I. Die Beklagte wird über ihr Anerkenntnis vom 09.09.2021 hinaus verurteilt, der Klägerin die gesamten Aufwendungen der Schulbeförderung in Höhe von 3.693,50 € für den Zeitraum September bis Dezember 2020 zu erstatten.
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II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
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III. Der Streitwert wird endgültig auf 3.693,50 € festgesetzt.
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T a t b e s t a n d :
\nDie Klägerin begehrt als Träger der Sozialhilfe von der Beklagten als gesetzlicher Krankenkasse Erstattung für die Gewährung spezieller Schulbegleitung für die bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte C. (geb. 2016 – im Weiteren: Versicherte).
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Die Versicherte, gesetzlich krankenversichert über ihre Eltern, leidet an einer Citrullinäme, einer Metabolischen Encephalopathie, einer globalen Entwicklungsverzögerung und einer MRSA-Besiedelung. Sie wohnt in C-Stadt und besucht seit dem Schuljahr 2019/2020 (hier: zwei Tage wöchentlich, Kostenübernahme der Schulbegleitung durch Klägerin) die F-Schule in K, im Schuljahr 2020/2021 im Umfang von fünf Tagen die Woche jeweils ca. vier Stunden.
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Am 18.05.2020 beantragte die Versicherte über ihre Eltern die Weitergewährung der Kostenübernahme einer SVE-Begleitung durch eine medizinische Fachkraft unter Vorlage entsprechender ärztlicher Unterlagen (Verordnung vom 05.05.2020 und ärztliches Attest). Mit Schreiben vom 05.08.2020 gab das Pflegezentrum E ein Gebot für Schulwegbegleitung in Höhe von 41,50 € pro Stunde bei Abholung mit zwei Stunden Begleitzeit und beim Zurückbringen mit ebenfalls zwei Stunden Begleitzeit ab. Dem zugrunde lag eine Verordnung über häusliche Krankenpflege vom 05.05.2020 des behandelnden Kinderarztes für den Zeitraum vom 01.09.2020 bis 31.08.2021 mit häuslicher Behandlungspflege in Form von Herrichten der Medikamentenbox, Medikamentengabe, Krankenbeobachtung, Ernährungsbeobachtung mit fachgerechter Verabreichung der speziellen Diät über PEG sowie fach- und zeitgerechte Medikamentengabe.
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Die Klägerin lehnte die Kostenübernahme für eine Aufsichts- und Begleitperson mit Bescheid vom 26.08.2020 ab. Zur Begründung führte diese aus, dass keine Zuständigkeit für die Leistungserbringung bestehe. Zuständig sei der Schulaufwandsträger, der nach § 17 Abs. 3 S.1 AV-BayFG für die Organisation der Schülerbeförderung zuständig sei. Ein Widerspruch wurde zunächst nicht erhoben.
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In der Folge teilte die Regierung von Schwaben der Klägerin unter Verweis auf ein Rundschreiben mit, dass ein Kostenersatz durch den Schulaufwandsträger nicht in Betracht komme, sondern nur in den Fällen, in denen es um reines Aufsichtspersonal für alle Schüler im Bus bezüglich Anschnallen gehe. Kosten für Begleitpersonal, welche Maßnahmen direkt oder für ein bestimmtes Kind vornehmen sollen, sei keine Maßnahme der Schulbeförderung im Sinne der AV-BayFG.
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Mit Schreiben vom 06.11.2020 wurde die Überprüfung der Entscheidung beantragt unter Verweis auf ein Verfahren des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) vom 19.07.2018 – L 18 SO 249/17, in dem im anschließenden Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) der beklagte Bezirk die Leistung anerkannt habe. Mangels Einsicht der Klägerin stellte der Versicherte einen Eilantrag beim Sozialgericht Augsburg (Az.: S 20 SO 196/20 ER), in welchem die Klägerin schließlich die Kostentragung als erstangegangener Träger nach § 14 Abs. 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) anerkannte. Mit Bescheid vom 12.01.2021 gewährte die Klägerin der Versicherten daraufhin die Kostenübernahme für die individuelle Schulwegbegleitung und machte in der Folge Erstattung bei der Beklagten geltend.
