Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 06.05.2013 geändert: Der Antragstellerin wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, J, beigeordnet. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Die im Jahre 1954 geborene Antragstellerin ist slowakische Staatsangehörige. In den Jahren 2005, 2007 und 2008 hielt sie sich bereits in Deutschland auf. Am 09.12.2012 reiste sie erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 03.01.2013 beim Antragsgegner, ihr Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren. Gegenüber einem Mitarbeiter der Diakonie, Wohnungslosenhilfe Beratungsstelle, gab sie in einem ersten Gespräch an, sie sei nicht primär zur Arbeitssuche nach Deutschland gekommen. Sie habe sich von ihrem Ehemann in der Slowakei getrennt, habe dort keine Bleibe mehr gehabt und sei deshalb zu ihrer Tochter gekommen, die in I wohnt. Sie suche jetzt eine Wohnung für sich. Durch Bescheid vom 08.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.03.2013 wurde dieser Antrag, durch Bescheid vom 25.03.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides 10.04.2013 der weitere Leistungsantrag vom 15.03.2013 abgelehnt. Gegen den letztgenannten Bescheid ist ein Klageverfahren beim Sozialgericht Köln anhängig. Der Antragsgegner ist der Auffassung, der Antragstellerin ständen keine Leistungen zu, da für sie der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gelte. Ihr Aufenthaltsrecht ergebe sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche, so dass sie (auch für einen längeren Zeitraum als drei Monate) von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen sei. Soweit sie angegeben habe, sie sei zu ihrer Tochter gezogen, begründe dies kein Aufenthaltsrecht, da die Voraussetzungen des § 36 Aufenthaltsgesetz nicht erfüllt seien.
Am 03.04.2013 hat die Antragstellerin um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen des SGB II zu gewähren. Gleichzeitig hat sie beantragt, ihr unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Das Sozialgericht hat diesen Antrag und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch Beschluss vom 06.05.2013 mit der Begründung abgelehnt, es fehle für die begehrte einstweilige Anordnung an einem Anordnungsanspruch. Leistungen nach dem SGB II seien nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Diese Vorschrift sei europarechtskonform, denn Artikel 24 Abs. 2 der Richtline 2004/38/EG (sog Unionsbürgerrichtlinie) erlaube den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union andere Personen als Arbeitnehmer oder Selbstständige oder Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, sowie deren Familienangehörige vom Anspruch auf Sozialhilfe auszunehmen. Artikel 24 Abs. 2 URL sei anwendbar, da Regelleistung und Kosten der Unterkunft – anders als die sog aktiven Leistungen des SGB II – wegen ihres existenzsichernden Charakters und einer sozialhilferechtlichen Konzeption der "Sozialhilfe" im Sinne der URL zuzurechnen seien.
Gegen den ihrem Bevollmächtigten am 15.05.2013 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 05.06.2013 Beschwerde eingelegt. Sie hält den Leistungsausschluss für europarechtswidrig. Sie verweist ergänzend auf Entscheidungen auch des erkennenden Senats und des Sozialgerichts Dortmund: Wenn die anstehenden schwierigen und komplexen europarechtlichen Fragen in einem Eilverfahren nicht abschließend zu beantworten seien, müsse eine Folgenabwägung vorgenommen werden, aus der eindeutig ein vorläufiger Leistungsanspruch der Antragstellerin abzuleiten sei.
Die Antragstellerin hat die Beschwerde im Eilverfahren zurückgenommen, nachdem die Beteiligten sich vergleichsweise über vorläufige Leistungen in Form der Regelleistung geeinigt haben.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen einschließlich des Vorbringens der Beteiligten wird verwiesen auf den Inhalt der Streit- und der die Antragstellerin betreffenden Verwaltungsakte des Antragsgegners.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss vom 06.05.2013 die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Eilverfahren abgelehnt.
Voraussetzung für die Gewährung von PKH ist nach § 73a Abs. 1 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO), dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, der Antragsteller die Kosten der Prozessführung, nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig erscheint und die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich ist (§ 121 Abs. 2 ZPO).
Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht, wenn das Gericht nach vorläufiger Prüfung den Standpunkt des Antragstellers auf Grund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder doch für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 73a Rn 7a). Der Erfolg braucht nicht sicher zu sein, muss aber nach den bisherigen Umständen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Ist ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte, darf der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt werden (vgl. BSG Beschluss vom 17.02.1998 – B 13 RJ 83/97 R; juris Rn. 26).
