Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Zuerkennung der Merkzeichen AG und RF.
Mit Bescheid vom 23.04.2008 hatte der Beklagte bei dem 1933 geborenen Kläger einen GdB von 80 und die Merkzeichen G und B zuerkannt. Nach der gutachtlichen Stellungnahme vom 05.03.2008 lagen dabei ein Zustand nach Schlaganfall mit einem Einzel-GdB von 80 und ein Diabetesleiden mit einem GdB von 20 zu Grunde.
Auf Änderungsantrag des Klägers vom 11.02.2013 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 09.07.2014 auf Grund einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse gemäß § 48 SGB X einen GdB von 100 und die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs H (Hilflosigkeit) fest. Die Zuerkennung der Merkzeichen AG und RF lehnte der Beklagte zugleich ab, da das Gehvermögen des Klägers nicht in schwerstgradigem Maße eingeschränkt sei und der Kläger an geeigneten öffentlichen Veranstaltungen weiterhin teilnehmen könne. Nach der gutachtlichen Stellungnahme vom 13.06.2014 und dem nervenärztlichen Gutachten von Dr. S vom 28.05.2014 berücksichtigte der Beklagte dabei Hirndurchblutungsstörungen, Schlaganfallfolgen, Halbseitenlähmung links, Gangstörung mit einem Einzel-GdB von 80, Diabetes mellitus, Polyneuropathie mit einem GdB von 20, Funktionsstörungen der Hüft- und Kniegelenke mit einem GdB von 20, Wirbelsäulenverschleißleiden, Fehlhaltung der Wirbelsäule mit einem GdB von 20, Harnblasenentleerungsstörung mit einem GdB von 20 und Bluthochdruck mit einem GdB von 10.
Mit Widerspruch vom 22.07.2014 beanspruchte der Kläger die Merkzeichen AG und RF, da er zu seiner Fortbewegung, zum Windelwechsel und zum Be- und Entkleiden auf fremde Hilfe angewiesen sei. Die Bewältigung von Treppen und unebenen Wegen sei gutachtlich nicht geprüft worden. Gestützt auf weitere gutachtliche Stellungnahmen von Frau Dr. X wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12.08.2014 zurück. Zusätzliche Berücksichtigung fand bei den Verwaltungsentscheidungen die Befund- und Behandlungsberichte von Internist Dr. C, Orthopäde Dr. C2 und Nervenarzt Dr. S2 sowie das für die Knappschaft-Bahn-See erstellte Pflegegutachten des Dr. S3 vom November 2013, in dem ein Grundpflegebedarf von 124 Minuten täglich und Pflegestufe II ausgewiesen waren.
Mit der am 10.09.2014 eingelegten Klage macht der Kläger Merkzeichen AG und RF unter Hinweis auf seine schwerwiegende Gehbehinderung und das Urininkontinenzleiden geltend. Zudem hat er mit Fotos auf Sturzfolgen hingewiesen, die durch die ausgeprägte Gehbehinderung bedingt seien.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 09.07.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.08.2014 zu verurteilen, die Merkzeichen aG und RF zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat eine sozialmedizinische Begutachtung des Klägers im Rahmen eines Hausbesuches durch Dr. I veranlasst. In seinem Gutachten vom 05.08.2015 führt der Sachverständige ausgehend von den Behinderungen einer Halbseitenlähmung, Polyneuropathie und Gleichgewichtsstörungen mit einem Einzel-GdB von 100, Urininkontinenz nach den anamnestischen Verhältnissen mit einem Einzel-GdB von 30, Diabetes mit einem GdB von 20 und Wirbelsäulenleiden mit einem GdB von 10 aus, dass der Kläger unter Nutzung des Rollators eine zusammenhängende Wegstrecke von bis zu 100 m und von 200 – 300 m mit Pausen bewältigen könne. Große körperliche Anstrengung ergebe sich mit zunehmender Gehstrecke, die schließlich zur Unterbrechung des Gehvorganges führe. Die Einschränkung des Gehvermögens sei nicht vergleichbar weitreichend wie bei dem berechtigten Personenkreis. Der Kläger könne auch eine Reihe öffentlicher Veranstaltungen aufsuchen, wobei die Urininkontinenz nicht nachweislich entgegenstehe. Wegen der Einzelheiten nimmt das Gericht auf das Gutachten Bezug.
