Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 04.09.2015 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vom 21.07.2015 bis zum 31.12.2015 auch Leistungen für Unterkunft und Heizung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen. Die Beschwerde des Antragsgegners wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt L, M, beigeordnet.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Antragsgegners im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu zahlen.
Der 1965 geborene Antragsteller und seine nach Roma-Sitte mit ihm verheiratete Lebensgefährtin J C sind die Eltern der 2008 geborenen Tochter J. Sie sind rumänische Staatsangehörige und halten sich seit Februar 2012 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Vom 12.03.2014 bis zum 31.12.2014 übte die Lebensgefährtin des Antragstellers eine geringfügige Beschäftigung aus. Vom 22.06.2015 bis zum 04.07.2015 arbeitete sie als Qualitätskontrolleurin mit einem Stundenlohn von 9,39 EUR. Der Antragsteller arbeitete von April 2014 bis Mai 2014 bei der Firma B Industries und von August 2014 bis Oktober 2014 als Kurierfahrer bei der Fa. J Dienstleistungen. Im Anschluss daran erfolgten keine Beschäftigungen.
Bis zum 30.04.2015 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller, der Lebensgefährtin und der Tochter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Bis zum 30.06.2015 bewilligte der Antragsgegner der Tochter und der Lebensgefährtin Leistungen nach dem SGB II als Vorschuss.
Den Weiterbewilligungsantrag vom 18.06.2015 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 24.06.2015 für den Zeitraum ab dem 01.07.2015 ab. Hiergegen legten die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft am 21.07.2015 Widerspruch ein. Am gleichen Tag haben sie beim Sozialgericht Dortmund die einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Zahlung von Leistungen nach dem SGB II beantragt.
Mit Bescheid vom 22.07.2015 hat der Antragsgegner der Lebensgefährtin und der Tochter des Antragsstellers Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.07.2015 bis zum 31.12.2015 bewilligt. Dem lag die Arbeitstätigkeit der Lebensgefährtin vom 22.06.2015 bis zum 04.07.2015 zugrunde.
Mit Beschluss vom 04.09.2015 hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe des Regelbedarfs vom 21.07.2015 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31.12.2015, ohne Leistungen für die Unterkunft und Heizung zu zahlen.
Der Antragsgegner hat am 06.10.2015 gegen den am 10.09.2015 zugestellten Beschluss Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, es sei kein anderes Aufenthaltsrecht für den Antragsteller außer dem zur Arbeitsuche ersichtlich, so dass der Antragsteller gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Dem Antragsteller stehe auch kein aus Art. 10 EUV 492/2011 hergeleitetes Aufenthaltsrecht zu. Die elterliche Sorge werde vorwiegend von der Kindsmutter und nicht dem Antragsteller ausgeübt.
Der Antragsteller hat am 27.01.2016 Anschlussbeschwerde erhoben mit der er auch die Kosten der Unterkunft begehrt. In Erwiderung zur Beschwerde des Antragsgegners trägt er vor, ihm stehe ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht als sorgeberechtigtes Elternteil zu. Seine Tochter befinde sich seit dem 01.08.2014 in einer deutschen Schule. Der Antragsteller hat an Eides statt versichert, dass die elterliche Sorge von beiden Eltern ausgeübt werde, sobald ein Elternteil einer beruflichen Verpflichtung nachgehe, nehme der andere Elternteil die elterliche Sorge wahr.
Der Beigeladene führt aus, dem Antragsteller stehe ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aufgrund der Betreuung der Tochter zu. Ein Ausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II greife nicht.
II.
Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet. Die Anschlussbeschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Die Zulässigkeit der unselbständigen Anschlussbeschwerde des Antragstellers ergibt sich aus §§ 202 SGG i.V.m. 567 Abs. 3 ZPO. Für diesen Fall bedarf es des Erreichens der Beschwerdesumme (§ 172 Abs. 3 Nr. 2 b SGG) nicht.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Grundvoraussetzungen für einen Leistungsanspruch gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II – insbesondere die Hilfebedürftigkeit auch unter Berücksichtigung des Kindergeldes – hat das Sozialgericht zutreffend als glaubhaft gemacht angesehen.
