Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 08.08.2013 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 30.
Mit Bescheid vom 22.02.2008 stellte der Beklagte bei der am 00.00.1956 geborenen Klägerin einen GdB von 50 wegen eines Teilverlustes der Schilddrüse bei Gewebeneubildung 07/2005 (Einzel-GdB 50), Verlustes der linken Nebenniere bei Gewebeneubildung 07/2005 nach Ablauf der Zeit der Heilungsbewährung (Einzel-GdB 10) und eines Halswirbelsäulen- und Schulter-Arm-Syndroms sowie einer Funktionseinschränkung der rechten Schulter (Einzel-GdB 10) fest.
Im September 2010 leitete der Beklagte eine Nachprüfung der bisherigen Feststellungen von Amts wegen ein und zog Befundberichte des Radiologen Dr.T und der Ärztin für Innere Medizin Dr. T vom 06.04.2011 bei. Mit Anhörungsschreiben vom 06.06.2011 teilte er der Klägerin mit, dass beabsichtigt sei, den Bescheid vom 22.02.2008 ersatzlos aufzuheben. In Anbetracht der besonderen Umstände sei der GdB der Klägerin höher als allein nach den objektiv vorliegenden Funktionseinschränkungen festgestellt worden. Die Auswertung der beigezogenen Befundberichte habe ergeben, dass hinsichtlich der festgestellten Beeinträchtigung "Teilverlust der Schilddrüse" Heilungsbewährung eingetreten sei. In den letzten Jahren seien Rückfälle nicht aufgetreten und das Risiko eines Rückfalls sei erheblich reduziert; der Gesundheitszustand der Klägerin habe sich stabilisiert. Die Klägerin teilte daraufhin mit, sie sei hiermit nicht einverstanden. Mit Bescheid vom 12.07.2011 stellte der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.02.2008 fest, dass der GdB bei der Klägerin weniger als 20 vH betrage.
Zur Begründung des hiergegen am 02.08.2011 eingelegten Widerspruchs trug die Klägerin unter Vorlage einer Bescheinigung von Dr.T vor, ihr Krankheitsbild habe sich negativ weiterentwickelt. Hierdurch sei ihr Alltag sehr beeinträchtigt.
Mit Abhilfebescheid vom 05.10.2011 stellte der Beklagte einen GdB von 30 wegen folgender Gesundheitsstörungen fest: 1. Teilverlust der Schilddrüse – Einzel-GdB 10 2. Verlust der linken Nebenniere – Einzel-GdB 10 3. Halswirbelsäulen- und Schulter-Arm-Syndrom, Funktionseinschränkung der rechten Schulter- Einzel-GdB 10 4. Erkrankung des rheumatischen Formenkreises – Einzel-GdB 30
Die Klägerin hielt ihren Widerspruch aufrecht und führte aus, die Beeinträchtigung im Funktionssystem Stoffwechsel, innere Sekretion sei mit einem Einzel-GdB von 60 anzusetzen. Aufgrund des Zustandes nach Schilddrüsen-OP 2005 leide sie ständig unter vermehrter Schweißbildung, Unruhe, Nervosität, Kopfschmerzen, Schlafproblemen und Tagesmüdigkeit sowie Verdauungsproblemen. Hinsichtlich des Zustandes nach operativer Entfernung der linken Nebenniere habe der Beklagte zu Unrecht nur einen Zeitraum von zwei Jahren für die Feststellung einer Heilungsbewährung angesetzt. Insofern sei ein Zeitraum von acht bis zehn Jahren anzusetzen. Die Beeinträchtigungen im Funktionssystem Arme seien mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten. Sie leide an Gelenkschmerzen ua in den Ellenbogen beidseits, Schulter- und Handgelenken, einer Schwäche der Muskulatur und häufig eingeschlafenen Fingern. Es handele sich um eine Polymyalgia rheumatica, die gemäß der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung – Versorgungsmedizinische Grundsätze (AnlVersMedV) – nach Art und Ausmaß der Organbeteiligung sowie den Auswirkungen auf den Allgemeinzustand zu bewerten sei. Für die sich aus den Leiden der Halswirbelsäule und Schultersteife rechts ergebenden Funktionsbeeinträchtigungen sei ein GdB von 30 in Ansatz zu bringen. Auch leide sie seit Jahren an halbseitigen Cephalgien auf der linken Seite, Schwindelsymptomatik und einem Erschöpfungssyndrom, so dass für die Beeinträchtigung im Funktionssystem Gehirn und Psyche ein Einzel-GdB von 30 gerechtfertigt sei. Schließlich sei aufgrund der Beeinträchtigungen im Funktionssystem Beine ein Einzel-GdB von 20 in Ansatz zu bringen.
