Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 26. Januar 2004 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
I.
Der 1944 geborene Kläger begehrt einen höheren Grad der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen -.
Mit Bescheid vom 18.04.1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.1989 hatte der Beklagte bei ihm wegen der Gesundheitsstörungen "Halswirbelsäulenveränderungen mit Bewegungsstörungen der Gliedmaßen" einen GdB von 40 festgestellt. Wenn lag im Wesentlichen eine cervikale Myelopathie mit Tetraspastik und Serratusparese zugrunde, die zu einer Fusionsoperation der Halswirbelkörper 5 bis 6 führte. Die auf einen höheren GdB gerichtete Klage (Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen S 3 (15) Vs 84/89) nahm der Kläger zurück, nachdem der ihn behandelnde Arzt für Orthopädie Dr. L die Beurteilung des Beklagten bestätigt hatte.
Am 18.07.2002 beantragte der Kläger u.a. die Feststellung eines höheren GdB. Seinem Antrag fügte er Behandlungs- und Untersuchungsberichte wegen seit ca. 1999 bestehender Lendenwirbelsäulenbeschwerden des Prof. Dr. H sowie des Priv. Doz. Dr. C und einen Reha-Entlassungsbericht von Januar 1999 bei. Der Beklagte holte Befundberichte von dem HNO-Arztes Dr. M, der Internistin S und dem Orthopäden Dr. X ein. In ihrer gutachtlichen Stellungnahme vom 03.09.2002 bewertete die Ärztin für Innere Medizin Dr. N den bei dem Kläger vorliegenden Gesamt-GdB mit weiterhin 40. Sie ging dabei von den Gesundheitsstörungen aus: 1. Halswirbelsäulenveränderung mit Bewegungsstörung der Gliedmaßen (Einzel-GdB 40)
2. Kniegelenkserkrankung rechts (Einzel-GdB 10) 3. Ohrgeräusche (Einzel-GdB 10).
Der Beklagte lehnte den Antrag des Klägers daraufhin mit auf § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gestütztem Bescheid vom 13.09.2002 mit der Begründung ab, dass seit 1988 zwar Ohrgeräusche und eine Kniegelenkserkrankung aufgetreten seien, die Gesamtbeeinträchtigung des Klägers aber dennoch zu keinem höheren GdB führe.
Mit seinem Widerspruch machte der Kläger die Feststellung eines GdB von mindestens 50 ab Januar 1996, hilfsweise ab November 2000, geltend. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.02.2003 zurück.
Mit seiner Klage vom 04.03.2003 hat der Kläger zunächst die Feststellung eines GdB von mindestens 50 seit Januar 1996 mit der Begründung begehrt, spätestens zu diesem Zeitpunkt sei eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten. Er hat die Klage nachfolgend auf die Feststellung eines GdB von 50 ab dem 01.11.2000 beschränkt und dazu angegeben: Er habe deshalb ein besonderes Interesse im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz – SchwbAwV – an der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ab diesem Zeitpunkt, weil er dann mit Vollendung des 60. Lebensjahres Altersrente ohne Abzüge in Anspruch nehmen könne. Bereits im Mai 2000 werde von Prof. Dr. H über einen massiven Befund von Seiten der Lendenwirbelsäule berichtet. Im Übrigen sei für die Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Extremitäten von einem GdB von 20 und damit von einem Gesamt-GdB von 50 auszugehen.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 13.09.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.02.2003 zu verurteilen, bei ihm ab dem 01.11.2000 einen GdB von 50 festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das SG Gelsenkirchen hat zunächst Befundberichte von der Internistin S, dem Neurologen Dr. Q, dem Orthopäden Dr. X und dem HNO-Arzt Dr. M und sodann ein Gutachten von Dr. G, Oberarzt der Orthopädischen Klinik des St. G-Hospitals in N, eingeholt.
Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 28.09.2003 ausgeführt, dass sich die zervikale Myelopathie mit Tetraspastik weitgehend zurückgebildet habe; verblieben sei eine Gefühlsverminderung des 3. bis 5. Fingers beidseits, eine leichte Streckschwäche im linken Handgelenk und eine Abschwächung des Bicepssehenreflexes. Nunmehr bestünden eine mittelgradige Funktionsstörung der Hals- und Lendenwirbelsäule mit einem GdB von 40 sowie eine leichtgradige Funktionsbeeinträchtigung des linken Hüftgelenkes und beider Kniegelenke mit einem GdB von 10. Unter Berücksichtigung von Ohrgeräuschen ohne wesentliche Minderung des Hörvermögens (GdB 10) betrage der Gesamt-GdB 40. Durch die hinzugetretenen Funktionsbeeinträchtigungen an Knie- und Hüftgelenk erfahre der Gesamt-GdB keine Änderung. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 08.12.2003 hat der Sachverständige die Einschätzung der Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Extremitäten mit einem GdB von insgesamt 10 nochmals bestätigt und ausgeführt, selbst bei einer Erhöhung auf einen Einzel-GdB von 20 ergäbe sich keine Anhebung des Gesamt-GdB auf über 40.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 26.01.2004 abgewiesen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt: Seit den Feststellungen im Bescheid vom 18.04.1988 habe sich der Gesundheitszustand des Klägers nicht wesentlich im Sinne des § 48 SGB X verschlimmert. Erst recht liege kein "offenkundiger Fall" einer Verschlimmerung vor Antragstellung im Juli 2002 mit der Folge einer Rückwirkung auf November 2000 vor. Die Rückwirkung eines Antrages im Sinne des § 6 Abs. 1 S. 2 SchwbAwV sei auf offenkundige Fälle beschränkt, in denen auch bei Anwendung des § 44 Abs. 2 SGB X das pflichtgemäße Ermessen eine rückwirkende Aufhebung gebieten würde. Für die mittelgradigen Funktionsstörungen der Hals- und der Lendenwirbelsäule sei der von dem Sachverständigen vorgeschlagene GdB von 40 angemessen. Für die Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Extremitäten sei ein GdB von 10 zutreffend; die funktionellen Einschränkungen der Kniegelenke seien so gering, dass sie für sich keinen GdB erreichten; bei der Bewegungsprüfung der Hüftgelenke habe nur eine deutliche Einschränkung und endgradige Schmerzhaftigkeit bei der Rotation des linken Hüftgelenkes bestanden. Unter Berücksichtigung der Ohrgeräusche ohne wesentliche Minderung des Hörvermögens und ohne nennenswerte psychische Begleiterscheinungen mit einem GdB von 10 verbleibe es bei einem Gesamt-GdB von 40. Etwas anderes ergebe sich auch nicht, wenn hinsichtlich der unteren Extremitäten ein GdB von 20 in Ansatz gebracht würde; auch dies führe nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung.
Seine am 09.03.2004 eingelegte Berufung hat der Kläger nicht begründet.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 26.01.2004 abzuändern und nach seinem erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.
Der Senat hat die Beteiligten auf seine Absicht hingewiesen, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zurückzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
II.
Der Senat kann über die Berufung des Klägers nach § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss entscheiden, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung entbehrlich ist. Der Senat hat die Beteiligten hierzu mit Schreiben vom 16.04.2004 angehört; die Beteiligten haben keinen Einwand erhoben.
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen; denn der Kläger ist durch die angefochten Bescheide des Beklagten vom 13.09.2002 und 11.02.2003 nicht beschwert. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.
Zur Begründung und Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die im Wesentlichen zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG) Bezug und führt ergänzend aus:
In den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers sind seit Januar 1989 (Bescheid vom 18.04.1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.1989) zwar Änderungen eingetreten; im Ergebnis verbleibt es aber bei einem Gesamt-GdB von 40. Bei dem Kläger sind zwar zwischenzeitlich Schäden an der Lendenwirbelsäule, den unteren Extremitäten und im Funktionssystem Ohren hinzugetreten. Gleichzeitig hat aber die mit "Halswirbelsäulenveränderungen mit Bewegungsstörungen der Gliedmaßen" bezeichnete Gesundheitsstörung eine deutliche Besserung erfahren; denn die zervikale Myelopathie mit Tetraspastik hat sich nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. G weitgehend zurückgebildet.