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Mit Schreiben vom 15.01.2021 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab.
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Am 15.02.2021 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben und begehrt im Erstattungsstreit die Übernahme der Kosten der Schulwegbegleitung von der Beklagten als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die Kostenerstattung resultiere aus § 105 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Vorliegend handele es sich um häusliche Krankenpflege nach § 37 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Gemäß dem Gutachten des Kinderarztes vom 02.07.2020 sei im Rahmen des Schulbesuchs und Transports eine Begleitung durch eine medizinische Fachkraft zwingend notwendig. Die Rechnungen des Pflegedienstes in Höhe von 3.693,50 für den Zeitraum September 2020 bis Dezember 2020 werden vorgelegt.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, ihr die Aufwendungen in Höhe von 3.693,50 € im Zeitraum September bis Dezember 2020 zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Ein Leistungsanspruch der Beklagten sei nicht ersichtlich, insbesondere liege der Beklagten schon keine entsprechende ärztliche Verordnung vor.
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In der Folge hat die Klägerin die ärztliche Verordnung vom 05.05.2020 für den Zeitraum September 2020 bis August 2021 vorgelegt.
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Die Beklagte hat sich dahingehend geäußert, dass die Kosten für die viermal tägliche Medikamentengabe (über PEG) anerkannt werde. Dies entspreche je Schultag einem Betrag von 14,32 € (viermal Position 6a1 – 3,58 €).
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Die Klägerin hat erwidert, dass sich bereits die 19. Kammer des Sozialgerichts zum Az.: S 19 SO 201/20 ER in einem gleich gelagerten Fall eindeutig zur Leistungspflicht der Krankenkasse in Fällen der medizinischen Schulwegsbegleitung positioniert hat. Das nunmehrige Angebot der Beklagten decke den Bedarf nicht ab. Für die Klägerin sei es schwer nachzuvollziehen, dass die Sozialhilfekammern des SG Augsburg in Fällen der medizinischen Schulwegbegleitung ihr eine Vorleistung aufdrängten, trotz des Hinweises, dass ziemlich sicher die Krankenkassen zuständig seien.
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Die Beklagte hat eingewandt, dass medizinisch notwendig lediglich die Medikamentengabe gewesen sei. Für die Schulbusbegleitung habe kein Anspruch bestanden. Es habe auch kein Anspruch auf Krankenbeobachtung im Sinne der HKP-Richtlinien bestanden.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Dr. D. zur Notwendigkeit der Schulbegleitung durch eine medizinische Fachkraft. Dieser hat in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 07.03.2022 dargelegt, dass es sich bei der Erkrankung der Versicherten nicht um eine milde Verlaufsform handele. Es bestehe die Gefahr einer Stoffwechselentgleisung, welche durch eine Anpassung der Nahrungszufuhr über die PEG-Sonde zu behandeln sei. Eine Stoffwechselentgleisung könne etwa durch eine Zufuhr stark proteinhaltiger Speisen (zB durch das Teilen auf dem Schulweg) drohen, was lebensbedrohlich werden könne. Aufgabe einer qualifizierten Fachkraft sei das frühzeitige Erkennen von Symptomen und das Gegensteuern, was ein Laienhelfer nicht leisten könne. Ein reiner Individualbegleiter oder Busaufsichtsperson könne die Maßnahmen nicht ausreichend durchführen.
