Der Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 29.11.2007 wird geändert. Es wird festgestellt, dass die am 01.10.2007 erhobene Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 21.04.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.08.2007 aufschiebende Wirkung hat. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für beide Rechtszüge.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragstellerin, der das Sozialgericht (SG) mit Beschluss vom 02.01.2008 nicht abgeholfen hat, ist zulässig und begründet.
1. Das SG hat es zu Unrecht abgelehnt, der Antragstellerin vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 86 b Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu gewähren.
Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht in der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Sofern zwischen den Beteiligten streitig ist, ob ein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, kann das Gericht auf Antrag durch Beschluss aussprechen, dass die Rechtsbehelfe aufschiebende Wirkung haben (deklaratorischer Beschluss; vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86 b RdNr. 15 mN zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)).
a) Das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin ist als solcher Antrag zu qualifizieren. Denn mit Bescheid vom 21.04.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbbescheides vom 31.08.2007 hob die Antragsgegnerin ihre bisherige Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 01.10.2005 bis zum 31.03.2006 – und damit für die Vergangenheit – in der dort genannten Höhe auf. Die Beteiligten streiten darüber, ob die hiergegen erhobene Anfechtungsklage der Antragstellerin vor dem SG Köln (S 28 AS 213/07) aufschiebende Wirkung hat.
b) Die Anfechtungsklage der Antragsstellerin gegen den Rücknahme- und Erstattungsbescheid der Antragsgegnerin vom 21.04.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.08.2007 hat aufschiebende Wirkung. Dies hat der Senat durch (deklaratorischen) Beschluss festgestellt.
Gemäß § 86a Abs. 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG (die Tatbestände der anderen Nummern der § 86a Abs. 2 SGG liegen ersichtlich nicht vor) entfällt die aufschiebende Wirkung in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Gemäß § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung.
Ein Verwaltungsakt, der die Bewilligung von Leistungen ausschließlich für einen (zum maßgeblichen Zeitpunkt seines Erlasses) vergangenen Zeitraum ganz oder teilweise aufhebt und die Erstattung entsprechender Leistungen anordnet, ist nach der Rechtsauffassung des Senats kein Verwaltungsakt, der gemäß § 39 Nr. 1 SGB II über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet. Dieses Ergebnis folgt aus dem Sinn und Zweck dieser Regelung, ferner aus systematischen Erwägungen.
aa) Der Wortlaut des § 39 Nr. 1 SGB II ist weit formuliert. Er erfasst jeden Verwaltungsakt, der "über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet". Dies schließt es somit nicht aus, auch Aufhebungs- und Erstattungsbescheide in den Anwendungsbereich des § 39 Nr. 1 SGB II einzubeziehen. Zwar mag die Entscheidung über einen Rückforderungsanspruch eine der Leistungsbewilligung nachgehende selbständige Folgeentscheidung nach dem Zehnten Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sein (so OVG Bremen, Beschluss vom 14.05.2007, S 2 B 365/06, Juris m.w.N.). Dieser eher rechtstheoretischen Unterscheidung steht es jedoch nicht entgegen, auch Aufhebungs- und Erstattungsbescheide als "Leistungsentscheidungen" im Sinne des § 39 Nr. 1 SGB II anzusehen.
bb) Aus den Gesetzgebungsmaterialien sind keine Erkenntnisse zu gewinnen. Denn diese erschöpfen sich in der bloßen Wiedergabe des Wortlautes des § 39 SGB II (vgl. BT-Drucksache 15/1516, S. 63).
cc) Der weit gefasste Wortlaut des § 39 Nr. 1 SGB II bedarf jedoch einer teleologischen Reduktion. Eine teleologische Reduktion einer Norm ist geboten, wenn dem erkennbaren Normzweck mit einer reinen Wortlautinterpretation nicht Rechnung getragen wird (Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, Rn. 903). Dies ist hier der Fall.
Denn die Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II soll verhindern, dass ein Grundsicherungsträger für die Zukunft (weiterhin) Leistungen nach dem SGB II erbringen muss, wenn zum Zeitpunkt der Leistungserbringung ernstliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen. § 39 Nr. 1 SGB II will damit verhindern, dass ein Grundsicherungsträger "sehenden Auges" zu Unrecht (weitere) Leistungen erbringen muss, deren nachträgliche Rückforderung unter Umständen später schwierig oder ausgeschlossen ist. Dies würde insbesondere in den Fällen zu von der Gesetzgebung nicht gewollten Ergebnissen führen, in denen ein Rechtsbehelf nur formal erhoben wird, ohne dass in der Sache substantielle Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Leistungsaufhebung und -rückforderung vorgetragen werden bzw. vorgetragen werden können. Die Situation ist demgegenüber eine vollständig andere, wenn über eine Leistungsbewilligung zu entscheiden ist, die einen abgeschlossenen, in der Vergangenheit liegenden Zeitraum betrifft (Beschluss des erkennenden Senats vom 25.02.2008, L 7 B 339/07 AS ER und L 7 B 340/07 AS ER, Juris; zuvor bereits Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen (NRW), Beschluss vom 20.12.2007, L 9 B 189/07 AS ER, Juris). Denn in einer solchen Situation geht es nicht darum, eine (weitere) rechtswidrige Leistungsgewährung zukünftig zu verhindern, sondern ausschließlich um die Abwicklung einer in der Vergangenheit zu Unrecht erfolgten Leistungsgewährung. In einer solchen Situation hat sich der "Schaden" bereits realisiert. Hinsichtlich der in der Vergangenheit gewährten Leistungen besteht damit nicht die Gefahr einer "Schadensvergrößerung". Es besteht folglich auch kein Grund oder Anlass, Rechtsbehelfen, soweit diese sich (auch) gegen die Aufhebung und Rückforderung in der Vergangenheit gewährter Leistungen richten, keine aufschiebende Wirkung beizumessen.
