Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20.08.2009 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in beiden Instanzen.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Gelsenkirchen vom 20.08.2009 ist zulässig, in der Sache jedoch unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237).
Das SG hat die Antragsgegnerin zu Recht einstweilen verpflichtet, den Antragstellern vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, längstens jedoch für sechs Monate, monatlich 1.226,01 Euro an Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ab dem 23.07.2009 zu bewilligen. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind hinreichend glaubhaft gemacht worden.
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit oder aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.
Den Antragstellern stehen bei der in Verfahren dieser Art gebotenen summarischen Prüfung Leistungen nach dem SGB II zu. Hinsichtlich des Antragstellers zu 2) ist dies zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin sind auch den Antragstellerinnen zu 1) und zu 3) Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Die Antragstellerin zu 1) hat das 15. Lebensjahr vollendet und noch nicht die Altersgrenze nach § 7a SGB II erreicht, ist erwerbsfähig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Die Antragstellerin zu 1) ist auch hilfebedürftig nach § 9 Abs. 1 SGB II. Sie verfügt über kein Einkommen und Vermögen.
Ob dem Anspruch der Antragstellerinnen die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht, lässt sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend feststellen. Nach dieser Vorschrift besteht ein Leistungsausschluss für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.
Zwar sind nach dem Wortlaut dieser Norm die Voraussetzungen für den Leistungsausschluss nach summarischer Prüfung erfüllt. Denn die Antragstellerinnen sind als niederländische Staatsbürger Ausländer. Sie zählen als EU-Bürger zu den sogenannten. "Alt-Unionbürgern" (vgl. hierzu Husmann, NZS 2009, 652, 655 f.; Husmann, NZS 2009, 547 ff.; Brühl-Schoch in LPK, 3. Auflage 2009, § 7 Rn. 22).
Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1) ergibt sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr.1 2. Alt. FreizügG/EU. Zwar hat die Antragstellerin zu 1) im Termin vom 27.01.2010 (S 20 AS 253/09) angegeben, zunächst einmal nach Deutschland gekommen zu sein, weil sie in den Niederlanden privat und beruflich unzufrieden gewesen sei. Sie sei hierher gezogen, um zu heiraten und mit dem Antragsteller zu 2) und ihrer Tochter hier zusammen als Familie zu leben. Dieser Vortrag ermöglicht keine andere vorläufige rechtliche Beurteilung. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FreizügG/EU sind freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige der Ehegatte und die Verwandten in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, die noch nicht 21 Jahre alt sind sowie die Verwandten in aufsteigender und absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, denen diese Personen oder ihre Ehegatten Unterhalt gewähren. Diese Voraussetzungen sind im Falle der Antragstellerin zu 1) im hier streitigen Zeitraum nicht erfüllt. Sie ist auch nicht als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin gemäß § 4 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt, denn sie verfügt gerade nicht über ausreichende Existenzmittel.
In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, die einen Leistungsausschluss ohne entsprechende Öffnungsklausel insbesondere für Alt-Unionsbürger normiert, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. (vgl. u.a. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.07.2008, L 7 AS 3031/08 ER-B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.06.2009, B 34 AS 790/09 B ER; SG Reutlingen, Urteil vom 29.04.2008, S 2 AS 2952/07; LSG NRW, Beschluss vom 16.07.2008, L 19 B 111/08 AS ER; Brühl/Schoch in LPK, § 7 Rn. 20 ff.; Schreiber info also 2008, 3 ff. und 2009, 195 ff.; Kunkel/Frey, ZFSH 07/2008, 387 ff.; Husmann, NZS 2009, 547 ff., 652 ff.; Hailbronner, ZFSH 2009, 195 ff.; Dr. Piepenstock, jurisPR-SozR, 23/09 Anm. 1). Diese Frage lässt sich im Eilverfahren nicht abschließend klären. Eine Vorlagepflicht der deutschen Gerichte an den Europäischen Gerichtshof, der für die Auslegung der hier in Betracht kommenden Art. 39 und 12 EGV zuständig ist, besteht indes nur für das Hauptsacheverfahren, nach h.M. aber nicht für das einstweilige Rechtsschutzverfahren. Unter Berücksichtigung der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung und des existenzsichernden Charakters der Leistungen nach dem SGB II ist nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts deshalb eine Folgenabwägung vorzunehmen.