Der Beklagte holte ein Gutachten des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. N vom 26.01.2012 ein. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass der Gesamt-GdB mit 30 bei folgenden Gesundheitsstörungen festzustellen sei:
1. Erkrankung des rheumatischen Formenkreises – Einzel-GdB 30 – 2. Funktionsstörungen des linken Kniegelenks und der Füße, Muskelatrophie des linken Oberschenkelmuskels mit Kraftminderung – Einzel-GdB 20 – 3. Funktionsstörungen der Schultergelenke und der Hände mit Kraftminderung, Reiz- syndrom im Bereich der Ellenbogen – Einzel-GdB 10 – 4. Funktionsstörungen der Wirbelsäule, Fehlstatik – Einzel-GdB 10 – 5. Teilverlust der Schilddrüse – Einzel-GdB 10 – 6. Teilverlust der linken Nebenniere – Einzel-GdB 10 – 7. Psychische Störung – Einzel-GdB 10 –
Er wies darauf hin, dass die meisten durch die Klägerin subjektiv geklagten Beschwerden in der Leidensbezeichnung "Erkrankung des rheumatischen Formenkreises" und deren Bewertung mit einem Teil-GdB von 30 berücksichtigt seien. Gleiches gelte für die Auswirkungen der Beeinträchtigungen im Funktionssystem Gehirn und Psyche.
Mit Bescheid vom 12.04.2012 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch zurück.
Am 14.05.2012 hat die Klägerin beim Sozialgericht Köln (SG) Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt.
Das SG hat einen Befundbericht der Neurologen Dres. T & O vom 22.08.2012 sowie ein internistisches Gutachten von Dr. N und ein orthopädisch-unfallchirurgisches Gutachten von Dr. N eingeholt. Gegenüber Dr. N hat die Klägerin angegeben, sie sei aktuell unter Schilddrüsenhormontherapie beschwerdefrei. Von Seiten der internistischen Erkrankung verspüre sie einen stabilen Befund. Bis auf die Sorge vor einem Tumorrezidiv und auf einen Schmerz im Bereich des unteren Rippenbogens sei sie seit der OP beschwerdefrei. Der Sachverständige diagnostizierte einen Teilverlust der Schilddrüse sowie einen Verlust der linken Nebenniere und bewertete diese Gesundheitsstörungen jeweils mit Einzel-GdB von 10. Gegenüber Dr. N hat die Klägerin Schmerzprobleme an der Halswirbelsäule und dem linken Kniegelenk angegeben. An den Füßen habe sie einen Fersensporn. Alle Gelenke im Bereich der Arme seien stark druck- und stoßempfindlich. Dr. N wies in seinem Gutachten darauf hin, dass vom Vorliegen einer Polymyalgia rheumatica nicht gesprochen werden könne. Es handele sich insofern um eine Verdachtsdiagnose, die nicht abschließend geklärt sei. Die Klägerin leide unter einem Verschleiß der mittleren und unteren Halswirbelsäule mit anhaltendem Nacken-Schulter-Arm-Syndrom rechtseitig (Einzel-GdB 10), Verschleiß des linken Kniegelenkes (Einzel-GdB 10), einem Teilverlust der Schilddrüse (Einzel-GdB 10) und dem Verlust der linken Nebenniere (Einzel-GdB 10). Den Gesamt-GdB bewertete er entsprechend mit 10.