Eine Beweisantizipation ist in eng begrenztem Rahmen möglich. Kommt jedoch eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde, so kann Prozesskostenhilfe nicht verweigert werden (vgl. BVerfG Beschluss vom 14.04.2003 – 1 BvR 1998/02; juris Rn. 11 mwN; Beschluss vom 29.09.2004 – 1 BvR 1281/04; juris Rn. 14).
Der Antrag auf Gewährung vorläufiger Leistungen bot von Anfang an hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es bestand die gute Möglichkeit, dass die Antragstellerin mit einem Teil ihres Begehrens durchdringen würde. Denn zur Überzeugung des Senats waren vor einer Entscheidung im Eilverfahren von Amts wegen weitere Ermittlungen zur Glaubhaftmachung der Voraussetzungen des erhobenen Anspruchs geboten. Die sich dann ggfs anschließende Prüfung des Leistungsausschlusses, auf den sich der Antragsgegner beruft, wäre wegen der schwierigen und komplexen europarechtlichen Fragestellungen im Eilverfahren nicht abschließend zu beurteilen mit der Folge, dass im Rahmen einer Folgenabwägung die Zuerkennung vorläufiger Leistungen ernsthaft in Betracht kommt.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt somit voraus, dass ein materieller Anspruch besteht, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird (sog. Anordnungsanspruch) und dass der Erlass einer gerichtlichen Entscheidung besonders eilbedürftig ist (sog. Anordnungsgrund). Eilbedürftigkeit besteht, wenn dem Betroffenen ohne die Eilentscheidung eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl BVerfG Beschl v 12.05.2005 – 1 BvR 569/05; juris Rn 23 – Breith 2005, 803; Beschl v 16.05.1995 – 1 BvR 1087/9; juris Rn 28 – BVerfGE 93, 1). Der gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) von den Gerichten zu gewährende effektive Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (BVerfG Beschl v 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91; juris Rn 28 – BVerfGE 93, 1).
Der geltend gemachte (Anordnungs-)Anspruch und die Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO)). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG Beschl v 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B – SozR 3-3900 § 15 Nr. 4).
Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG Beschl v 12.05.2005 – 1 BvR 569/05; juris Rn 23 – Breith 2005, 803). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss das Gericht anhand einer Folgenabwägung entscheiden, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend einstellt (BVerfG a.a.O. Rn 26; vgl. auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. § 86b Rn 29, 29a).
Nach Maßgabe dieser Kriterien bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II in Form der Regelleistung zuerkannt würden.
Für die vom Antrag umfassten Kosten der Unterkunft fehlt es nach dem Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Entscheidungsreife über das PKH-Gesuch bereits am Anordnungsanspruch. Ob derartige übernahmefähige Kosten überhaupt entstanden sind, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Die Kosten sind nicht beziffert worden; ob die Antragstellerin bereits eine Wohnung angemietet hat, ist nicht bekannt. Einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts in diesem Punkte bedurfte es aber deshalb nicht, weil nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats für diese (laufenden) Kosten jedenfalls kein Anordnungsgrund gegeben war. Eine Eilbedürftigkeit im oben dargelegten Sinn ist nämlich regelmäßig erst dann zu bejahen, wenn konkret Wohnungslosigkeit im Stadium der Räumungsklage droht (s. etwa LSG NRW Beschl vom 11.01.2011 – L 6 AS 2084/10 B ER; vgl auch LSG NRW Beschl v 27.11.2008 – L 9 B 183/08 AS ER; juris Rn 11 m.w.N.). Das Auflaufen von Mietschulden, Kündigung und Androhung der Räumungsklage begründet diese Annahme nicht.
Die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs bezogen auf die Regelleistung dürften zwar ebenfalls nicht glaubhaft gemacht worden sein, denn es fehlen aussagekräftige Angaben der Antragstellerin zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen, die eine zuverlässige Beurteilung der Hilfebedürftigkeit (§§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3; 9 SGB II) gemessen an den geringeren Anforderungen der Glaubhaftmachung, d.h. im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit zulassen. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner, der den Ablehnungsbescheid auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gestützt hat, aus seiner Sicht zutreffend keine weiteren Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit angestellt, insbesondere auch die Antragstellerin nicht aufgefordert hat, ihr Vorbringen zu bestimmten Punkten zu ergänzen. Vor diesem Hintergrund ist es ausnahmsweise in einem Eilverfahren wohl gerechtfertigt und erforderlich, vor einer instanzbeendenden Entscheidung eine weitere Aufklärung des Sachverhalts zu betreiben (s zu Ermittlungsumfang und -tiefe im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes Beschluss des erkennenden Senats vom 16.05.2013 – L 6 AS 531/13 B ER). Für den Senat sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass diese Ermittlungen zum Nachteil der Antragstellerin ausgehen würden.