Der Kläger verbleibt bei der Auffassung, dass sein Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sei. Wegen eines Gesamtaufwandes von zwei Stunden könne er auch nicht an den meisten öffentlichen Veranstaltungen wie Kino, Oper, Schauspiel oder Konzerten teilnehmen, zumal die Inkontinenz nicht zumutbar mit Windelhosen auszugleichen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, auf die Vorprozessakte S 2 SB 741/11 und auf die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist unbegründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beschwert, denn er hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Merkzeichen AG und RF.
Gemäß § 69 Abs. 1 und 4 des 9. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB IX) stellt die zuständige Behörde auf Antrag des behinderten Menschen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen wie den beantragten Merkzeichen AG und RF fest.
Für das Merkzeichen der außergewöhnlichen Gehbehinderung, AG, trifft § 146 Abs. 3 SGB IX seit Ende 2016 folgende Regelungen: Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht. Eine erhebliche Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind. Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörung sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter Satz 1 genannten Beeinträchtigungen gleichkommt. Nach der bisherigen zusammenfassenden Umschreibung in Teil D 3. der versorgungsmedizinischen Grundsätze (VmG) sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit großer Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihrer Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Stellungnahme dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes dazu ist maßgebend für die Gleichstellung mit dem berechtigten Personenkreis nicht allein die Höhe des Gesamtbehinderungsgrades oder der das Gehvermögen betreffenden Einzelbehinderung, sondern das Ausmaß der Einschränkungen der körperlichen Fähigkeit zu gehen. In einer funktionalen Betrachtungsweise sind die Schädigungen des Bewegungsapparates, insbesondere der unteren Extremitäten hinsichtlich ihrer Auswirkungen für die Gehfunktion dahingehend zu bewerten, ob durch sie die Fortbewegungsfähigkeit beim Gehen auf das Schwerste, in ungewöhnlich hohem Maße beeinträchtigt oder ausgeschlossen ist (vgl. z. B. BSG Urteil vom 27.02.2012 – B 9 SB 9/01 R). Entscheidendes Kriterium für eine außergewöhnliche Gehbehinderung ist nach beiden Vorgaben nicht in erster Linie die Länge der noch zu bewältigenden Strecke, sondern die besondere Schwere der Gehstörung, die das Zurücklegen kurzer Wegstücke nur unter größter Anstrengung oder nur mit wesentlicher fremder Hilfe, mithin auf eine unzumutbare Art und Weise gestattet.
Nach Auswertung des Gutachtens von Dr. I steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger nach den genannten Maßstäben nicht außergewöhnlich gehbehindert ist. Das Gehvermögen des Klägers ist zwar weitreichend und erheblich durch den Folgezustand nach Schlaganfall mit Halbseitenlähmung, Polyneuropathie und Gleichgewichtsstörungen eingeschränkt, allerdings nicht in dem geforderten Ausmaß, wonach eine Fortbewegung nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung von Anfang an im Sinne der erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung möglich ist. Dr. I hat dazu dargelegt, dass der Kläger keine körperliche Unterstützung des Gehvorganges in der Ebene durch eine andere Person benötigt. Er könne sich unter Nutzung seines Rollators sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnung aus eigener Kraft mit einem verlangsamten Gangbild und deutlichem Nachziehen des linken Beines fortbewegen. Im Rahmen der Untersuchung beobachtete der Sachverständige eine problemlos bewältigte Gehstrecke von 40 m. Unter Berücksichtigung der physiologischen Einschränkungen des Bewegungsapparates und der das Gehvermögen betreffenden Anamnese leitet der Sachverständige eine zusammenhängende Wegstrecke von bis zu 100 m ab, die erst zum Ende hin durch eine sich aufbauende Erschöpfung infolge zunehmender Anstrengung ein Pausieren verlangt. Eine schwerstgradige Einschränkung des Gehvermögens, wie bei dem in den versorgungsmedizinischen Grundsätzen beispielshaft angeführten berechtigten Personenkreis, besteht bei dem Kläger hingegen nicht. Sowohl hinsichtlich der erforderlichen Anstrengungen als auch in Bezug auf die konkrete Bewältigung der Gehbewegungen und die zu erwartende Streckenlänge sei der Kläger eindeutig besser gestellt als der berechtigte Personenkreis. Der Hinweis des Klägers auf gravierende Sturzfolgen und vermehrte Sturzneigung führt nicht zu einer anderen Einschätzung der Kammer, zumal einzelne Stürze und deren Folgen nicht den Schluss auf ein ständig auf das Schwerste eingeschränktes Gehvermögen, mithin auf eine weiter reichende Einschränkung des Gehvermögens zulassen. Eine besondere Hinfälligkeit des Klägers, die eine Einlassung auf den Gehvorgang per se unzumutbar machen würde, ist weder gutachtlich aufgezeigt worden noch war sie der Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung ersichtlich.