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Die Beklagte hat gegen das Gutachten Einwendungen erhoben. Es sei ein Telefonat mit der Mutter der Versicherten geführt worden. Nach Auskunft der Mutter hätten die Kontrolltermine der Tochter in der Kinderklinik keine Auffälligkeiten ergeben, sie entwickle sich gut. Notfallmedikamente gebe es keine. Das Hauptaugenmerk liege auf der Ernährung, Notfälle seien noch nie aufgetreten. Die Krankenschwester sei im Bus mit dabei, da auf dem Schulweg die Gefahr des Erbrechens bestehe, was bisher aber noch nie der Fall gewesen sei. Vor diesem Hintergrund werde keine tägliche lebensbedrohliche Notfallsituation gesehen, welche die spezielle Krankenbeobachtung im Sinne der HKP-Richtlinien rechtfertigen könnte. Es bestand und es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr, auch nicht während der Schulbusfahrten. Es müsse lediglich die Ernährung überwacht werden, was von einer allgemeinen Aufsicht geleistet werden könne. Die Überwachung der Ernährung unterfalle außerdem nicht der GKV, sondern sei eine Grundpflege, wonach die Leistung der Pflegeversicherung zugeordnet werden müsste. Behandlungspflege in Form von Medikamentengabe sei bereits anerkannt worden. Der darüber hinaus gehende Erstattungsanspruch sei abzulehnen. Eine weitere Stellungnahme des MDK wird vorgelegt.
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Sowohl Beklagte als auch Klägerin haben sich in der Folge nochmals rechtlich geäußert. Im Übrigen haben beide Beteiligten ihr schriftliches Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt.
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Für den weiteren Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die Gerichts- und die Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
\nDie beim zuständigen Gericht erhobene Klage, über die im Einverständnis beider Beteiligten nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden wird, ist zulässig und vollumfänglich begründet.
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Maßgeblich ist vorliegend ein Kostenerstattungsanspruch nach § 105 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Hat hiernach ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1 vorliegen, ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
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Die Klägerin war vorliegend gegenüber der Versicherten nach § 14 SGB IX wegen eines – unstreitig – nicht weitergeleiteten Antrags vollumfänglich zuständig geworden. Die von der Versicherten beantragte Leistung einer Schulbegleitung ist grundsätzlich eine mögliche Leistung zur Teilhabe im Sinne des § 14 SGB IX. Diesen Antrag hat die Klägerin als erstangegangener Träger nicht weitergeleitet. Es kann vorliegend dahin gestellt bleiben, ob es sich bei der begehrten Leistung auch nach dem Leistungsrecht des SGB V um eine Rehabilitationsleistung handelt; denn § 14 SGB IX gilt seiner Intention nach auch in den Fällen, in denen eine Leistung beantragt wird, die von einem anderen in § 6 SGB IX genannten Träger als Rehabilitationsleistung zu erbringen wäre, wenn wie hier der erstangegangene Leistungsträger jedenfalls Rehabilitationsträger iSd § 6 SGB IX ist (BSG 29.09.2009, B 8 SO 19/08 R, SozR 4-3500 § 54 Nr 6 = juris Rn 12).
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Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich bei den vom Versicherten in Anspruch genommenen Leistungen um gemäß § 2 Abs. 1 SGB XII vorrangige Leistungen der Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 S. 1 des Fünften Sozialgesetzbusches (SGB V) und nicht um Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem 6. Kapitel des SGB XII.
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Nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist.
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Nach § 19 Abs. 3 SGB XII wird Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem 6. Kapitel dieses Buches geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels dieses Buches nicht zu-zumuten ist.
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Die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem 6. Kapitel des SGB XII einerseits und Leistungen der Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 SGB V verfolgen unterschiedliche Ziele. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gehören zur Behandlungspflege alle Pflegemaßnahmen, die durch bestimmte Erkrankungen erforderlich werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden (BSG, Urteil vom 13. Juni 2006, Az.: B 8 KN 4/04 KR R). Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es hingegen, wie aus § 53 Abs. 3 SGB XII folgt, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Ziel der Leistungen ist gemäß § 53 Abs. 4 S.1 SGB XII i. V. m § 55 Abs. 1 SGB IX einerseits, den Menschen, die auf Grund ihrer Behinderung von (Teil-)Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt sind, den Zugang zur Gesellschaft zu ermöglichen, andererseits aber auch den Personen, die in die Gesellschaft integriert sind, die Teilhabe zu sichern, wenn sich abzeichnet, dass sie von gesellschaftlichen Ereignissen und Bezügen abgeschnitten werden (BSG, Urteil vom 19. Mai 2009, Az.: B 8 SO 32/07 R).