Mit Urteil vom 08.08.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 30 vH. Auf der Grundlage von § 48 Abs 1 S 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) habe der Beklagte wirksam den Bescheid vom 22.02.2008 aufgehoben und mit Bescheid vom 05.10.2011 einen GdB von 30 festgestellt. Die bei der Klägerin nach Ablauf der Heilungsbewährung zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vorliegenden Funktionseinschränkungen rechtfertigten nur noch einen GdB von 30. Die Kammer stütze sich insoweit auf die ausführlichen und in sich schlüssigen Ausführungen in den Gutachten der Sachverständigen Dr. N und Dr. N Nach Feststellung von Dr. N liege bei der Klägerin auf internistischem Fachgebiet ein Zustand nach Adrenalektomie auf der linken Seite bei Nebennierenkarzinom sowie ein Zustand nach partieller Schilddrüsenresektion mit substituierter Hypothyreose vor. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass die Klägerin in Bezug auf diese Gesundheitsstörungen beschwerdefrei ist. In der Tumornachsorge seien seit 2005 keine pathologischen Befunde auffällig geworden. Es bestehe allein die Sorge der Klägerin hinsichtlich eines Tumorrezidivs. Auf der Basis der AnlVersMedV ergebe die Empfehlung des Sachverständigen einen GdB von jeweils 10. Der Sachverständige Dr. N habe einen Verschleiß der mittleren und unter Halswirbelsäule mit anhaltendem Nacken-Schulter-Arm-Syndrom rechtseitig diagnostiziert. Es handele sich um einen Wirbelsäulenschaden mit geringen funktionellen Auswirkungen, für welchen die AnlVersMedV einen GdB von 10 vorsehe. Die im Bereich des linken Knies vorliegenden Verschleißerscheinungen seien mit einem GdB von 10 zu belegen. Eine Rheumaerkrankung habe der Sachverständige nicht nachweisen können, da keine erhöhten Laborwerte vorlagen, die auf eine entzündliche Veränderung hingedeutet hätten. Unter Beachtung dieser Darlegungen sei der Gesamt-GdB bei der Klägerin mit 10 zu bemessen. Soweit die Klägerin die Auffassung vertrete, es sei ein weiteres Sachverständigengutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet einzuholen gewesen, überzeuge dies die Kammer nicht. Hiergegen spreche zum einen, dass sie sich selbst auf diesem medizinischen Fachgebiet mit einem GdB von 30 zutreffend bewertet sehe. Auch habe sie nicht dargelegt, dass der Einzel-GdB auf diesem Fachgebiet höher zu bewerten sein könnte. Die Kammer sehe sich zu weiteren Ermittlungen nicht veranlasst. Selbst unter Zugrundelegung eines – von der Klägerin selbst für zutreffend gehaltenen – Einzel-GdB von 30 auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sei ein höherer Gesamt-GdB als 30 nicht gerechtfertigt. Schließlich habe seit 2002 keine neurologische, geschweige denn eine psychiatrische Behandlung der Klägerin stattgefunden.
Gegen das am 05.12.2013 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12.08.2013 Berufung eingelegt: Das Urteil des SG beruhe auf einer unvollständig durchgeführten Beweisaufnahme. Weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren sei die erforderliche Begutachtung der im Funktionssystem Gehirn und Psyche bestehenden Beeinträchtigungen durchgeführt worden.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.08.2013 und den Bescheid des Beklagten vom 12.07.2011 in der Fassung des Bescheides vom 05.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2012 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat Befundberichte des Facharztes für Rheumatologie Dr. F vom 10.06.2014, der Schmerztherapeutin Dr. T vom 11.06.2014, des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie C vom 20.06.2014, des Facharztes für Anästhesiologie Dr. I vom 02.07.2014 und der Diplom-Psychologin T vom 15.08.2014 eingeholt. Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat ein Gutachten des Facharztes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Psychiatrie Dr. N vom 29.06.2015 eingeholt. Dr. N hat folgende Gesundheitsstörungen benannt:
1. Schilddrüsenfunktionsstörungen, Verlust der linken Nebenniere -GdB 0-
2. Wirbelsäulenschäden bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt -GdB 20-
3. Ausgeprägte Knorpelschäden der Kniegelenke mit anhaltenden Reizerscheinungen, einseitig mit Bewegungseinschränkungen -GdB 30-
4. Fibromyalgie mit mittelgradigen Auswirkungen mit dauernden erheblichen Funktionseinschränkungen und Beschwerden, insgesamt therapeutisch schwer beeinflussbare Krankheitsaktivität -GdB 50-
5. Depressionen -GdB 40-
Den Gesamt-GdB bewertete er mit 70.
