Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 24.11.2008 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit vom 01.10.2008 bis zum 31.07.2009 als Aufwendungen für Unterkunft und Heizung monatlich 842,00 EUR (abzüglich der in diesem Zeitraum bereits gezahlten Aufwendungen für Unterkunft und Heizung) zu zahlen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen erstattungsfähigen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge zur Hälfte.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsteller ist zulässig und begründet.
1. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237 = NVwZ 2005, Seite 927).
2. Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
a) Der Anordnungsanspruch der Antragsteller folgt aus § 22 Abs. 1 Satz 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Das SG hat in seinem angefochtenen Beschluss zu Recht ausgeführt, dass die derzeitigen Kosten der Antragsteller für Unterkunft und Heizung nicht angemessen sind im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Der Senat nimmt auf die zutreffenden Ausführungen des SG in dem angefochtenen Beschluss Bezug (entsprechend § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).
Die Antragsteller können gleichwohl von dem Antragsgegner einstweilen die Übernahme ihrer tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beanspruchen. Denn gemäß § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II sind die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft, auch wenn diese – wie hier der Fall – das angemessene Maß übersteigen, als Bedarf der Bedarfsgemeinschaft so lange zu berücksichtigen, wie es der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Denn der Antragstellerin zu 2) ist derzeit – und bei der im summarischen Verfahren gebotenen vorläufigen Einschätzung – ein Wohnungswechsel nicht zuzumuten.
aa) Der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 17.02.2009 im Beschwerdeverfahren vorgetragen, dass die Antragstellerin sich in ständiger psychiatrischer Behandlung befindet und keinen Belastungen ausgesetzt werden darf. Zu berücksichtigen sei, dass die Tochter und der Enkel der Antragsteller in unmittelbarer Nähe der Antragsteller wohnen und zur Stabilisierung der Antragstellerin beitragen. Der Prozessbevollmächtigte der Antragsteller hat hierzu eine fachärztliche Bescheinigung des die Antragstellerin behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. W C vom 21.03.2009 vorgelegt. Danach leidet die Antragstellerin an einer rezidivierenden depressiven Störung bei situativer Belastung. Sie befinde sich derzeit in einer mittelschweren depressiven Episode. Aufgrund dieser Erkrankung sei die Belastbarkeit erheblich eingeschränkt. Der drohende Wohnungsverlust bedeute ein erhebliches Psychotrauma, wodurch der latent stabilisierte Gesundheitszustand gefährdet werde.
Der Senat hat daraufhin von Dr. C einen ausführlichen Befundbericht angefordert, den dieser am 05.05.2009 erstellt hat. Dr. C hat dort aufgeführt, dass er die Antragstellerin seit dem Jahr 2001 behandelt und zuletzt am 30.04.2009 behandelt hat. Sie leide unter innerer Unruhe, Nervosität und Angespanntheit, Angstgefühlen, Beklemmungen und dissoziativen Beschwerden. Es liege eine massive neuro-vegetative Fehlregulation und ein ängstlich-depressives Syndrom vor. Als Diagnosen seien bei der Antragstellerin zu nennen: Angstneurose und Dekompensation bei situativer Belastung. Derzeit bestehe eine mittelschwere depressive Episode mit deutlich verminderter Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit sowie Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit aus Angst, ihre Wohnung verlassen zu müssen. Derzeit sei ihr ein Umzug nicht zuzumuten. Ein Umzug stelle ein erhebliches Psychotrauma dar, wodurch eine psychische Dekompensation zu befürchten sei.
Auf die Einwendungen des Antragsgegners hiergegen hat der Senat von Dr. C eine ergänzende Stellungnahme eingeholt. Hierin hat er ausgeführt, dass bereits die schwebende Umzugsaufforderung gravierende Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Antragstellerin gehabt habe. Seit dem 27.10.2008 befinde sich die Antragstellerin bei ihm erneut in Behandlung und zur Verlaufskontrolle. Neben den Gesprächsleistungen werde sie auch medikamentös behandelt. Sie habe über zunehmende Unruhe, Nervosität, Anspannung, Ängste, Beklemmungen, Kopfdruck, Schwindel und Gleichgewichtsstörungen geklagt. Am 30.04.2009 sei es zu einer Krisenintervention gekommen. Sie sei sehr hektisch und getrieben gewesen und habe erhebliche somatisierte Beschwerden gehabt. Seit Oktober 2008 seien insgesamt sechs ärztliche Behandlungen durchgeführt worden.
