Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 27.02.2014 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe des Regelbedarfs von 391 EUR nach dem SGB II ab dem 25.01.2014 bis zum 30.06.2014 zu gewähren. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M aus F bewilligt.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsstellerin ist begründet.
1) Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237 = NVwZ 2005, 927; Keller in: Meyer-Ladewig u.a., Kommentar zum SGG, 10. Auflage 2012 zu § 86b, Rn. 29 a).
2) Die Entscheidung des Sozialgerichts (SG) Duisburg vom 27.02.2014 war unter Berücksichtigung der Grundsätze der Folgenabwägung aufzuheben. Der Antragsgegner war zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe des begehrten Regelbedarfs von monatlich 391 EUR vorläufig für den Zeitraum vom 25.01.2014 bis 30.06.2014 zu gewähren.
a) Nach summarischer Prüfung sind die allgemeinen Voraussetzungen der Leistungsgewährung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II gegeben. Die Antragstellerin ist am 07.09.1989 geboren und hat damit das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Als bulgarische Staatsangehörige ist die Antragstellerin erwerbsfähig i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, Rn. 13 ff). Die Antragstellerin ist nach bisherigen Erkenntnissen i.S.v. §§ 7 Abs. 1 S.1 Nr. 3, 9 SGB II auch hilfebedürftig; auf die entsprechende eidesstattliche Versicherung der Antragstellerin vom 24.01.2014 wird hingewiesen. Hiermit hat die Antragstellerin erklärt, sie sei mittellos, sie habe nichts auf ihrem Konto bei der Postbank. Gegenteilige Anhaltspunkte liegen nicht vor und sind vom Antragsgegner auch nicht in substantiierter Form geltend gemacht worden. Die Antragstellerin hat im Übrigen auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland i.S.v. § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II glaubhaft gemacht (vgl. zur Frage des gewöhnlichen Aufenthaltes BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R, Rn 18 ff).
b) Bei der Frage, ob die Antragstellerin als bulgarischer Staatsangehöriger gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist, weil sie sich nach derzeitiger Aktenlage – insbesondere auch unter Berücksichtigung der Einlassung der Antragstellerin in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 24.01.2014 – allein zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten dürfte, oder ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 4 VO (EG) 883/2004 hinter diese zurücktritt, handelt es sich um umstrittene Rechtsfragen, die in Rechtsprechung und Literatur bisher nicht einheitlich beantwortet sind (vgl. etwa gegen der Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 09.05.2012 – L 19 AS 794/12 B ER unter Berufung auf ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages; SG Berlin, Beschluss vom 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 ER; LSG NRW, Beschluss vom 02.10.2012 – L 19 AS 1393/12 B ER; Schreiber in NZS 2012, Seite 647 ff.; für eine Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II: SG Berlin, Beschluss vom 11.06.2012 – S 205 AS 11266/12 ER und Beschluss des SG Berlin vom 14.05.2012 – S 124 AS 7164/12 ER; LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 21.06.2012 – L 20 AS 1322/12 B ER und vom 02.08.2012 – L 5 AS 1297/12 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.05.2012 – L 3 AS 1477/11). Die Komplexität der gesetzlichen Regelungen unter Berücksichtigung der Einwirkungen der europarechtlichen Rechtsnormen auf die nationalen Gesetze lässt sich auch dem beim Bundessozialgericht (BSG) unter dem Aktenzeichen B 4 AS 9/13 R geführten Verfahren, in dem Ansprüche von schwedischen Staatsangehörigen streitig sind, entnehmen. Das BSG hat das Verfahren B 4 AS 9/13 R nach Art. 267 Abs. 1 und 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ausgesetzt, um eine Vorabentscheidung des EuGH zu verschiedenen Fragen einzuholen, u.a., ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004, mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004, auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt (BSG, EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R; vgl. hierzu auch SG Leipzig, EuGH-Vorlage vom 03.06.2013 – S 17 AS 2198/12 = EuGH – C-333/13 – Rs. Dano).