Aufgrund diverser Einwände des Beklagten gegen dieses Gutachten hat der Senat eine ergänzende Stellungnahme von Dr. N vom 07.12.2015 eingeholt, in welcher dieser grundsätzlich an seiner Auffassung festgehalten hat. Hinsichtlich der von ihm diagnostizierten rezidivierenden mittelgradigen depressive Episode hat er ausgeführt, dass diese von ihm rückwirkend nicht schon im April 2012 festgestellt werden könne, da sie erstmals 2014 diagnostiziert worden sei. Aufgrund der Angaben der Klägerin könne man dies aber auch anders bewerten und bereits ab 2011 eine Depression annehmen. Die von ihm festgestellte Fibromyalgie habe er anhand der AnlVersMedV analog den entzündlich-rheumatischen Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule mit mittelgradigen Auswirkungen (dauernde erhebliche Funktionseinbußen und Beschwerden, therapeutisch schwer beeinflussbare Krankheitsaktivität) bewertet.
Der Senat hat dann von Amts wegen ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten von Dr. P vom 29.08.2016 eingeholt. Dieser diagnostizierte eine Schmerzstörung (GdB 30) und berücksichtigte darüber hinaus die fachfremd von Dr. N und Dr. N diagnostizierten Gesundheitsstörungen und zugrundegelegten Einzel-GdB. Der Gesamt-GdB sei seit April 2012 mit 30 zu bewerten. Seit September 2013 sei zusätzlich das Vorliegen einer wiederkehrenden depressiven Störung belegt. Wegen der hinzutretenden Depression sei im Rahmen der Leidensbezeichnung seitdem ein GdB von 40 festzustellen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Beklagte durfte mit den angegriffenen Bescheiden vom 12.07.2011/05.10.2011 den Bescheid vom 22.02.2008 (teilweise) aufheben, den GdB herabsetzen und ihn mit nur noch 30 feststellen.
Rechtsgrundlage des mit der Klage angefochtenen Bescheides ist § 48 Abs 1 S 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Ob eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X eingetreten ist, muss im Rahmen einer gegen einen Herabsetzungsbescheid gerichteten Anfechtungsklage durch einen Vergleich der Verhältnisse zum Zeitpunkt des Erlasses des letzten bestandskräftig gewordenen Bescheides mit denjenigen zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung der Beklagten ermittelt werden. Bei einer derartigen Neufeststellung handelt es sich nicht um eine reine Fortschreibung des im letzten maßgeblichen Bescheides festgestellten GdB, sondern um das Neuermitteln unter Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen (vgl BSG, Urteil vom 19.09.2000 – B 9 SB 3/00 R – in juris Rn 14 mwN).
Maßgebend ist der Vergleich zwischen dem Gesundheitszustand zum Zeitpunkt des letzten Feststellungsbescheides (22.02.2008) und zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung im Rahmen des Aufhebungsbescheides (Widerspruchsbescheid vom 12.04.2012).
In den dem Bescheid vom 22.02.2008 zugrunde liegenden Verhältnissen ist eine wesentliche Änderung im Sinne von § 48 Abs 1 S 1 SGB X eingetreten. Eine solche ist dann anzunehmen, wenn sich durch eine Besserung oder Verschlechterung der vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen eine Herabsetzung oder Erhöhung des GdB um wenigstens 10 ergibt. Einen Sonderfall stellt die Neufeststellung nach Ablauf der sogenannten Heilungsbewährung bei Krebserkrankungen dar. Hier wird zunächst für den Zeitraum der Heilungsbewährung pauschal ein höherer GdB angenommen als sich aufgrund der tatsächlich vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen ergibt. Erst nach Ablauf des Zeitraumes der Heilungsbewährung wird eine Feststellung nach den tatsächlich verbliebenen Beeinträchtigungen getroffen. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs 1 SGB X liegt auch bei erfolgreichem Ablauf der Heilungsbewährung vor (hM, vgl Urteil des LSG Niedersachen-Bremen vom 21.07.2015 – L 13 SB 122/14 – in juris Rn 19 mwN).