Der Senat kann offen lassen, ob der Antragsteller gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen war, weil er als rumänischer Staatsangehöriger Ausländer ist, dessen Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Denn der Antragsgegner als Träger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (§§ 6, 44 b Abs. 1 SGB II) ist nach § 43 SGB I zur Erbringung vorläufiger Leistungen verpflichtet (ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschluss vom 16.12.2015 – L 7 AS 1466/15 B ER).
Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann gem. § 43 SGB I der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßen Ermessen bestimmt. Er hat gem. § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I Leistungen zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt.
Der Antragsteller hat dem Grunde nach einen Anspruch auf existenzsichernde Sozialleistungen. Er ist mangels ausreichenden eigenen Einkommens und Vermögens hilfebedürftig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern erfüllt er sowohl die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und 4 SGB II als auch die Voraussetzungen des §§ 19 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Er bewegt sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II; für Leistungen nach dem SGB XII sind Altersgrenzen nicht vorgegeben (lediglich die Leistungsart ist gem. § 19 Abs. 2 SGB XII altersabhängig). Der Umstand, dass der Antragsteller möglicherweise sowohl nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als auch nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII als Person, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus der Arbeitsuche ergibt (bzw. deren Familienangehörige), von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen ist, steht der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge einem Anspruch nicht entgegen. Das BSG hat mit Urteilen vom 03.12.2015 (ua B 4 AS 44/15 R – juris) sowie vom 16.12.2015 (B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R – Terminbericht Nr. 61/15) entschieden, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitsuche nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn – wie bei dem Antragsteller – ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt. Das in der Norm vorgesehene Ermessen ist aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminium in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt zu leisten ist.
Es liegt zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen ein negativer Kompetenzkonflikt iSd § 43 SGB I vor, der erst im Hauptsacheverfahren zu klären ist. Es spricht allerdings viel dafür, dass der Antragsteller nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sich sein Aufenthaltsrecht nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Ihm könnte nämlich ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 Verordnung (EG) 492/2011 zustehen. Danach steht den Kindern eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig ist oder gewesen ist, und dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ein Recht auf Aufenthalt in diesem Staat zu, ohne dass dieses Recht davon abhängig ist, dass er über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Staat verfügt. Das Kind muss seinen gewöhnlichen Aufenthalt schon in Deutschland gehabt haben, als mindestens ein Elternteil in Deutschland abhängig beschäftigt gewesen ist (EuGH, Urteil vom 23.02.2010 – C-480/08). Sind die Eltern miteinander verheiratet, haben sie das Recht, für ihre Kinder gemeinsam zu sorgen (§ 1626 Abs. 1 Satz 1 BGB). Sind die Eltern bei der Geburt nicht miteinander verheiratet, wie es hier de facto durch die Eheschließung lediglich nach "Roma-Sitte" der Fall ist, steht ihnen die elterliche Sorge jedenfalls dann gemeinsam zu, wenn a) die Mutter und der rechtliche Vater eine förmliche "Willenserklärung zur gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge" abgeben (Sorgeerklärung), b) die Eltern einander heiraten oder c) das Familiengericht den Eltern gemeinsam die elterliche Sorge überträgt. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die gemeinsam ausgeübte elterliche Sorge in der Regel dem Wohl des Kindes nicht widerspricht (§ 1626a Abs. 2 Satz 2 BGB). Die Mutter und der Vater haben das Recht, durch Elternvereinbarung ihren Willen hinsichtlich der elterlichen Sorge zu dokumentieren (BVerfG, Beschluss vom 21.07.2010 – 1 BvR 420/09). Dies ist mit der eidesstaatlichen Erklärung des Antragstellers und seiner Lebensgefährtin geschehen. Ob eine darüber hinaus gehende förmliche Erklärung abgegeben worden ist oder noch abzugeben ist (vergl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 30.01.2014 – 7 UF 54/14), ist im Hauptsacheverfahren zu klären.