dd) Das hier gewonnene Auslegungsergebnis wird durch systematische Überlegungen bestätigt.
Denn die sofortige Vollziehbarkeit einer Rückforderungsentscheidung findet im übrigen Sozialleistungsrecht keine Entsprechung (vgl. OVG Bremen a.a.O.; auf die Rechtslage im Beitragsrecht kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an). Gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 2 und 3 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung im sozialen Entschädigungsrecht und in der Sozialversicherung "bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung herabsetzen oder entziehen". Es besteht Einigkeit darüber, dass hiervon nicht Verwaltungsakte erfasst werden, die in der Vergangenheit bereits gewährte Leistungen zurückfordern (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86a RdNr. 14).
Dem entspricht für das Arbeitsförderungsrecht des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB III) die spezielle Regelung des § 336 a Satz 2 SGB III, wonach die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nur bei der "Herabsetzung oder Entziehung laufender Leistungen" entfällt. Hierzu wird die Auffassung vertreten, dass die aufschiebende Wirkung allein bei einer mit Wirkung für die Zukunft erfolgten Herabsetzungs- oder Entziehungsentscheidung entfällt (vgl. Eicher in: Eicher/Schlegel, SGB III, § 336 a RdNr. 39 (Stand: 9/2006); ebenso Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB III, K § 336 a RdNr. 81 (Stand: VI/2006) m.w.N.). Dies überzeugt auch im vorliegenden Regelungskontext. Denn es ist kein Grund dafür zu ersehen, warum dem Leistungsempfänger bereits erfolgte Zahlungen nicht vorerst belassen werden können (vgl. Hengelhaupt a.a.O.). Insoweit ist der Sachverhalt wie dargelegt ein anderer als bei einer Leistungsbewilligungsaufhebung nur mit Wirkung für die Zukunft, mit der einer "Schadensvergrößerung" begegnet werden soll.
Im Sozialhilferecht nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) existiert überhaupt keine dem § 39 SGB II vergleichbare Regelung.
Ein sachlicher Grund, der es rechtfertigen könnte, Empfänger von Leistungen nach dem SGB II hinsichtlich der Rückforderung bereits bewilligter und gewährter Leistungen anders zu behandeln als Empfänger von Leistungen nach dem SGB III, dem SGB XII oder nach anderen Büchern des SGB, ist nicht zu erkennen (vgl. OVG Bremen a.a.O.). Insbesondere ist nicht zu ersehen, dass Empfänger von Leistungen nach dem SGB II möglicherweise stärker von einer missbräuchlichen Inanspruchnahme von Leistungen abgehalten werden müssten als Empfänger anderer Sozialleistungen, oder dass eine sofortige Rückforderung zu Unrecht erlangte Leistungen in ihrem Fall hierzu besser geeignet wäre (OVG Bremen a.a.O). Es ist zudem nicht zu erkennen, dass und ggfs. aus welchen Gründen die Gesetzgebung in § 39 Nr. 1 SGB II von ihren aufgezeigten Wertentscheidungen in den übrigen Büchern des Sozialgesetzbuchs abweichen wollte.
Die Regelung des § 39 Nr. 1 SGB II ist damit einschränkend (teleologisch restriktiv) dahingehend auszulegen, dass sie keine Verwaltungsakte erfasst, mit denen die Bewilligung von Leistungen ausschließlich für die Vergangenheit aufgehoben und die Erstattung dieser Leistungen gemäß §§ 45 ff., 50 SGB X angeordnet wird (vgl. zuvor bereits LSG NRW, Beschluss vom 20.12.2007, L 9 B 189/07 AS ER mit weiteren Nachweisen zur unterschiedlichen Rechtsprechung der Landessozialgerichte; ferner Conradis in: LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 39 RdNr. 7; Wagner in: JURIS PK-SGB II, 2. Aufl. 2007 § 39 RdNr. 14; vgl. ferner Pilz in: Gagel, SGB III, § 39 SGB II Rdnr. 9 (Stand: 2007)).
2.Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
3.Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 07.05.2008
Zuletzt verändert am: 07.05.2008