Der Gesundheitszustand der Klägerin hat sich im Vergleich zu den gesundheitlichen Verhältnissen im Februar 2008 durch den rezidivfreien Ablauf der Zeit der Heilungsbewährung wesentlich geändert. Dies begründet die Herabsetzung des GdB auf 30. Bei der Erteilung des Bescheides vom 22.08.2008 litt die Klägerin unter einem Teilverlust der Schilddrüse und dem Verlust der linken Nebenniere, welche im Juli 2005 wegen eines Nebennierenrindenkarzinoms und eines malignen Schilddrüsentumor entfernt worden waren. Nach Teil B Nr 15.6 AnlVersMedV ist nach Entfernung eines malignen Schilddrüsentumors eine Heilungsbewährung von fünf Jahren abzuwarten. Diese Heilungsbewährung ist eingetreten. Der Schilddrüsentumor wurde im Juli 2005 operativ entfernt. Ein Rezidiv ist seither nach den Feststellungen des internistischen Sachverständigen Dr. N, die durch das seitens des Beklagten im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten bestätigt werden, nicht aufgetreten. Gleiches gilt hinsichtlich des ebenfalls im Juli 2005 entfernten Nebennierenrindenkarzinoms. Hierzu findet sich eine ausdrückliche Bestimmung eines Zeitraums der Heilungsbewährung im insofern einschlägigen Teil B Nr 12.1.4 AnlVersMedV nicht. Dort wird nur die Dauer der Heilungsbewährung nach Entfernung eines Nierenzellkarzinoms, eines Nierenbeckentumors sowie eines Nephroblastoms festgelegt. Die Heilungsbewährung beträgt insofern zwischen zwei und fünf Jahren. Nach Teil B Nr 1 c AnlVersMedV beträgt der Zeitraum des Abwartens einer Heilungsbewährung in der Regel fünf Jahre; kürzere Zeiträume werden in der Tabelle vermerkt. Da nach dem Akteninhalt und den oben genannten gutachterlichen Feststellungen auch hinsichtlich des Nebennierenrindenkarzinoms nach der Operation im Juli 2005 kein Rezidiv aufgetreten ist, war die Heilungsbewährung jedenfalls zum Zeitpunkt der im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Entscheidung des Beklagten eingetreten. Es kann daher dahinstehen, ob der Beklagte bei Erlass des (bestandskräftigen) Bescheides vom 22.02.2008 zutreffend die Heilungsbewährung des Nebennierenrindenkarzinoms schon zu diesem Zeitpunkt zugrunde gelegt hatte.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist der Zeitraum der Heilungsbewährung hinsichtlich des Zustandes nach operativer Entfernung der linken Nebenniere nach Nebennierenrindenkarzinom auch nicht länger als die in der AnlVersMedV zugrunde gelegten fünf Jahre zu bemessen. Der in Teil B Nr 1 c AnlVersMedV festgelegte Zeitraum der Heilungsbewährung beträgt "in der Regel" fünf Jahre. Der Wortlaut "in der Regel" betrifft hierbei nur die Abkürzung des Zeitraums in der jeweiligen Tabelle für bestimmte Erkrankungsbilder, nicht aber die Eröffnung der Möglichkeit einer jeweiligen Einzelfallentscheidung in Bezug auf eine Bestimmung des individuell angemessenen Zeitraums der Heilungsbewährung im konkreten Krankheitsfall, wie die Klägerin dies geltend macht. Bei der Anhebung des GdB unter dem Gesichtspunkt der Heilungsbewährung handelt es sich um ein mehr oder weniger pauschales Verfahren, mit welchem – ohne gesonderte Anerkennung einer irgendwie diagnostizierten geistig-psychischen Behinderung ("Rezidivangst") – der psychischen Ausnahmesituation, die bei bestimmten Diagnosen wie zB der Krebsdiagnose besteht, umfassend Rechnung getragen werden soll. Insoweit kommt dem Verordnungsgeber eine Befugnis zu Pauschalierungen und Typisierungen zu, von der er in rechtlich nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht hat (vgl Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21.07.2015 L 13 SB 122/14 in juris Rn 23 mwN).
Damit hat die Beklagte mit den angegriffenen Bescheiden zu Recht eine Beurteilung des GdB nur noch nach den tatsächlich bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen vorgenommen. Hiernach konnte zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung kein höherer GdB als 30 festgestellt werden.