Es liegt nunmehr ein Wirbelsäulenschaden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor, der nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), Nr. 26.18, S. 140, einen GdB von 30 bedingt. Die AHP geben zwar einen Bewertungsrahmen von 30 bis 40 vor, die Vorgaben unterscheiden insoweit aber nicht ausdrücklich zwischen mittelgradigen und schweren funktionellen Auswirkungen des Wirbelsäulenschadens. Bei der deshalb in der Einzelfallbewertung erforderlichen Ausfüllung des Beurteilungsrahmen ist es sachgerecht, zwischen mittelgradigen bzw. schweren Veränderungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten insoweit zu unterscheiden, dass diese auch mit unterschiedlichen Werten, nämlich mit 30 bzw. 40, belegt werden (s. dazu auch Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 15. bis 16.04.1997, Punkt 1.8, GdB/MdE-Bewertung bei Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren Veränderungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten). Dennoch besteht für den Senat kein Anlass von der Bewertung des Sachverständigen, insoweit sei ein GdB von 40 angemessen, abzuweichen. Die Einschätzung des Dr. G hält sich in den Grenzen des ihm zuzubilligenden Beurteilungsrahmens, zumal er in seine Bewertung Residuen der Myelopathie (Bewegungs- und Gefühlsstörungen der Arme) hat einfließen lassen.
Gleichermaßen ist auch der Beurteilung des Sachverständigen hinsichtlich des Funktionssystems Beine zu folgen. Der Kläger weist zunächst grundsätzlich zu Recht daraufhin, dass die AHP bei Knie- und Hüftgelenken zwischen ein- und beidseitiger Beeinträchtigung unterscheiden und beidseitigen Beeinträchtigungen eine besondere Wertigkeit zukommen lassen, auch wenn diese – entgegen der Auffassung des Klägers – nicht in einer regelmäßigen Verdopplung des GdB für eine einseitige Beeinträchtigung besteht (s. z.B. Bewegungseinschränkung der Hüft- oder Kniegelenke stärkeren Grades einseitig GdB 30, beidseitig GdB 50). Indes übersieht der Kläger, dass – worauf auch das SG hingewiesen hat – weder im Bereich der Knie- noch der Hüftegelenke jeweils beidseitig Einschränkungen zumindest geringen Grades bestehen. Die Bewegungsprüfung der Kniegelenke ergab bei der Streckung und Beugung Werte von 0-0-120°. Nach den AHP Nr. 26.18, S. 151, liegt eine Einschränkung geringen Grades jedoch erst vor, wenn die Streckung/Beugung auf 0-0-90° eingeschränkt ist. Reizerscheinungen oder Instabilitäten konnten ebenfalls nicht festgestellt werden. Ähnliches gilt hinsichtlich der Hüftgelenke, die mit Bewegungsmaßen beim Beugen/Strecken von 90-0-0° bzw. 90-5-0° zumindest bei der Einschränkung der Streckung nicht die Vorgaben für eine Bewegungseinschränkung geringen Grades von 0-10-90° (AHP Nr. 26.18, S. 150) erfüllen. Auf dieser Grundlage besteht dann auch kein Anhaltspunkt dafür, von der Beurteilung des Dr. G, insgesamt sei für die Beeinträchtigung des Funktionssystems Beine ein GdB von 10 angemessen, abzuweichen. Dies gilt umso mehr, als auch der "rechnerische" Ansatz eines GdB von 20 – wie Dr. G überzeugend ausgeführt hat – zu keinem anderen Gesamtergebnis führen würde. Bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es nämlich vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (AHP Nr. 19 Abs. 4 AHP). Davon könnte vorliegend ggf. abgewichen werden, wenn die Funktionsstörungen der Hüft- und Kniegelenke untereinander oder im Verhältnis zu dem Wirbelsäulenschaden zumindest in gewissem Umfang negative Wechselwirkungen hätten. Dies wird von Dr. G aber gerade ausdrücklich ausgeschlossen.
Da zu keinem Zeitpunkt ein höherer GdB als 40 festzustellen ist, kommt es im Übrigen nicht darauf an, ob eine rückwirkende Feststellung im Sinne des § 6 Abs. 1 S. 2 SchwbAwV nur bei offenkundigen Fällen zulässig ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen (§ 160 Abs. 1 und 2 SGG).
Erstellt am: 27.05.2004
Zuletzt verändert am: 27.05.2004