Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 15.07.2009 geändert. Dem Kläger wird hinsichtlich der Wahrung der Klagefrist für die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 09.06.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.09.2008 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Gründe:
Der Widerspruchsbescheid vom 03.09.2008 traf nach Angabe des Prozessbevollmächtigten des Klägers am 08.09.2008 in dessen Kanzlei ein. Am 13.10.2008 ging die mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Klagefrist verbundene Klage beim Sozialgericht ein. Die Fristversäumnis sei auf ein Versehen der seit Gründung der Kanzlei tätigen, umfassend geschulten und äußerst sorgfältig arbeitenden Frau T., Ehefrau des Prozessbevollmächtigten, zurückzuführen. Diese habe anstelle der vom Prozessbevollmächtigten bei Bearbeitung am 09.09.2008 verfügten Wiedervorlagefrist 02.10.2008, Nr. 4 was der "Verfügung einer Notfrist" entspreche, zwar die richtige Wiedervorlagefrist im Fristenkalender notiert, jedoch versehentlich den Wiedervorlagegrund Nr. 10, "Entscheidung Gericht/Behörde".
In der durch einen Feiertag verkürzten und wegen zusätzlicher Terminbelastung durch eine Urlaubsvertretung für einen Kollegen 40. Kalenderwoch seien nicht alle zur Frist notierten Akten bearbeitet worden. Ein Teil der Fristen, darunter die für das vorliegende Verfahren notierte Frist sei von Frau T. ohne erneute Einsicht in die Akte auf die 41. Kalenderwoche vorgetragen worden. Erst bei der Aktenbearbeitung am 10.10.2008 sei aufgefallen, dass der falsche Wiedervorlagegrund notiert und die Klagefrist abgelaufen gewesen sei.
Hierzu wurde eine eidesstattliche Versicherung der Frau T. vom 10.10.2008 vorgelegt, wonach der sachbearbeitende Rechtsanwalt die Frist durch Angabe von Datum und Fristgrund verfügt, die jeweilige Rechtsanwaltsfachangestellte die Frist und den Fristgrund in der elektronischen Datenverarbeitung einträgt und die Erledigung dieses Vorganges durch Handzeichen auf dem Schriftstück kennzeichnet. Die Fristen würden dann für jeden Anwalt wöchentlich ausgedruckt und zu Beginn der Arbeitswoche von diesen durchge-sehen. Hierbei kennzeichne der Anwalt die anstehenden Notfristen mit den Fristgründen "Ende Notfrist", "Notfrist eine Woche" und "Ende Gerichtsfrist". Zusätzlich erhalte der Anwalt täglich eine Liste mit tagesbezogenen Ausdrucken zusammen mit den zugehörigen Akten. Sofern die vorgelegten Akten nicht am Tag der Vorlage oder in der laufenden Woche bearbeitet werden könnten, würden sie auf die folgende Arbeitswoche vorgetragen. Dies geschehe durch eine zusammenfassende Programmfunktion ohne dass jede einzelne Akte noch einmal zur Hand genommen werden müsse.
Weshalb sie, Frau T., den auf den Widerspruchsbescheid vom 03.09.2008 verfügten Wiedervorlagegrund Nr. 4 nicht, dafür aber den Wiedervorlagegrund Nr. 10 eingetragen habe, könne sie heute nicht mehr angeben. Möglicherweise habe sie irrtümlich die Monatszahl als Wiedervorlagegrund eingetragen. Ein Fehler dieser Art sei ihr bisher noch nicht unterlaufen.
Mit Beschluss vom 15.07.2009 hat das Sozialgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Klagefrist abgelehnt. Ein Wiedereinsetzungsgrund liege nicht vor, da dem Kläger ein Organisationsverschulden des Bevollmächtigten zuzurechnen sei. Der Fehler der Organisation liege darin, dass die Fristen, die im EDV-Kalender nicht als Notfristen notiert seien, bei Ablauf der Frist nicht anhand der Akten nochmals kontrolliert würden, so dass im EDV-Kalender eingetragene Fehler so nicht entdeckt werden könnten. Auch sei der Prozessbevollmächtigte seiner Verpflichtung zur Darlegung hinsichtlich der Belehrung und Überwachung seines Büropersonals nicht ausreichend nachgekommen.