Soweit der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 02.06.2009 erwidert hat, dass ein kausaler Zusammenhang zu der Umzugsaufforderung des Antragsgegners und der Erkrankung der Antragstellerin nicht gesehen werden könne, überzeugt dies den Senat aufgrund der ausführlichen Einlassungen von Dr. C nicht. Mangels eigener medizinischer Sachkunde kann sich der Senat über diese ausführlichen Ausführungen des behandelnden Neurologen und Psychiaters im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht hinwegsetzen. Die Gerichte haben sich zudem auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren schützend und fördernd vor die Grundrechte der hilfebedürftigen Menschen zu stellen (BVerfG a.a.O.). Gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) hat jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Diesem Grundrecht und seiner Bedeutung ist im Rahmen der gemäß § 86b Abs. 2 SGG vorzunehmenden Interessenabwägung Rechnung zu tragen.
bb) Aufgrund der ausführlichen Einlassungen des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. C haben die Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Im sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren wird abschließend zu klären sein, ob der Antragstellerin ein Umzug tatsächlich nicht zuzumuten ist. Dies wird ggf. durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens festzustellen sein. Aufgrund des vorläufigen Charakters des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens und aufgrund der gebotenen Eilbedürftigkeit war es zur Überzeugung des Senat nicht sachdienlich, ein derartiges Sachverständigengutachten bereits im einstweiligen Rechtsschutzverfahren einzuholen.
cc) Gemäß § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II soll die Übernahme der tatsächlichen (und nicht angemessenen) Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in der Regel längstens für sechs Monate übernommen werden. Aufgrund der Dauer des Beschwerdeverfahrens und der vorliegenden fachärztlichen Bescheinigung ist es geboten, diese zeitliche Grenze, die "als Regelfall" gesetzlich vorgesehen ist, zu überschreiten. Es ist sachgerecht, die einstweilige Leistungsverpflichtung des Antragsgegners bis zum 31.07.2009 auszusprechen. Der Antragsgegner wird bis dahin die Gelegenheit haben, ggf. selbst ein ärztliches Sachverständigengutachten zu der Frage, ob der Antragstellerin ein Umzug zugemutet werden kann, in Auftrag zu geben und einzuholen.
b) Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Denn sie haben vorgetragen, dass ihr Vermieter aufgrund der mittlerweile sehr hohen Mietrückstände eine außerordentliche Kündigung des Mietverhältnisses bereits angekündigt hat. Eine solche Kündigung würde den Gesundheitszustand der Antragstellerin nach derzeitigem Erkenntnisstand, wie zuvor ausgeführt, gefährden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Der Senat hat hierbei berücksichtigt, dass die Antragsteller erst im Beschwerdeverfahren – mit Schriftsatz vom 17.02.2009 – auf die Erkrankung der Antragstellerin hingewiesen haben, obwohl das einstweilige Rechtsschutzverfahren (vor dem SG) bereits seit dem 06.10.2008 anhängig war. Es ist deshalb sachgerecht, dass der Antragsgegner die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für das erst- sowie zweitinstanzliche einstweilige Rechtsschutzverfahren nur zur Hälfte trägt.
Von dieser Kostenentscheidung bleibt unberührt, dass das SG Dortmund dem Antragsteller zu 1) mit Beschluss vom 24.11.2008 Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren und der Senat den Antragstellern mit Beschluss vom 05.02.2009 Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens, jeweils unter Beiordnung ihres verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwaltes, bewilligt hat.
4. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 07.04.2010
Zuletzt verändert am: 07.04.2010