Da hinsichtlich des Teilverlustes der Schilddrüse bei Gewebeneubildung Heilungsbewährung eingetreten ist und nach Dosisfindung bei Schilddrüsenhormontherapie Beschwerdefreiheit der Klägerin vorliegt, ist der Einzel-GdB hierfür allenfalls mit 10 zu bewerten. Bei Beschwerdefreiheit der Klägerin rechtfertigt sich dieser GdB bei wohlwollender Betrachtung aufgrund der Notwendigkeit der fortlaufenden Therapie. Es kann jedoch dahinstehen, ob der Einzel-GdB, wie von Dr. N als Gutachter auf internistischem Gebiet vorgeschlagen und durch die Beklagte zugrunde gelegt, 10 oder – wie von dem psychiatrischem Sachverständigen Dr. N angenommen – gar nur 0 beträgt. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB wird hierdurch gemäß Teil A Nr 3 d) ee) AnlVersMedV jedenfalls nicht bedingt.
Auf psychiatrisch-psychotherapeutischem Fachgebiet leidet die Klägerin unter einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, die zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 12.04.2012) mit einem GdB von 30 zu bewerten war. Der Senat folgt insofern der Einschätzung des Sachverständigen Dr. P Die durch die Klägerin geklagten Schmerzen waren zunächst als Erkrankung des rheumatischen Formenkreises gewertet worden. Bereits Dr. N hat in seinem für das SG erstellten Gutachten jedoch darauf hingewiesen, dass die Erkrankung einer Polymyalgia rheumatica nicht nachgewiesen ist. Es hat sich insofern um eine Verdachtsdiagnose gehandelt, die nachfolgend nicht bestätigt werden konnte. Ein erhöhtes Bild der Endzündungsparameter ist im Labor zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen worden. Der behandelnde Rheumatologe Dr. F hat eine entzündlich rheumatische Systemerkrankung ausgeschlossen. Die behandelnden Ärzte und auch der Sachverständige Dr. N diagnostizierten im Folgenden eine Schmerzstörung bzw Fibromyalgie. Auch Dr. P geht von einer Schmerzstörung aus, die er zutreffend für den entscheidungserheblichen Zeitraum mit einem GdB von 30 bewertet. Er hat in seinem Gutachten dargelegt, dass die chronische Schmerzstörung – entgegen der durch Dr. N vertretenen Auffassung – nicht wie eine rheumatische Erkrankung zu bewerten ist, sondern in ihren Auswirkungen auf die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit der Klägerin analog zu Teil B Nr 3.7 der AnlVersMedV zu bewerten ist. Dr. P hat die aktenkundigen medizinischen Befunde in seinem Gutachten sorgfältig ausgewertet und ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass ab April 2012 eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit am unteren Rand des Bewertungsspielraums vorgelegen hat, die er zutreffend entsprechend Teil B Nr 3.7 AnlVersMedV mit einem GdB von 30 bewertet hat. Soweit Dr. N einen GdB von 50 annimmt, beruht dies zum einen auf seiner fehlerhaften Bewertung analog den entzündlich-rheumatischen Krankheiten. Darüber hinaus hat er in seinem Gutachten auch nicht beschrieben, weshalb er von mittelgradigen Auswirkungen ausgegangen ist. Diese setzen dauernde erhebliche Funktionseinbußen und Beschwerden sowie eine therapeutisch schwer beeinflussbare Krankheitsaktivität voraus. Weshalb er von diesen Voraussetzungen ausgeht, ist aus seinem Gutachten nicht ersichtlich.
Soweit Dr. N darüber hinaus eine Depression festgestellt hat, die er mit einem GdB von 40 bewertet, hat er bereits in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 07.12.2015 klargestellt, dass er diese Diagnose rückwirkend für April 2012 nicht stellen kann. Dr. P hat diesbezüglich unter Auswertung des gesamten Akteninhalts darauf abgestellt, dass die Depression ab September 2013 als nachgewiesen angesehen werden kann. Nach den Feststellungen beider Sachverständiger kann für den streitentscheidenden Zeitpunkt daher noch nicht von einer Depression ausgegangen und damit kein GdB in Ansatz gebracht werden.