Gegen den am 20.07.2009 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde des Klägers vom 19.08.2009, mit der der Prozessbevollmächtigte des Klägers das in seiner Kanzlei bestehende Fristenkontroll- und Wiedervorlagesystem erläutert. Die Kontrolle des Systems erfolge im Rahmen der täglichen Arbeit durch den jeweiligen Rechtsanwalt, der nach dem Wiedervorlagesystem seine Akten vorgelegt bekomme und bearbeite. Im Rahmen dieser Sachbearbeitung seien bisher weder Fehler im System noch Fehler in der konkreten Arbeitsleistung von Frau T. festgestellt worden. In der 40. Kalenderwoche seien die nicht abgearbeiteten Wiedervorlagen in einer Liste ausgedruckt und daraufhin überprüft worden, ob der Anwalt keine fristbezogenen Wiedervorlagegründe (Notfrist eine Woche, Gerichtsfrist, Notfrist) übersehen habe. Diese Überprüfung sei hinsichtlich der sachstandsbezogenen Wiedervorlagegründe jedoch ausschließlich anhand des EDV-Ausdrucks ohne Beiziehung der jeweiligen Akte erfolgt. Nur falls aus dem Listenausdruck hervorgehe, dass ein Anwalt einen fristbezogenen Wiedervorlagegrund noch nicht abgearbeitet hat, werde ihm der Listenausdruck mit Kennzeichnung der Frist und der dazugehörigen Akte vorgelegt. Die Akten, für die keine fristbezogenen Wiedervorlagegründe eingetragen gewesen seien, würden bei der Weiterverfristung der Akte nicht beigezogen.
Die Fristenkalender der Kalenderwochen 40 und 41 im Jahre 2008 seien ihm Rahmen der laufenden Bearbeitung des EDV-Kalenders fortlaufend überschrieben worden und, soweit bekannt, nicht rekonstruierbar. Eine Archivierung der Wochen-Ausdrucke erfolge nicht. Es gebe keine schriftliche Organisationsordnung.
Zu weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Die zulässige Beschwerde ist auch begründet.
Die formellen Voraussetzungen sind gewahrt, denn sowohl die Nachholung der versäumten Handlung (Klageerhebung) als auch der Wiedereinsetzungsantrag selbst liegen innerhalb der in § 67 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG – bestimmten Frist von einem Monat nach Wegfall des Hindernisses. Wegfall des Hindernisses ist hier die bei Gelegenheit der Wiedervorlage am 10.10.2008 gewonnene Erkenntnis, dass die Klageerhebung bislang versäumt worden war.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach § 67 Abs. 1 SGG zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten.
Der Kläger war durch das Kanzleiversehen seines Prozessbevollmächtigten gehindert, die einen Monat nach Zugang des Widerspruchsbescheides am 09.09.2008 in der Kanzlei seines Prozessbevollmächtigten ablaufende Klagefrist (§§ 87, 64 SGG) zu wahren.
Für ein Eigenverschulden des Klägers bietet der Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte.
Ein dem Kläger zuzurechnendes (§ 73 Abs. 6 Satz 6 SGG, § 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung – ZPO -) Verschulden seines Prozessbevollmächtigten liegt gleichfalls nicht vor.
Das eingeräumte Verschulden der Angestellten T. bei Umsetzung der handschriftlichen Verfügung des Prozessbevollmächtigten des Klägers auf dem Widerspruchsbescheid vom 03.09.2008 ist nicht zurechenbar. Eine Zurechnung des Verschuldens von Hilfspersonen, also insbesondere von Büropersonal des Anwalts ist nach geltendem Recht nicht möglich, da es im Prozessrecht an einer dem § 278 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entsprechenden Regelung fehlt (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. § 67 Rdnr. 8 b m.w.N., Müller, Die Rechtsprechung des BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, NJW 2000, S. 322 f., 327 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH; Beschluss des LSG NW vom 11.05.2004 – L 3 B 3/04 RJ -).
Auch ein dem Kläger zuzurechnendes Organisationsverschulden seines Prozessbevoll-mächtigten ist nach dem in sich widerspruchsfreien und mangels gegenteiliger Hinweise als glaubhaft anzusehenden Vortrag nicht feststellbar. Fehler von Angestellten sind dem Bevollmächtigten und damit der Prozesspartei dann nicht zuzurechnen, wenn der Prozessbevollmächtigte die betroffene Aufgabe deligieren durfte und die mit der Aufgabe beauftragen Angestellten sorgfältig ausgewählt, angeleitet und überwacht hat (zusammenfassend BSG, Beschluss vom 02.09.2009 – B 6 KA 14/09 B -).
Ein Verschulden liegt in keiner der von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Untergruppen des Auswahl-, Organisations- und Überwachungsverschuldens und auch nicht in der Form einer schuldhaft falschen Einzelanweisung vor (vgl. hierzu Born, Die Rechtsprechung des BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, NJW 2005, 2047 f., sowie derselbe mit gleichem Titel, NJW 2007, 2088 f.).