Diese Folgenabwägung geht zugunsten der Antragsteller bzw. der Antragstellerinnen aus. Danach war den Antragstellern die Regelleistung einstweilen und vorläufig zu bewilligen. Dabei hat der Senat maßgeblich berücksichtigt, dass die Anspruchsvoraussetzungen insoweit nach derzeitigem Stand unstreitig vorliegen und der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für einen niederländischen Staatsangehörigen als Alt-Unionsbürger unter Berücksichtigung des primären EU-Rechts erheblichen Bedenken begegnen. Diese folgen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) insbesondere in den Verfahren Collins (Urteil vom 23.03.2004, C-138/02) und Vatsouras, Koupatantze (Urteil vom 04.06.2009, C-22/08 und C-23/08). Nach der Rechtsprechung des EuGH darf der Mitgliedsstaat die Gewährung einer Beihilfe davon abhängig machen, dass das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden zum Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wird. Diese kann sich u.a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedsstaat gesucht hat. Folglich können sich die Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten, die auf Arbeitsuche in einem anderen Mitgliedsstaat sind und tatsächlich Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll (EuGH, Urteil vom 04.06.2009, Rn. 38 ff.; Urteil vom 23.03.2004, Rn. 69 f jeweils zitiert nach juris). Zudem hat der EuGH darauf hingewiesen, dass es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und angesichts der Auslegung, die das Recht auf Gleichbehandlung erfahren hat, nicht mehr möglich sei, eine finanzielle Leistung, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaats erleichtern soll, vom Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots des Art. 39 EG, der eine Ausprägung des Art. 12 EG sei, auszunehmen.
Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt der arbeitsuchenden Antragstellerin zu 1) glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 1) lebt seit Januar 2009 in Deutschland und ist hier entsprechend gemeldet. Zusammen mit ihrer Tochter, der Antragstellerin zu 3), lebt sie bei ihrem Lebensgefährten und Verlobten, dem Antragsteller zu 2). Zuvor hatte sie nach einer Bescheinigung der Verwaltungskommission für soziale Sicherheit für Wanderarbeitnehmer (E 301) (NL) vom 18.09.2009 in den Niederlanden mehrere Versicherungszeiten zurückgelegt, zuletzt in dem Zeitraum vom 05.11.2007 bis 19.01.2009. Die Antragstellerin zu 1) ist auch auf Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland. Dies ergibt sich aus dem Vortrag der Antragsteller sowie aus den von der Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 10.12.2009 übersandten Beratungsvermerken.
Die Leistungsberechtigung der Antragstellerin zu 3) ergibt sich aus § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Danach erhalten Leistungen auch Personen, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Zur Bedarfsgemeinschaft gehören, wie vorliegend, auch die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II).
Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Sie haben glaubhaft gemacht, dass ohne die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Den Antragstellern ist es nicht zumutbar, die Entscheidung in der Hauptsache (S 20 AS 253/09) abzuwarten. Für den hier streitigen Zeitraum für die Dauer von sechs Monaten ab dem 23.07.2009 verfügten die Antragsteller nicht über die erforderlichen Mittel, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Zur weiteren Begründung bezüglich eines Anordnungsgrundes und der Höhe der Höhe der vom SG zugesprochenen Leistungen wird auf die zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Beschluss verwiesen, die sich der Senat nach Prüfung zu eigen macht (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Hinsichtlich des noch anhängigen Hauptsacheverfahrens weist der Senat bei einer Verurteilung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen auf die Rundungsvorschrift des § 41 Abs. 2 SGB II hin.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Erstellt am: 03.05.2010
Zuletzt verändert am: 03.05.2010