Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 29.05.2012 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt T aus H beigeordnet.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet.
Das Sozialgericht (SG) hat zu Recht den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von 374,00 EUR ab dem 08.05.2012 bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch für sechs Monate zu erbringen.
Denn der Antragsteller hat sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund bezüglich des Regelbedarfs hinreichend glaubhaft gemacht.
Die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen seit dem 08.05.2012 (Eingang des Antrages auf Erlass der einstweiligen Anordnung beim SG) vor. Nach dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5,237 = NVwZ 2005, Seite 927).
Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind bei dem Antragsteller nach der im einstweiligen Verfahren möglichen summarischen Prüfung gegeben. Er erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Nrn. 1- 4 SGB II. Denn er hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Er ist auch erwerbsfähig gemäß § 7 Abs.1 Nr. 2 SGB II und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II). Die Bedürftigkeit des Antragstellers (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) ist nach der hier gebotenen summarischen Prüfung ebenfalls glaubhaft gemacht.
Ob dem Anspruch des Antragstellers der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, von den Leistungen ausgenommen. Zwar sind nach dem Wortlaut dieser Norm die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach summarischer Prüfung erfüllt. Denn das Aufenthaltsrecht, jedenfalls das des Antragstellers, ergibt sich derzeit allein aus dem Zweck der Arbeitsuche.
Unter Berücksichtigung des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II und der nach der Rechtsprechung des BVerfG bei nicht möglicher abschließender Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen Folgenabwägung ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung gerechtfertigt.
Nach der eingereichten Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU vom 20.02.2012 benötigt der Antragsteller als polnischer Staatsangehöriger zur Aufnahme einer Beschäftigung keiner Arbeitserlaubnis-EU oder Arbeitsberechtigung-EU. Auch in einem solchen Fall ist zur Überzeugung des Senats aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden Diese fällt zugunsten des Antragstellers aus.
Die Rechtsfrage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Falle von Unionsbürgern, die ohne Erteilung einer Arbeitserlaubnis einer Beschäftigung nachgehen können oder im Besitz einer unbeschränkten und unbefristeten Arbeitsgenehmigung-EU sind, mit europäischem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist und damit für EU-Bürger einschränkend auszulegen ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 29.02.2012 – L 20 AS 2347/11 B ER – und vom 03.04.2012 – L 5 AS 2157/11 – mit weiteren Hinweisen auf den Meinungsstand; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 03.05.2010 – L 7 B 489/09 AS ER) lässt sich im Eilverfahren nicht abschließend klären. Eine Vorlage der deutschen Gerichte an den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der für die Auslegung der hier in Betracht kommenden Art. 45 (ehemals Art. 39 EGV) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und Art. 18 AEUV (ehemals 12 EGV) zuständig ist, besteht indes nur für das Hauptsacheverfahren, nicht aber für das einstweilige Rechtsschutzverfahren, weil dies seinem Charakter als einstweiliges und eiliges Rechtsschutzverfahren zuwiderliefe.
Der kategorische Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für uneingeschränkt zum Arbeitsmarkt zugangsberechtigte Unionsbürger begegnet unter Berücksichtigung des primären EU-Rechts erheblichen Bedenken. Diese folgen aus der Rechtsprechung des EuGH insbesondere in den Verfahren Collins (Urteil vom 23.03.2004, C- 38/02) sowie Vatsouras und Koupatantze (Urteile vom 04.06.2009, C-2/08 und C-23/08). Nach der Rechtsprechung des EuGH darf der Mitgliedsstaat die Gewährung einer Beihilfe davon abhängig machen, dass das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden zum Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wird. Diese kann sich u. a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedsstaat gesucht hat. Folglich können sich Staatsangehörige der Mitgliedsstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedstaat sind und tatsächlich Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 45 Abs. 2 AEUV) berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll (EuGH, o. g. Urteile vom 04.06.2009). Zudem hat der EuGH darauf hingewiesen, dass es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und angesichts der Auslegung, die das Recht auf Gleichbehandlung erfahren hat, nicht mehr möglich sei, eine finanzielle Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates erleichtern soll, vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots des Art. 39 EGV (jetzt Art. 45 AEUV), der eine Ausprägung des Art. 12 EGV (jetzt Art. 18 AEUV) sei, auszunehmen.
Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt des arbeitsuchenden Antragsteller glaubhaft gemacht; abschließend wird dies im sozialgerichtlichen Hauptverfahren festzustellen sein. Der Antragsteller hat im Schriftsatz vom 27.06.2012 dargelegt, dass er sich nicht nur durch persönliche Vorsprache bzw. Telefongespräche um Arbeit bemüht hat, sondern aufgrund der Mitteilung des Arbeitsamtes über offene Stellen bei den Senioren- und Pflegeheimen der Stadt Gelsenkirchen am 15.02.2012 eine Bewerbung geschickt hat. Diese hat er in Kopie dem Senat vorgelegt. Im Rahmen des Eilverfahrens reichen dem Senat diese Anhaltspunkte aus, um eine tatsächliche Verbindung des Antragstellers zum deutschen Arbeitsmarkt als glaubhaft gemacht anzusehen.
Damit steht dem Antragsteller, jedenfalls im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, grundsätzlich alle Leistungen nach dem SGB II zur Verfügung. Soweit in der Rechtsprechung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes hiervon ausgenommen werden, weil sie als Sozialhilfe /Fürsorgeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 EG – sog. Unionsbürgerrichtlinie – zu bewerten seien (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.02.2012 – L 20 AS 2347/11 B ER – mit weiteren Nachweisen zum Meinungsstand), folgt ihr der Senat (derzeit) nicht. Der EuGH trifft in seinen o.g. Urteilen vom 04.06.2006 keine Differenzierung zwischen Fürsorge- und Eingliederungsleistungen nach dem SGB II. Eine solche Differenzierung ist auch nach der Konzeption des SGB II nicht gerechtfertigt. Aus den §§ 1 ff. des SGB II ergibt sich vielmehr eine enge inhaltliche Verknüpfung von Hilfebedürftigkeit und Eingliederungsleistungen zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit. Gemäß § 7 Abs. 1 SGB II erhalten (nur) erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach dem SGB II (vgl. auch BSG, Urteil vom 13.07.2010 – B 8 SO 14/09 R). Die Gewährung von Eingliederungsleistungen setzt damit voraus, dass der Berechtigte zumindest aufstockende Leistungen nach dem SGB II erhält (Breitkreuz in Löns/Herold-Tews, Grundsicherung für Arbeitsuchende, Kommentar, 3. Aufl., § 16 Rn. 2 mit weiteren Nachweisen).
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Eilbedürftigkeit ergibt sich aus der derzeitigen finanziellen Situation des Antragstellers. Er hat keinerlei Einkünfte.
Das SG hat sich hinsichtlich des Leistungszeitraumes zutreffend an § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II orientiert. Die abschließende Klärung muss einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dem Antragsteller war unter Hinweis auf § 119 Abs. 1 S. 2 SGG Prozesskostenhilfe zu gewähren.
Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 23.07.2012
Zuletzt verändert am: 23.07.2012