Revision der Beklagten durch Urteil vom 10.05.2005 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10.10.2000 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor wie folgt gefasst wird: Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 02.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2002 verurteilt,
1. dem Kläger 165,03 Euro zu erstatten,
2. den Kläger nach jeweiliger ärztlicher Verordnung mit dem Arzneimittel Viagra zu versorgen.
Die Beklagte trägt neun Zehntel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ein Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Viagra bzw. Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten zusteht.
Der am …1959 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Kläger beantragte am 07.10.2001 bei der Beklagten die Versorgung mit dem Arzneimittel Viagra. Dazu legte er ärztliche Bescheinigungen des Internisten Dr. K … und des Urologen Dr … vor. Dr. K … bescheinigte dem Kläger unter dem 28.08.2001 einen Diabetes mellitus Typ I, Manifestation 1979, Adipositas sowie als Folgeerkrankungen diabetische Nephropathie, Mikroalbuminurie, erektile Dysfunktion, arterielle Hypertonie und Hypercholesterinämie. Er vertrat die Auffassung, dass wegen der erektilen Dysfunktion die Verordnung von Viagra erforderlich sei. Dr. R … diagnostizierte in seiner Bescheinigung vom 30.08.2001 ebenfalls eine erektile Dysfunktion bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus und gab an, dass die Erektionsstörungen des Klägers als Folgeerkrankung des langjährigen Diabetes mellitus anzusehen seien.
Die Beklagte lehnte die Gewährung des Medikaments durch den Bescheid vom 02.10.2001 mit der Begründung ab, dass das Medikament Viagra durch die Arzneimittelrichtlinien (AMR) aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen worden sei.
Dagegen legte der Kläger am 30.10.2001 Widerspruch ein, den die Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 28.02.2002 zurückwies.
Der Kläger hat am 26.03.2002 Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf erhoben.
Zur Begründung hat er vorgebracht: Bei ihm liege eine Krankheit i.S.d. Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung vor, weil die Erektionsstörungen Folge des langjährigen Diabetes mellitus seien. Deshalb sei die Beklagte auch verpflichtet, ihn mit dem Arzneimittel Viagra zu versorgen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2002 zu verurteilen, die Kosten des verordneten Arzneimittels Viagra zu übernehmen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat an der Auffassung festgehalten, dass eine Verordnung von Viagra zu ihren Lasten aufgrund des Ausschlusses in den AMR nicht in Betracht kommen könne.
Dr. K … hat in dem vom Sozialgericht angeforderten Befundbericht vom 30.06.2002 mitgeteilt, dass er sich für eine Therapie mit dem Medikament Viagra entschieden habe, weil der gewünschte therapeutische Effekt habe erreicht werden können und die Nebenwirkungsgefahr als gering angesehen worden sei. Dr. R … hat in dem Befundbericht vom 29.06.2002 u.a. ausgeführt, dass Viagra verordnet worden sei, weil es die einfachste und effektivste Therapieform mit sehr guter Wirkung darstelle. Andere Therapieformen (Erektionspumpe oder das Verabreichen von Spritzen in den Penis [SKAT]) seien keine Alternativen.
Durch Urteil vom 10.10.2002 hat das Sozialgericht Düsseldorf die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, die Kosten des verordneten Arzneimittels Viagra zu übernehmen. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.
Gegen das ihr am 17.10.2002 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 25.10.2002 Berufung eingelegt.
Zur Begründung bringt sie vor: Eine Leistungspflicht für Viagra bestehe nicht, weil eine Versorgung des Klägers mit einer Vakuumpumpe erheblich wirtschaftlicher sei. Zwar sei die Handhabung sicherlich umständlicher als die Einnahme einer Tablette, jedoch sei dies unter Berücksichtigung des deutlichen Kostenvorteils zumutbar. Außerdem berge die Anwendung der Vakuumpumpe weniger Risiken hinsichtlich unerwünschter Folge- und Nebenwirkungen als die Verabreichung von Viagra.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 10.10.2002 zu ändern und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Kläger hat ärztliche Verordnungen über Viagra vom 05.11.2002, 14.01.2003 und 26.03.2003 vorgelegt, die jeweils einen quittierten Betrag in Höhe von 55,01 Euro ausweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den übrigen Inhalt der Streitakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet.
Das Sozialgericht hat zu Recht den Bescheid vom 02.10.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.02.2002 aufgehoben und dem Klagebegehren stattgegeben. Dieses ist dahingehend auszulegen, dass es dem Kläger zum einen um die Erstattung des bislang aufgewandten Betrages in Höhe von 165,03 Euro für die Beschaffung des Arzneimittels Viagra geht, zum anderen aber auch darum, dass die Beklagte ihn künftig nach jeweiliger ärztlicher Verordnung mit diesem Arzneimittel versorgt. Entsprechend hat der Senat zur Klarstellung den Tenor gefasst.