Die Frage, ob der Antragsteller dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterfällt, ist seit den o.a. Entscheidungen des BSG aus Dezember 2015 nur noch maßgeblich für die Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers. Unterliegt der Antragsteller dem Leistungsausschluss nicht, weil er über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügt (hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 – B 4 AS 54/12 R), ist der Antragsgegner für die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zuständig. Unterliegt der Antragsteller hingegen dem Leistungsausschluss, ist der Träger der Sozialhilfe bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen für die Erbringung von Hilfe zum Lebensunterhalt zuständig.
Der Umstand, dass der Antragsteller bislang nur bei dem Antragsgegner existenzsichernde Leistungen geltend gemacht und die Beigeladene kein Verwaltungsverfahren eröffnet hat, steht der Anwendung von § 43 SGB I nicht entgegen. Ausreichend ist, dass ein Leistungsträger den Anspruch aus einem Grund ablehnt, der zur Zuständigkeit eines anderen Sozialleistungsträgers führt, wenn alle übrigen Voraussetzungen für den Leistungsanspruch bestehen (Lilge, SGB I, § 43 Rn. 26). Es ist nicht erforderlich, dass der zuerst angegangene Träger ausdrücklich auf die Einstandspflicht eines anderen Trägers verweist (Lilge, SGB I, § 43 SGB I Rn. 25). Der Antragsgegner ist demnach zuerst angegangener Leistungsträger iSd § 43 SGB I.
Unbeachtlich ist auch, dass der Antragsgegner seine Leistungspflicht aufgrund der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits mit Bescheid abgelehnt hat. Eine bereits ergangene Ablehnungsentscheidung steht einer Vorleistungspflicht nach § 43 SGB I jedenfalls solange die Ablehnungsentscheidung (wie hier) noch nicht bestandskräftig geworden ist, nicht entgegen. Vorläufigen Entscheidungen nach dem Sozialgesetzbuch kommt allein die Funktion zu, eine (Zwischen-)Regelung bis zur endgültigen Klärung der Sach- und Rechtslage zu treffen. Vorläufig bewilligte Leistungen sind daher als aliud gegenüber endgültigen Leistungen anzusehen, deren Bewilligung keine Bindungswirkung für die endgültige Leistung entfaltet (BSG, Urteil vom 29.04.2015 – B 14 AS 31/14 R mwN) und die daher unabhängig von der Ablehnung endgültig zustehender Leistungen erbracht werden können.
In dem Leistungsantrag ist im Zweifel auch ein Antrag iSd § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I zu sehen, vorläufige Leistungen zu erbringen. Ein Antrag ist jede gegenüber dem erstangegangenen Leistungsträger abgegebene Willenserklärung, aus der – erforderlichenfalls durch Auslegung – zu entnehmen ist, dass der Berechtigte zumindest vorläufige Leistungen wünscht (Lilge, SGB I, § 43 Rn. 40).
Die Rechte des Antragsgegners sind gewahrt, weil er für den Fall, dass die Antragsteller von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sind, einen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X gegen den Beigeladenen als Träger der Sozialhilfe geltend machen kann. Der aus der Anwendung von § 43 SGB I folgende Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X erfordert die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der vorläufig erbrachten Leistungen (allg. Meinung, vergl. nur LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.04.2013 – L 20 SO 453/11 mwN), die gegeben ist, weil es sich bei der Frage, ob der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreift, als Folge der Rechtsprechung des BSG aus Dezember 2015 nicht um den Streit um eine materielle Anspruchsvoraussetzung, sondern um die Eröffnung eines Kompetenzkonfliktes handelt. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den Antragsgegner geltenden Rechtsvorschriften (§ 102 Abs. 2 SGB X).
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund iSd § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG glaubhaft gemacht. Er hat glaubhaft gemacht, nicht über Mittel zu verfügen, die zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreichen.
Auch hinsichtlich der Kosten der Unterkunft und Heizung liegt ein Anordnungsgrund vor (ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschluss vom 04.05.2015 – L 7 AS 139/15 B ER), weshalb der Anschlussbeschwerde stattzugeben ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 21.04.2016
Zuletzt verändert am: 21.04.2016