Nicht zuverlässig zu beurteilen ist, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, auf den sich der Antragsgegner beruft, greift. Nach Auffassung des Senats spricht viel dafür, dass der Ausschluss nicht europarechtskonform ist und sich ein (inhaltsgleicher) Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Form des Regelbedarfes unmittelbar aus Art. 4 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1 der Verordnung (VO) (EG) 883/2004 des Europäischen Parlamentes und Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit ergibt.
Art. 4 VO (EG) 883/2004 regelt, dass Personen, für die die VO gilt und sofern in dieser VO nichts anderes bestimmt ist, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates haben wie die Staatsangehörigen dieses Staates.
Diese Bestimmung ist seit dem 01.05.2010 als unmittelbar geltendes Recht anwendbar. Die VO (EG) 883/2004 hat die VO (EWG) 1408/71 abgelöst und ist seit diesem Zeitpunkt in Kraft (s Art. 91 VO (EG) 883/2004 in Verbindung mit der DurchführungsVO (EG) 987/2009). Sie erzeugt unmittelbare Rechtswirkungen in allen Mitgliedsstaaten, ohne dass es einer Umsetzung in nationales Recht bedarf; die Regelungen können in diesen Wirkungen auch nicht durch nationale Gesetze oder Maßnahmen eingeschränkt werden (s Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV); BVerfG Beschl v 06.04.2010 – 2 BvR 2261/06 Rn 53; s auch schon EuGH Urt v 15.07.1964 – RS 6/64 – Costa./. E.N.E.L.).
Die Antragstellerin unterfällt dem persönlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004. Nach deren Art. 2 Abs. 1 gilt die Verordnung für Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates und ihre Familienangehörigen, für die die Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates gelten oder galten (vgl hierzu Frings ZAR 2012, 317 auch zu der ggfs missverständlich formulierten Begrenzung auf versicherte Personen; s etwa Fuchs SGb 2008, 201; Schreiber NZS 2012, 647). Die Voraussetzungen erscheinen erfüllt, da die Antragstellerin in der Bundesrepublik Deutschland bereits Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung war bzw wieder ist (s auch Kingreen SGb 2013, 132).
Die hier in Rede stehenden Leistungen nach dem SGB II werden gemäß Art 3 Abs. 3 iVm Art 70 Abs. 1, Abs. 2 VO (EG) 883/2004 iVm dem Anhang X – Deutschland – lit. B) ausdrücklich als besondere beitragsunabhängige Leistungen vom sachlichen Anwendungsbereich der VO erfasst. Es handelt sich insbesondere auch um Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Art. 1 Buchstabe l) VO (EG) 883/2004 definiert diesen Begriff zwar als "Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit". Damit ist aber keine für die Einbeziehung des SGB II maßgebliche Beschränkung verbunden (s hierzu auch Frings aaO), denn die Zuordnung nach Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 erfolgt zuallererst thematisch nach dem Inhalt der Leistung, nicht nach der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit (s. Art. 3 Abs. 1 (Buchstabe h: "Leistungen bei Arbeitslosigkeit"), Abs. 3 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 1, Abs. 2 VO (EG) 883/2004 und Anhang X; VO (EG) 988/2009). Die Frage der Beitrags(un)abhängigkeit ist, wie auch Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 zeigt, dann keine Frage des sachlichen Anwendungsbereichs (mehr), sondern – die Anwendbarkeit vorausgesetzt – nur der Anknüpfungspunkt für die Frage, ob die Leistung auch in einen anderen Mitgliedstaat exportiert werden kann (s Art. 7 VO (EG) 883/2004; s auch SG Berlin Urt v 08.05.2012 – S 91 AS 8804/12 -).
Die Voraussetzungen des Art. 4 sind erfüllt. Bei dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II handelt es sich um eine offene, unmittelbare Diskriminierung, denn das maßgebende Unterscheidungskriterium ist die Staatsangehörigkeit. Eine derartige unterschiedliche Behandlung ist aber nur zulässig, wenn die VO sie ausdrücklich zulässt (s dazu auch Dern in Schreiber/Wunder/Dern VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 4 VO Rn 5). In der VO (EG) 883/2004 findet sich keine entsprechende Regelung.