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Die Abgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Behandlungspflege hat somit nach der Zielrichtung der Leistung zu erfolgen (LSG Hessen, Beschluss vom 29. Juni 2011, Az.: L 6 SO 57/11 B ER). Dient die Leistung der Bewältigung von Anforderungen des Schulalltags, ist der Bedarf der Eingliederungshilfe nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII zuzuordnen. Handelt es sich um die Notwendigkeit, die körperliche Situation zu beobachten und ggf. in medizinisch-pflegerischer Hinsicht zu intervenieren, so handelt es sich um Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V.
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Nach § 37 Abs. 2 S. 1, 1. Halbsatz SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (sog Behandlungssicherungspflege). Der krankenversicherungsrechtliche Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungssicherungspflege besteht neben dem Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung. Zur Behandlungssicherungspflege gehören alle Pflegemaßnahmen, die nur durch eine bestimmte Krankheit verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden (krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, vgl. BSG Sozialrecht -SozR- 3-3300 § 14 Nrn. 2, 3 und 11; BSG SozR 3-2500 § 37 Nrn. 1 und 5). Die Hilfeleistungen umfassen Maßnahmen verschiedenster Art wie z. B. Injektionen, Verbandwechsel, Katheterisierung, Einläufe, Spülungen, Einreibungen, Dekubitusversorgung, Krisenintervention, Feststellung und Beobachtung des jeweiligen Krankenstandes und der Krankheitsentwicklung, die Sicherung notwendiger Arztbesuche, die Medikamentengabe sowie die Kontrolle der Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten (BSG SozR 4-2500 § 37 Nr. 6 m. w. N.). Zum häuslichen Bereich gehört nach der jüngeren Rechtsprechung des BSG (vgl. SozR 3-2500 § 37 Nr. 5 m. w. N.) auch die Schule.
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Die ständige Beobachtung eines Patienten, um jederzeit medizinisch-pflegerisch eingreifen zu können, wenn es z.B. zu Verschlechterungen der Atmungsfunktion und zu Krampfanfällen kommt, ist eine behandlungspflegerische Maßnahme (BSG SozR 4-2500 § 37 Nr. 6). Der Begriff der Behandlungspflege darf nicht auf die aus der Krankenbeobachtung resultierenden konkreten situationsangemessenen Einzelmaßnahmen, wie Absaugen und Medikamentengabe, reduziert werden. Die häusliche Krankenpflege lässt sich nicht in die jeweils gebotenen Pflegemaßnahmen, für die sie eintreten will, und in die Beobachtungszeit aufteilen, für die die Antragsgegnerin eine Leistungspflicht ablehnt. Zwar lässt es das BSG in der o. g. Entscheidung dahinstehen, unter welchen Umständen eine allgemeine Krankenbeobachtung eine Leistung der häuslichen Krankenpflege sein kann, wenn ärztliche oder pflegerische Maßnahmen zur Abwendung von Krankheitsverschlimmerungen eventuell erforderlich, aber konkret nicht voraussehbar sind. Vorliegend sprechen aber viele Anhaltspunkte dafür, dass pflegerische Interventionen nicht nur möglicherweise, sondern mit Gewissheit erforderlich sind (vergleichbar: Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. August 2007 – L 16 B 43/07 KR ER -, Rn. 34, juris).
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Die Leistung einer speziellen Krankenbeobachtung nach Nr. 24 der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von „häuslicher Krankenpflege“ nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 und Abs. 7 SGB V vom 16. Februar 2000 (BAnz Nr 91 vom 13. Mai 2000) in der Fassung der Änderung vom 15. Februar 2005 (BAnz Nr. 96 S. 7969) – HKP-Richtlinien – ist verordnungsfähig, – wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit sofortige pflegerische/ärztliche Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich ist und nur die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden können.