Aufgrund der Komplexität der Rechtsfragen kann die Rechtslage in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden, so dass anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden ist (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05). Diese fällt zugunsten der Antragstellerin aus. Ohne die beantragten Leistungen drohten bzw. drohen der Antragstellerin für den tenorierten Zeitraum existentielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden kann, da deren Lebensunterhalt jedenfalls ab Antragstellung beim SG am 25.01.2014 nicht mehr gesichert war. Demgegenüber hat der Antragsgegner allein finanzielle Nachteile durch die vorläufige Auszahlung der Leistungen. Insbesondere ist die Antragstellerin zur Sicherstellung des Existenzminimums wegen der diesbezüglich bestehenden klärungsbedürftigen Rechtsfragen auch nicht auf die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu verweisen (LSG NRW, Beschluss vom 20.12.2012 – L 7 AS 2138/12 B ER).
3) Die Antragstellerin hält sich ausweislich der Anmeldebestätigung vom 20.12.2013 und ausweislich ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 24.01.2014 seit dem 01.11.2013 wieder in Deutschland auf, nachdem sie sich bereits zuvor vom 23.11.2012 bis Juni 2013 in Essen aufhielt. Mit Eingang des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz am 25.01.2014 beim SG ist ein Dreimonatszeitraum seit ihrer erneuten Einreise in die Bundesrepublik Deutschland noch nicht abgelaufen. Für den Zeitraum bis Ablauf der ersten drei Monate ab Einreise am 31.01.2014 kommt daher für einen Leistungsausschluss neben § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ggf. auch der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Betracht. Danach sind von den Leistungen nach dem SGB II ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts. Aus der Entstehungsgeschichte der Regelung ergibt sich, dass der deutsche Gesetzgeber zeitgleich mit der Erweiterung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern zu einer allgemeinen Freizügigkeit für alle Unionsbürger mit der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von der "Option" des Art. 24 Abs. 2 iVm Art. 14 Abs. 4 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (RL 2004/38/EG) Gebrauch machen wollte (BT-Drucks 16/5065 S. 234; siehe auch BT-Drucks 16/688 S. 13). Sofern im europäischen Rechtsgefüge ein Gleichbehandlungsgebot – insb. Art. 45 AEUV oder Art. 4 EGV 883/2004 greift – ist die nationale Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II unmittelbar diskriminierend (so auch BSG, EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R zum Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II). Der Senat vertritt daher die Auffassung, dass die starre zeitliche Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt (so auch Husmann in NZS 2009, S. 652, 657) und verweist insoweit auf seinen aktuellen Vorlagebeschluss vom 22.05.2014 (L 7 AS 2136/13). Die Frage der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II ist daher ebenso ungeklärt, wie die Frage der Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II. Deshalb waren für die Antragstellerin auch in Ansehung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II im Rahmen der Folgenabwägung für den Zeitraum vom 25.01.2014 bis 31.01.2014 Leistungen in Form des Regelbedarfs zuzusprechen.
4) Bei der ausgeurteilten Verpflichtung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist zunächst auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht abzustellen; hier der 25.01.2014 beim SG. Bei der Bewilligung vorläufig zu gewährender Leistungen war der nach § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II vorgegebene Bewilligungszeitraum von sechs Monaten aufgrund der anhaltenden Rechtsunsicherheit auszuschöpfen. Der Senat weist darauf hin, dass in der Rechtssache Dano (zum Vorlagebeschluss des SG Leipzig; SG Leipzig, EuGH-Vorlage vom 03.06.2013 – S 17 AS 2198/12 = EuGH – C-333/13 – Rs. Dano) der Schlussantrag des Generalanwalts am 20.05.2014 vorgelegt wurde.
III.
Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war zu gewähren; §§ 73 a SGG, 114 ZPO.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.
Der Beschluss ist unanfechtbar gemäß § 177 SGG.
Erstellt am: 02.07.2014
Zuletzt verändert am: 02.07.2014