Andere Ausnahmen für eine unmittelbare Diskriminierung im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 sind nicht vorgesehen. Deshalb vermag auch die Unterscheidung zwischen vollumfänglich freizügigkeitsberechtigten (Alt-)Unionsbürgern einerseits und den nur eingeschränkt freizügigkeitsberechtigte (Neu-)Unionsbürgern, die nicht den gleichen Zugang zum inländischen Arbeitsmarkt wie deutsche Arbeitsuchende oder uneingeschränkt freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger haben, den Leistungsausschluss für slowakische Staatsangehörige als (Neu-)Unionsbürger nicht zu rechtfertigen. Nur für eine mittelbare Ungleichbehandlung dürfte überhaupt die Prüfung einer Rechtfertigung durch objektive, von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängige Erwägungen in Betracht kommen, sofern diese in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stehen, der mit nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird (vgl Dern aa0 Rn5, 8).
Stehen der Antragstellerin danach aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 grundsätzlich die Leistungen nach dem SGB II wie deutschen Staatsangehörigen zu, wird dieser aus dem Gleichbehandlungsgebot erwachsene Anspruch seinerseits nicht durch Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38/EG (sog Unionsbürgerrichtlinie) eingeschränkt. Die vom Sozialgericht vorgenommene Auslegung zum Anwendbarkeit des Art. 24 Abs. 2 2. Alt URL, wonach ein Teil der Leistungen des SGB II der Sozialhilfe iSd der URL zuzurechnen sei, erscheint im Ansatz nachvollziehbar, bedarf aber – jedenfalls seit dem 29.04.2010/01.05.2010 – deshalb einer weitergehenden Begründung, weil URL und VO (EG) 883/2004 vom selben Tag (29.04.2010) datieren, dabei aber nur ein Regelungswerk, die VO (EG) 883/2004 das SGB II ausdrücklich einbezieht, das andere, die URL, hingegen nicht. Ein mögliches Konkurrenzverhältnis zwischen URL un VO (EG) 883/2004 lässt nicht nach formellen Kriterien lösen, da im Recht der EU kein Vorrang zwischen VO und Richtlinie festgelegt ist. Nach inhaltlichen Kriterien mag ein Rangverhältnis zwischen den beiden Rechtsquellen nicht ausgeschlossen sein (ein solches bejahend SG Duisburg Beschl v 24.09.2012 – S 3 AS 3413/12 ER -; aA Frings aaO). Wenn man dann im Sinne einer Rangordnung das europäische Sozialrecht als "freizügigkeitsspezifisches Sozialrecht" (Fuchs Europäisches Sozialrecht (2010) 29)) interpretiert, das dazu bestimmt ist, der Grundfreiheit "Freizügigkeit" zu dienen (so SG Duisburg aaO), betreffen die Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgebot in Art. 24 Abs. 2 2. Alt in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b) der Richtlinie 2004/38/EG – soweit hier von Bedeutung – aber nicht den grundsätzlichen Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004. Gegen die Einschränkung des Art. 4 VO (EG) 883/2004 durch die Unionsbürgerrichtlinie ggfs als lex specialis spricht wiederum der Umstand, dass Richtlinie und VO (EG) das selbe Datum (29.04.2004) tragen. Bei unterschiedlichen Regelungsinhalten hätte man eine ausdrückliche Bestimmung oder systematische Verknüpfung erwarten dürfen, wenn eine solche Einschränkung tatsächlich gewollt war. Im Übrigen lässt Art 4 VO (EG) 883/2004 Ausnahmen ausdrücklich nur durch die VO selbst zu, nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG hingegen sollen sie vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen erfolgen.
Aufgrund der Vielzahl der aufgezeigten, in Literatur und Rechtsprechung kontrovers diskutierten schwierigen und komplexen Rechtsfragen, kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine zuverlässige Beurteilung nicht möglich ist, und schon deshalb die Bewilligung von Prozesskostenhilfe geboten ist. Ergibt die weitere Aufklärung des Sachverhalts, dass die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs bezogen auch auf die Hilfebedürftigkeit glaubhaft sind, spricht für die danach entscheidende Folgenabwägung (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -) viel dafür, dass der Antragstellerin die Regelleistung vorläufig zuzusprechen ist. Ohne diese drohen ihr existentielle Nachteile, die sie aus eigener Kraft nicht abwenden kann. Demgegenüber hat der Antragsgegner "nur" finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren mit ihrem Begehren nicht durchdringen sollte. In diesem Fall erscheint es allerdings nicht ausgeschlossen, dass der Antragsgegner seinen Rückforderungsanspruch nicht wird realisieren können und die Zuerkennung der Leistungen deshalb im Ergebnis einen Zustand schafft, der in seinen (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Vorwegnahme in der Hauptsache gleichkommt. Diesem Umstand kann aber in begrenztem Umfang bei der Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung Rechnung getragen werden, indem die Ansprüche inhaltlich und zeitlich begrenzt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 73 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 02.10.2013
Zuletzt verändert am: 02.10.2013