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Ein derartiger Fall ist bei der Versicherten anzunehmen. Wie der gerichtliche Gutachter überzeugend ausführt, leidet die Versicherte an einer Citrullinämie Typ I und hierbei nicht an einer milden Verlaufsform. Es handelt sich um einen Gendefekt, welcher zu Erbrechen, Durchfall, Reaktionsverlangsamung, Krampfanfällen etc. führen kann im Fall einer Stoffwechselentgleisung. Auch wenn ein derartiger Fall gemäß den Einwänden der Beklagten bislang noch nicht aufgetreten ist, so besteht nicht nur eine hypothetische Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Fall bei der Versicherten auf dem Schulweg eintritt. Gerade die Schwierigkeit rund um die Ernährung und die diesbezüglich auch noch wenig ausgeprägte Einsicht bei der jungen Versicherten lassen das Risiko, dass auf dem Schulweg durch das Essen falscher Nahrung eine Entgleisung mit sofortigem Handlungsbedarf auftritt, deutlich erhöht. Insofern hat der Gutachter auch umfassend dargelegt, dass ein Eingreifen im Falle einer Entgleisung des Stoffwechsels nicht durch einen bloßen Schulbegleiter erfolgen kann, sondern dass dies durch eine medizinisch geschulte Kraft erfolgen muss. Auch die Medikamentengabe, welche ja grds. von der Beklagten anerkannt wird, muss durch eine medizinisch geschulte Kraft erfolgen. Wie die Beklagte bei der Mutter in Erfahrung gebracht hat, schwingt auch bei dieser regelmäßig die Angst mit, dass sich die Versicherte auf dem Schulweg erbricht – selbst wenn dies bislang noch nicht vorgekommen ist. Gerade ein Erbrechen erfordert bei der vorliegenden Erkrankung die sofortige Intervention einer geschulten Kraft.
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Selbst wenn man annehmen wollte, dass die hier zu erbringende Leistung nicht unter den genauen Wortlaut der HKP-Richtlinie (betreffend die Frage der lebensgefährlichen Situationen) zu subsummieren ist, so steht dies einem Leistungsanspruch nicht entgegen.
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In Abschnitt I Nr. 3 der HKP-Richtlinien heißt es zwar, die verordnungsfähigen Maßnahmen würden in der Anlage aufgeführt; dort nicht genannte Maßnahmen seien als häusliche Krankenpflege nicht verordnungsfähig. In der Anlage wird unter Nr. 24 nur eine spezielle Krankenbeobachtung genannt. Diese soll nur bei akuten Verschlechterungen einer Krankheit zur Kontrolle der Vitalfunktionen begründet sein, während die allgemeine Krankenbeobachtung Bestandteil jeder pflegerischen Leistung sei. Die Richtlinien sehen also eine enumerative Aufzählung und Beschreibung der verordnungsfähigen Leistungen vor, die eine dauernde Krankenbeobachtung – bei Verneinung einer ständig mögliche lebensbedrohlichen Situation – in der hier erforderlichen Form nicht erfassen würden.