Der Kläger erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens RF für die Rundfunkgebührenverminderung. Zu dem berechtigten Personenkreis gehören behinderte Menschen mit einem GdB von wenigstens 80, die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z. B. Rollstuhl) ständig nicht teilnehmen können. Als verhindert gelten auch behinderte Menschen, die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend und störend wirken (z. B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem künstlichem Ausgang, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche etwa bei Asthmaanfällen). Die behinderten Menschen müssen allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet.
Nach den Ausführungen von Dr. I ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger unter Nutzung seiner Restmobilität und geeigneter Inkontinenzartikel an einer Auswahl öffentlicher Veranstaltungen teilnehmen kann. Soweit die konkreten Örtlichkeiten die Bewältigung längerer Gehstrecken verlangen würden, könnte sich der Kläger eines Rollstuhls und einer Begleitperson bedienen. Seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen stehen einem derart gestalteten Aufenthalt beispielsweise in Museen, bei öffentlichen Vorträgen, bei Musik- oder Kirchenveranstaltungen nicht entgegen. Wie der Sachverständige ausführt, lässt sich die Urininkontinenz zu dem Veranstaltungszweck durch die Nutzung von Windelhosen ausgleichen. Soweit sich durch Blasenvorentleerung und eine zeitliche Anpassung des Trinkverhaltens der unwillkürliche Urinabgang nicht im Einzelfall verhindern lässt, kann dieser mit handelsüblichen Windelhosen aufgefangen werden, ohne dass es nachvollziehbar zu einer unangemessenen Geruchsbelästigung bis zum jeweiligen Wechsel oder bis zum Ende der Veranstaltung kommt. Handelsübliche Windelhosen mit einem Fassungsvermögen von rund 3000 ml unter Laborbedingungen und rund 1500 ml in der praktischen Anwendung (vgl. z. B. die Veröffentlichung des Selbsthilfeverbandes Inkontinenz e.V. "Windeln bei Inkontinenz") nehmen ohne Weiteres eine wiederholte Blasenentleerung auf. Bei einer üppigen Gesamtflüssigkeitsaufnahme von drei Litern pro 24 Stunden-Tag bzw. in 16 Wachstunden ergibt sich eine durchschnittliche Ausscheidungsmenge von 125 ml pro Stunde auf 24 Stunden und von knapp 190 ml bei vollständiger Ausscheidung über 16 Stunden. Ohne zusätzliche Gestaltung durch Vorentleerung oder zeitlich angepasstes Trinkverhalten ist danach über einen Zeitraum von 2,5 Stunden überschlägig mit einer Ausscheidungsmenge von nicht mehr als einem halben Liter zu rechnen, die weit unter der Aufnahmekapazität einer geeigneter Windelhose liegt. Danach ergeben sich für den Kläger erhebliche Spielräume, deutlich kürzere Veranstaltungen von beispielsweise einer Stunde Dauer nebst An- und Abfahrt zu besuchen. Darüber hinaus wäre es dem Kläger auch ohne Weiteres zumutbar, am Veranstaltungsort unter Nutzung einer großräumigen behindertengerechten Toilette einen Windelwechsel, ggf. mit Hilfe einer Begleitperson, vorzunehmen. Die Privatsphäre würde dabei gewahrt werden. Schließlich ist nicht ersichtlich, dass ein Urinabgang in geeignete Inkontinenzartikel zu sofortiger unzumutbarer Geruchsbelästigung für das Umfeld führen würde.
Die Kostenentscheidung gemäß § 193 SGG trägt der Erfolglosigkeit der Klage Rechnung.
Erstellt am: 06.08.2018
Zuletzt verändert am: 06.08.2018