Die Beschwerden seitens der Knie sind allenfalls mit einem GdB von 20 zu bewerten. Der Sachverständige Dr. N hat im Bereich des linken Kniegelenks bei reizfreien Operationsnarben einen insgesamt reizfreien Status ohne Rötung oder Überwärmung, keine Ergußbildung, keine Kapsel-/Weichteilverdickung bei seitengleichem Umfangsbild festgestellt. Die Klägerin konnte das Knie noch bis 90 Grad beugen. Röntgenologisch fand sich ein altersentsprechend normaler Knochen- und Gelenkstatus. Es ergaben sich auch keine auffälligen altersvorauseilenden Verschleißveränderungen. Gemäß Nr 18.14 AnlVersMedV sind Bewegungseinschränkungen im Kniegelenk geringen Grades (zB Streckung-/Beugung mit 0-0-90) einseitig – wie sie hier vorliegen – mit einem GdB von 0 bis 10 zu bewerten. Entsprechend hat Dr. N einen GdB von 10 angenommen. Zwar hat Dr. N in seinem für den Beklagten erstellten Gutachten aus Januar 2012 die Funktionsstörung des linken Knies noch mit einem GdB von 20 bewertet. Die von ihm festgestellte Muskelatrophie des linken Oberschenkelmuskels mit Kraftminderung konnte durch Dr. N aber nicht mehr festgestellt werden. Die Bewegungsmessung der Kniegelenke durch Dr. N hat darüber hinaus zum gleichen Ergebnis geführt, wie diejenige durch Dr. N Auch die durch Dr. N noch festgestellte Umfangdifferenz unterhalb des Kniegelenks ist durch Dr. N nicht mehr festgestellt worden. Es ist insofern von einer Besserung im Bereich des linken Knies zwischen den jeweiligen Begutachtungen auszugehen. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Zustand des linken Knies im April 2012 noch etwas schlechter war als zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. N im August 2012, hält der Senat die Bewertung der Beschwerden mit einem GdB von 20 für vertretbar. Demgegenüber ist die Bewertung durch Dr. N nicht nachvollziehbar. Dieser geht – ohne die Klägerin diesbezüglich überhaupt untersucht zu haben – von ausgeprägten Knorpelschäden der Kniegelenke mit anhaltenden Reizerscheinungen aus, die er mit einem GdB von 30 bewertet. Wie er zu dieser Diagnose kommt, erschließt sich anhand seines Gutachtens nicht.
Hinsichtlich der Funktionsstörungen der (Hals-)Wirbelsäule sind sowohl Dr. N als auch Dr. N zu einem Einzel-GdB von 10 gelangt. Der Senat folgt dieser Beurteilung, da es sich um Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen handelt. Soweit Dr. N hier abweichend zu einem höheren GdB von 20 kommt, erschließt sich nicht, wie er zu seiner Beurteilung gelangt. Eine Untersuchung der funktionellen Auswirkungen der Funktionsstörungen der Wirbelsäule ist durch den Sachverständigen nicht erfolgt. Die durch die Klägerin geklagten Schmerzen sind bereits in die Bewertung des Schmerzsyndroms eingeflossen und können damit bei der Beurteilung der Wirbelsäulenbeschwerden nicht noch einmal berücksichtigt werden.
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 S 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehung festgestellt. Zur Feststellung eines GdB sind in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen Zuständen und den sich hieraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. In einem zweiten Schritt sind diese den in der AnlVersMedV genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Aus den hiernach festzustellenden Einzel-GdB ist in einem dritten Schritt, in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (Teil A Nr 3 c AnlVersMedV), in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen ein Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder bedingungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle feste Grade angegeben sind (Teil A Nr 3 b AnlVersMedV). Dabei ist die Bemessung des GdB grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG -, vgl ua Urteil vom 02.12.2010 – B 9 SB 3/09 R – in juris, Rn 16 mwN).
Bei einem Einzel-GdB für die Schmerzstörung von 30 als führender Gesundheitsstörungen kommt es aufgrund der weiteren Gesundheitsstörungen nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB. Die Funktionsstörungen der Wirbelsäule, der Teilverlust der Schilddrüse und der Verlust der linken Nebenniere sind jeweils mit Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Von Ausnahmefällen – die hier nicht vorliegen – abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander stehen (Teil A Nr 3 d) ee) AnlVersmedV). Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr 3 d) ee) AnlVersmedV). Da die Beeinträchtigungen im Bereich des linken Knies bereits bei der Untersuchung durch Dr. N nicht mehr zu nennenswerten Bewegungseinschränkungen des Kniegelenkes geführt haben, war schon zu diesem Zeitpunkt allenfalls von einer leichten Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die eine Erhöhung des Gesamt-GdB nicht begründen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) sind nicht gegeben.
Erstellt am: 04.09.2017
Zuletzt verändert am: 04.09.2017