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Das BSG (SozR-4 2500 § 37 Nr. 6) hat allerdings klargestellt, dass dies einem Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Krankenbeobachtung nicht entgegensteht. Zwar handele es sich bei den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V um untergesetzliche Normen, die auch innerhalb des Leistungsrechts zu beachten seien (grundlegend BSG SozR 3-2500 § 92 Nrn. 6 und 7; im Anschluss daran etwa BSG SozR 3-2500 § 103 Nr. 2 und § 27 Nr. 9). Ein Ausschluss der im Einzelfall gebotenen Krankenbeobachtung aus dem Katalog der verordnungsfähigen Leistungen verstoße jedoch gegen höherrangiges Recht. Ebenso wenig wie der Gemeinsame Bundesausschuss ermächtigt sei, den Begriff der Krankheit in § 27 Abs. 1 SGB V hinsichtlich seines Inhalts und seiner Grenzen zu bestimmen (BSG SozR 3-2500 § 27 Nr. 11), sei er befugt, medizinisch notwendige Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege auszunehmen. Die HKP-Richtlinien könnten die Gerichte insoweit nicht binden (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. August 2007 – L 16 B 43/07 KR ER -, Rn. 37, juris)
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Selbst bei Verneinung einer ständig präsenten lebensgefährlichen Situation für die Versicherte ist daher nach Auffassung der Kammer die Leistungspflicht der Beklagten zu bejahen, da – wie der gerichtliche Gutachter umfassend und überzeugend dargelegt hat – die nötigen Maßnahmen schlicht nicht von einer bloßen Integrationsfachkraft übernommen werden können und das Risiko des Eintritts einer für die Versicherte lebensgefährlichen Situation bei der hier vorliegenden Erkrankung schlicht nicht nur fiktiv besteht, sondern präsent ist. Dass bislang keine derartige Situation eingetreten ist, steht dem nicht entgegen und ist vor allem auch dem Umstand geschuldet, dass im häuslichen Umfeld und auf dem Schulweg stets eine Person anwesend ist, die auf rechtzeitiges Handeln geschult ist, sodass eine lebensgefährliche Lage gar nicht erst eintritt (die medizinische Fachkraft sorgt im Übrigen für die medikamentöse Versorgung auf der Fahrt). Die Versicherte ist nicht darauf zu verweisen, dass sie mit ihrem schwerwiegenden Krankheitsbild zunächst in eine lebensbedrohliche Lage auf dem Schulweg kommen muss – mit dem Risiko diese dann ggf. nicht zu überleben – bevor eine Leistungspflicht der Beklagten bejaht werden kann. Wie oben dargelegt, besteht bei der Versicherten der Bedarf hinsichtlich Medikamentengaben und dies erfolgt über die Sonde, was nicht von einem medizinisch ungeschulten Begleitpersonal übernommen werden kann.
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Der weitere Einwand der Beklagten, dass es sich bei der Überwachung der Ernährung um eine Leistung der Grundpflege handele, welche dann zu Lasten der Pflegeversicherung zu erbringen sei, trägt nicht. Es kommt im vorliegenden Fall schließlich nicht maßgeblich darauf an, wie die Versicherte ihr Essen zu sich nimmt, sondern dass überwacht wird, ob sie grds. welches zu sich nimmt und im Übrigen eine Überwachung besteht, ob sie auf das noch zuhause eingenommene Frühstück negativ, etwa durch Übergeben und Stoffwechselentgleisung, reagiert. Dies hat mit den in der Pflege beinhalteten Maßnahmen der Ernährung nichts zu tun.
\nAus der mit Wirkung zum 29.10.2020 neu eingeführten Vorschrift des § 37c SGB V ergibt sich keine andere Einschätzung, als bereits ausgeführt wurde. Insbesondere tritt die in diesem Zusammenhang neu erlassene Richtlinie erst zum 01.01.2023 in Kraft. Bis dahin gelten die oben aufgeführten Regelungen der HKP-Richtlinie und damit auch für diesen Fall weiter.
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Zusammenfassend war die Beklagte über das bislang schon abgegebene Anerkenntnis hinaus vollumfänglich zur Leistungserbringung zu verurteilen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
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Der Streitwert war nach der mit der Klage geltend gemachten Klageforderung festzusetzen, denn gemäß § 197a SGG in Verbindung mit § 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz (GKG) ist bei einer Klage auf eine bezifferte Geldleistung deren Höhe maßgebend. Die geltend gemachten Zinsen waren gemäß § 43 Abs. 1 GKG nicht zu berücksichtigen.
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Erstellt am: 10.08.2022
Zuletzt verändert am: 10.08.2022