 ua unter Hinweis auf BSGE 3, 209, 216; BSGE 9, 277, 279 f; BSGE 29, 129, 132; BSGE 38, 157, 159; BSGE 87, 8, 12; Kischel, Folgen von Begründungsfehlern, 2004, 189 ff).
Da die Aufrechterhaltung eines Verwaltungsakts mit einer völlig neuen tatsächlichen Begründung dem Erlass eines neuen Verwaltungsakts gleichkommt, würde das Gericht anderenfalls entgegen dem Grundsatz der Gewaltentrennung (Art 20 Abs 2 S 2 des Grundgesetzes) selbst aktiv in das Verwaltungsgeschehen eingreifen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 9, 277, 280). Eine solche Änderung des "Wesens" eines Verwaltungsakts, das in Anlehnung an den Streitgegenstand eines Gerichtsverfahrens bestimmt werden kann (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 9, 277, 280 sowie Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl 2015, § 113 RdNr 69), ist ua angenommen worden, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird, zB bei einem Streit um die Höhe einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Laufe des Gerichtsverfahrens ein weiteres Element der Rentenberechnung vom Rentenversicherungsträger in Abrede gestellt wird (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf BSGE 38, 157, 159; BSG SozR 1500 § 77 Nr 56), oder wenn auf eine andere Rechtsgrundlage zurückgegriffen werden soll, die einem anderen Zweck dient (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 23 unter Hinweis auf Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 87/09 R, RdNr 16).
bb) Neben dieser Entwicklung der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber einerseits in § 41 Abs 2 SGB X die Heilungsmöglichkeiten für Verfahrens- und Formfehler der Behörde bei Erlass eines Verwaltungsakts bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines gerichtlichen Verfahrens erleichtert (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Dolderer, DÖV 1999, 104 ff) und andererseits die Möglichkeit der Zurückverweisung vom Gericht an die Behörde eingeführt, wenn diese Ermittlungen unterlässt (§ 131 Abs 5 SGG), sowie dem Gericht das Recht eingeräumt, der Behörde die Kosten einer von ihr unterlassenen und vom Gericht nachgeholten Ermittlung aufzuerlegen (§ 192 Abs 4 SGG). Hierdurch sind die Heilungs- und Nachbesserungsmöglichkeiten der Behörde in formeller Hinsicht erweitert worden, während sie auf der anderen Seite ihre Ermittlungsarbeit nicht auf die Gerichte verlagern soll, weil diese für die materielle Entscheidung von zentraler Bedeutung ist und deren Kern und damit das Wesen des erlassenden Verwaltungsakts bestimmt. Ausgehend von diesen Konkretisierungen des Gesetzgebers und der zuvor dargestellten Rechtsprechung ist in reinen Anfechtungssachen das Nachschieben eines Grundes durch die Behörde regelmäßig unzulässig (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 29. Juni 2015 – 1 C 2/15, RdNr 14 f zur gesetzlich ausdrücklich angeordneten Pflicht der Gerichte zur Nachermittlung neuer Sachverhalte im Asylrecht), wenn dieser umfassende Ermittlungen seitens des Gerichts erfordert, die Behörde ihrerseits insofern keine Ermittlungen angestellt hat und der Verwaltungsakt hierdurch einen anderen Wesenskern erhält, weil dann der angefochtene Verwaltungsakt – bei einem entsprechenden Ergebnis der Ermittlungen – mit einer wesentlich anderen Begründung Bestand hätte (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 24 unter Hinweis auf Kischel, Folgen von Begründungsfehlern, 2004, 190 f).
cc) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte erst das Gericht durch die Ermittlung des Einkommens des Herrn X die Grundlagen für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts legen können und hätte damit das Wesen der angegriffenen Aufhebungsverwaltungsakte verändert. Trotz des Zusammenhangs zwischen dem Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft und der Erzielung von Einkommen innerhalb der Bedarfsgemeinschaft nach § 9 Abs 2 S 1 SGB II handelt es sich nämlich um grundlegend verschiedene Prüfungspunkte, bei denen eigenständige Ermittlungen erforderlich sind, wie zB die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten nach § 60 SGB II zeigen. Es handelt sich also nicht nur um eine Ergänzung des Sachverhalts, auf den der Beklagte seine Entscheidung gestützt hat, sondern um die umfassende Prüfung einer weiteren Voraussetzung für die angefochtene Aufhebungsverfügung, die der Beklagte bisher nicht beachtet hatte und deren Prüfung und Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie von ihm durchzuführen war. Außerdem wären hierdurch die Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerin erheblich erschwert worden, weil die gesonderte Prüfung der Rechtmäßigkeit des Auskunftsverlangens seitens des Beklagten gegenüber Herrn X hinsichtlich des auf der Grundlage von § 60 Abs 4 S 1 SGB II zu führenden Verfahrens entfallen wäre. Im Rahmen einer Anfechtungsklage der vorliegenden Art ist es Aufgabe des Gerichts, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde zu überprüfen, nicht aber die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts erst zu schaffen (vgl nur Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2015 – B 14 AS 30/14 R, RdNr 25)
e) Auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob zwischen der Klägerin und Herrn X in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum tatsächlich eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs 3 Nr 3 c) SGB II bestand, kommt es nach alledem nicht mehr entscheidungserheblich an.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 und Abs 4 SGG. Es entsprach dabei der Billigkeit, dass der Beklagte der Klägerin die ihr entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach in voller Höhe zu erstatten hat, weil sie mit dem in der von dem Gericht zugrunde gelegten (sinngemäßen, vgl § 123 SGG) Antragstellung vollumfänglich obsiegte.
6. Gerichtskosten werden in Verfahren der vorliegenden Art nicht erhoben (§ 183 S 1 SGG).
Rechtsmittelbelehrung
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Richter am Sozialgericht
Erstellt am: 15.07.2020
Zuletzt verändert am: 23.12.2024