Der Anspruch des Klägers auf Kostenerstattung ergibt sich aus § 13 Abs. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, den Versicherten die für die Beschaffung der Leistung aufgewendeten Kosten zu erstatten.
Die hier ersichtlich allein in Betracht kommende 2. Alternative des § 13 Abs. 3 SGB V setzt zunächst voraus, dass zwischen dem die Haftung der Krankenkasse begründenden Umstand – der rechtswidrigen Ablehnung – und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein Kausalzusammenhang bestehen muss (BSG, Beschluss vom 15.04.1997, Az.: B 1 KR 31/96 m.w.N.; BSG SozR 3-2500 § 13 Nr. 15). Dies bedeutet, dass der Versicherte vor Inanspruchnahme einer Leistung außerhalb des Sachleistungssystems grundsätzlich gehalten ist, sich an seine Krankenkasse zu wenden und die Gewährung zu beantragen. Der Versicherte darf der Entscheidung der Kasse nicht dadurch vorgreifen, dass er die erstrebte Leistung privatärztlich erhält und die erforderliche Prüfung in das Verfahren der Kostenerstattung verlagert. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, denn der Kläger hat die (jetzt noch) streitgegenständlichen privatärztlichen Verordnungen sowie auch das Arzneimittel Viagra selbst erst nach Erteilung des ablehnenden Bescheides am 30.10.2001 auf eigene Kosten beschafft.
Weitere Voraussetzung des Kostenerstattungsanspruchs – wie auch des Klageantrags zu 2) – ist, dass die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen zählt, die die gesetzlichen Krankenkassen als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 09.12.1997, Az.: 1 RK 23/95, SozR 3-2500 § 27 Nr. 9; BSG, Urteil vom 28.03.2000, B 1 RK 11/98 R, SozR 3- 2500 § 135 Nr. 14). Auch diese Voraussetzung ist erfüllt; der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit dem Arzneimittel Viagra nach jeweiliger ärztlicher Verordnung.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst der Anspruch auf Krankenbehandlung u.a. auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Dieser Anspruch wird durch § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V weiter spezifiziert: Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 ausgeschlossen sind und auf Versorgung mit Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen.
Die erektile Dysfunktion, an der der Kläger leidet, stellt eine Krankheit i.S.d. o.g. Vorschriften dar. Eine Krankheit ist danach ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder – zugleich oder ausschließlich – Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSG, Urteil vom 30.09.1999, SozR 3-2500 § 27 Nr. 11). Die Erektionsstörungen des Klägers stellen einen derartigen regelwidrigen Körperzustand dar. Die behandelnden Ärzte des Klägers Dr. R … und Dr. K … haben das Vorliegen einer erektilen Dysfunktion sowie einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Diabetes mellitus bestätigt. An der Richtigkeit ihrer Angaben bestehen keinerlei Zweifel. Es bedarf keiner weiteren Darlegung, dass dieser körperliche Zustand des 1959 geborenen Klägers vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht. Diese Erkrankung ist auch behandlungsbedürftig (vergl. hierzu die eingehenden Ausführungen des BSG in dem Urteil vom 30.09.1999 aaO).
Entgegen der Ansicht der Beklagten scheitert der Anspruch des Klägers auch nicht etwa an dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
Im vorliegenden Fall besteht zunächst kein Anhaltspunkt dafür, dass die beim Kläger vorliegende erektile Dysfunktion dadurch behebbar wäre, dass der Diabetes mellitus des Klägers erfolgreich behandelt werden könnte. Dies hat auch die Beklagte nicht angenommen; der Krankengeschichte des Klägers sowie den Ausführungen der behandelnden Ärzte ist in dieser Hinsicht auch keinerlei Hinweis zu entnehmen. Die Versorgung des Klägers mit dem Arzneimittel Viagra zur Behebung bzw. Linderung der erektilen Dysfunktion stellt die einzige ausreichende und zweckmäßige Leistung dar, die (deshalb) auch als wirtschaftlich zu betrachten ist.