Hinweise auf ein Auswahlverschulden bei Betrauung von Frau T. mit der Notierung von Fristen, Führung des Kalenders und Organisation der Wiedervorlagen, bietet der Sachverhalt nicht. Frau T. ist nach ihrer Ausbildung qualifiziert, langjährig erfahren und ein Fehler gleicher Art ist ihr nach ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 10.10.2008 bislang noch nicht unterlaufen.
Den Prozessbevollmächtigten des Klägers trifft auch kein Organisationsverschulden, in dem er ihrer Art nach nicht delegierbare Tätigkeiten delegiert hat. Insbesondere die Notierung und Überwachung von Fristen gehört zu den Tätigkeiten, die ein Anwalt einen hierzu befähigten Angestellten überlassen kann (BSG, Beschluss vom 02.09.2009, a.a.O. sowie Beschluss vom 28.12.1999, SozR 3 – 1500 § 67 Nr. 15).
Ein Organisationsfehler liegt auch nicht darin, dass die nicht im EDV-Kalender als Notfristen notierten Fristen bei ihrem Ablauf nicht anhand der Akten nochmals kontrolliert werden.
Zwar besteht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Verpflichtung des Rechtsanwaltes selbst, Fristen eigenverantwortlich zu prüfen, wenn die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung vorgelegt worden sind. Diese Verpflichtung entsteht mit der Vorlage der Akten selbst, nicht erst mit deren Bearbeitung und entfällt auch nicht durch Hinweis auf eine Anweisung an das Büropersonal, die Fristwahrung zu kontrollieren (Beschluss des BGH vom 06.02.2007 – VI ZB 41/06 -).
Dieser Fall liegt hier jedoch nicht vor. Die Handakte zum Fall des Klägers ist dem Prozessbevollmächtigten nicht vor Fristablauf vorgelegt worden, weil sich der bei Fehleintragung des Fristcharakters unterlaufene Fehler fortgesetzt hat. Den Fristcharakter hatte der Prozessbevollmächtigte jedoch aufgrund eigener Prüfung des Fristcharakters durch handschriftliche Verfügung bestimmt und lediglich die Übertragung in den Fristenkalender in zulässiger Weise übertragen.
Nach der Rechtsprechung muss der Prozessbevollmächtigte eine zuverlässige Fristenkontrolle organisieren, insbesondere einen Fristenkalender führen und dafür Sorge tragen, dass die Erledigung fristgebundener Sachen am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders überprüft wird. Er hat durch geeignete Anweisung sicher zu stellen, das die Berechnung einer Frist, ihre Notierung auf den Handakten, die Eintragung in dem Fristenkalender sowie die Quittierung der Kalendereintragung durch einen Erledigungsvermerk auf den Handakten von der zuständigen Bürokraft zum frühest möglichen Zeitpunkt und in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang vorgenommen werden. Dabei setzt eine wirksame Fristenkontrolle voraus, dass Fristen zur Einlegung und Begründung von Rechtsbehelfen deutlich als solche gekennzeichnet werden. Sie müssen so notiert werden, dass sie sich von gewöhnlichen Wiedervorlagefristen unterscheiden. Ein bestimmtes Verfahren ist insoweit jedoch weder vorgeschrieben noch allgemein üblich (Born, NJW 2005, 2042, 2046 m.w.N.).
Diese Vorkehrungen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nach seinem präzisen und in sich widerspruchsfreien Sachvortrag in Übereinstimmung mit den Angaben von Frau T. in der eidesstattlichen Versicherung vom 10.10.2008 getroffen.
Er war nicht darüber hinaus verpflichtet, seine Angestellten zur (eigenständigen) Prüfung der nicht als Notfrist gekennzeichneten Fristen bei deren Ablauf anhand der einzusehenden Handakte zu veranlassen.
Diese Prüfung liefe auf die inhaltliche Kontrolle einer spezifisch anwaltlichen Tätigkeit durch seine Büroangestellten hinaus und ist zur Überzeugung des Senats im Rahmen einer verlässlichen Büroorganisation und Fristenkontrolle nicht geboten (vgl. zur Überspannung der Anforderungen bei Nichteintragung des zuständigen – vom Rechtsanwalt selbst zu ermittelnden – Rechtsmittelgerichts im Fristenkalender, Beschluss des BGH vom 30.10.2008 – ZB 54/08 -, zum verfassungsrechtlichen Hintergrund Beschluss des BVerfG vom 01.08.1996 – 1 BvR 989/95 – m.w.N.).
Erstellt am: 02.02.2010
Zuletzt verändert am: 02.02.2010