Auszugehen ist davon, dass allein die Einnahme des Arzneimittels Viagra in der Lage ist, die beim Kläger bestehende Impotenz auf eine angemessene und zumutbare Weise – zeitlich begrenzt – zu beseitigen. Alle anderen von der Beklagten in Betracht gezogenen Hilfsmittel erweisen sich als unzweckmäßig, weil sie gravierende Gebrauchsnachteile aufweisen (vergl. insoweit auch Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Urteil vom 31.08.2001, Az L 4 KR 4360/00). Sowohl dem Verabreichen von Spritzen in den Penis (SKAT) wie auch dem Gebrauch der Vakuumpumpe ist gemeinsam, das unmittelbar vor dem Geschlechtsverkehr eine auffällige, das Vorliegen der erektilen Dysfunktion deutlich bzw. bewußtmachende Handhabung dieser Hilfsmittel erfolgen muss. Die Einnahme des Medikaments Viagra kann dagegen ohne weiteres so erfolgen, dass weder dem Kläger noch seiner Partnerin das Bestehen der Krankheit deutlich wird. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die deutlich umständlichere Anwendung von SKAT oder der Vakuumpumpe nicht nur – wie die Beklagte meint – praktische Gebrauchsnachteile aufweist, sondern regelmäßig auch mit nach teiligen psychischen Auswirkungen verbunden ist. Der Geschlechtsverkehr ist eben nicht nur auf die blosse Funktion von Geschlechtsorganen zu reduzieren, sondern stellt eine umfassende körperliche Begegnung zweier Menschen unter Einschluss auch der seelischen Ebene dar. Die Vakuumpumpe und SKAT stellen auch dann kein gleich gut geeignetes Mittel zur Behebung der Erektionsschwäche dar, wenn man davon ausgeht, dass der Sexualpartner dem Erkrankten (und dem Gebrauch von SKAT bzw. der Vakuumpumpe) verständnisvoll begegnet (so Sozialgericht (SG) Köln, Urteil vom 11.02.2003, Az S 26 (9) KR 45/01), denn gerade die psychischen Auswirkungen sind der willentlichen Beeinflussung weitgehend entzogen.
Dem Anspruch des Klägers auf die Verordnung des Arzneimittels Viagra stehen auch nicht sonstige gesetzliche Vorschriften entgegen. Dies gilt zunächst für die Vorschrift des § 34 SGB V. Viagra zählt nicht zu den in Absatz 1 genannten Bagatellarzneimitteln; eine Verordnung gemäß Absatz 2 ist bisher nicht ergangen (vergl. insoweit auch BSG, Urteil vom 30.09.1999 aaO). Die auf der Ermächtigungsgrundlage des § 34 Absatz 3 SGB V ergangene Verordnung über unwirtschaftliche Arzneimittel vom 21.02.1990 (Bundesgesetzblatt I 301) enthält ebenfalls keinen entsprechenden Ausschluss.
Der Sachleistungsanspruch des Klägers scheitert schließlich nicht an der Regelung der Nr. 17.1 Buchstabe f der Arzneimittelrichtlinien (AMRL) vom 31.08.1993 (Bundesanzeiger Nr. 246 S. 111 055) in der Bekanntmachung vom 23.08.2001 (Bundesanzeiger Nr. 157 S. 18 423). Zwar dürfen danach Mittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion und Mittel, die der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz dienen, nicht verordnet werden. Die AMRL haben Normqualität und sind daher grundsätzlich im Leistungsrecht sowohl für das Leistungsrecht als auch innerhalb des Leistungserbringerrechts beachtlich (BSG SozR 3-2500 § 27 Nr. 11 S. 45). Gleichwohl beschränkt die Nr. 17.1 Buchstabe f der AMRL den Anspruch des Klägers nicht, da sie nicht durch die Ermächtigungsgrundlage des § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V gedeckt ist. Darin wird bestimmt, dass die Bundesausschüsse insbesondere Richtlinien für die Verordnung von Arznei, Verband, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung und häufig auch Krankenpflege und Soziotherapie beschließen sollen. Diese Vorschrift ermächtigt aber nicht dazu, die Behandlung einer bestimmten Erkrankung durch zugelassene Arzneimittel auszuschließen; dies stellt eine unzulässige Einschränkung des Krankheitsbegriffs dar (BSG a.a.O.). Es wäre vielmehr Sache des Gesetzgebers ggffs. die Behandlung von Gesundheitsstörungen auf bestimmeten Gründen von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung auszunehmen (BSG aaO). Etwas anderes ergibt sich auch nicht etwa aus der zum 01.01.2000 in Kraft getretenen Regelung des § 33a SGB V. Diese Vorschrift, durch die die Zuständigkeit für den Verfahrensgang zur Festlegung der Verordnungsfähigkeit der Arzneimittel regelt, sieht die (ausschliessliche) Zuständigkeit des Bundesministeriums für Gesundheit unter Mitwirkung des bei ihm gebildeten Arzneimittelinstituts vor. Dem Bundesausschuss weist § 33a Absatz 1 SGB V im Rahmen seiner Richtlinienkompetenz lediglich für bestimmte Ausnahmefälle die Zulassung einer erweiterten Verordnungsmöglichkeit zu. Dies begründet aber gerade keine Ausschlussmöglichkeit bestimmter Arzneimittel (LSG, Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30.01.2003, Az L 16 KR 7/02).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Erstellt am: 05.08.2005
Zuletzt verändert am: 05.08.2005