Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 26.03.2015 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit ab dem 01.03.2015 bis zum 31.08.2015, längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, vorläufig Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs in Höhe von monatlich 399,00 EUR sowie vorläufig Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 383,00 EUR nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. Der Antragstellerin wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt L, I, bewilligt. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für beide Rechtszüge zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt L, I, bewilligt.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Verpflichtung des Antragstellers zur Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Die am 00.00.1986 geborene Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Die Antragstellerin ist seit März 2012 in dem Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners gemeldet. Aktuell bewohnt sie eine Wohnung in der H-straße 00 in S. Hierfür zahlt sie monatlich eine Grundmiete in Höhe von 245,00 EUR, Vorauszahlungen auf die Betriebskosten in Höhe von monatlich 80,00 EUR sowie Vorauszahlungen für die Heizkosten in Höhe von monatlich 58,00 EUR (insgesamt 383,00 EUR).
Die Antragstellerin stand zunächst vom 01.01.2012 bis 31.08.2012 in einem Beschäftigungsverhältnis. Der monatliche Brutto-/Nettoverdienst belief sich auf 320,00 EUR. Von Mai 2013 bis Juli 2013 stand sie erneut in einem Beschäftigungsverhältnis, wobei sich der Bruttoverdienst auf 600,00 EUR belief. Seit dem 01.08.2013 ist war sie nicht mehr beschäftigt.
Am 13.01.2012 wurde die Antragstellerin während ihrer Arbeit Opfer eines Überfalls, wobei sie mit einem Messer bedroht wurde. Hieraus resultierten eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine depressive Episode. Die Antragstellerin war 2015 für ca. 3 Monate in der LWL Klinik in I1 untergebracht. Die die Klägerin behandelnden Ärzte regten mit Schreiben vom 21.01.2015 auf Grund des psychischen Zustandes der Antragstellerin die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung nach § 1896 Abs. 1 BGB an. Mit Beschluss vom 11.02.2015 bestellte das Amtsgericht S für Wohnungsangelegenheiten, Vermögensangelegenheiten, Vertretung bei Behörden und Ämtern, der Befugnis zum Empfang von Post und sozialrechtlichen Angelegenheiten eine Betreuerin.
Auf Grund eines gerichtlichen Vergleichs in einem Verfahren vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen (Az.: S 31 AS 2415/14 ER) bewilligte der Antragsgegner der Antragstellerin mit Bescheid vom 05.11.2014 für die Zeit vom 01.09.2014 bis zum 28.02.2015 vorläufig Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs in Höhe von 391,00 EUR.
Am 02.02.2015 beantragte die Antragstellerin die Weiterbewilligung der Leistungen. Diesen Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 12.02.2015 ab. Die Antragstellerin sei von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da sie sich nur zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte. Hiergegen legte die Antragstellerin am 23.02.2015 Widerspruch ein, über den bisher noch nicht entschieden worden ist.
Am 16.03.2015 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Gelsenkirchen einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt L gestellt.
Mit Beschluss vom 26.03.2015 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Die Antragstellerin sei von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Sie halte sich nach eigenen Angaben zur Arbeitsuche in Deutschland auf. Nach dem Urteil des EuGH vom 11.11.2014 in der Rechtssache E stünden weder das Gleichbehandlungsgebot noch die Grundfreiheiten nach Art. 18 und 20 AEUV dem Leistungsausschluss entgegen. Die Antragstellerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie trotz ihres Aufenthaltsstatus als arbeitsuchende Unionsbürgerin eine tatsächliche Verbindung zum inländischen Arbeitsmarkt habe. In der Vergangenheit sei die Antragstellerin nur wenige Monate geringfügig beschäftigt gewesen. Eine dauerhafte Verringerung der Bedürftigkeit habe die Antragstellerin hierdurch nicht bewirkt. Aktuell bestehe auch keine Verbindung zum inländischen Arbeitsmarkt. Darüber hinaus bestünden Zweifel am Anordnungsgrund. Es sei aufgrund des Aufenthalts der Antragstellerin in der LWL Klinik in I1 davon auszugehen, dass der Lebensunterhalt der Antragstellerin einstweilen gesichert sei.
Gegen den Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin vom 07.04.2015. Die Anwendung des Leistungsausschlusses sei vorliegend rechtswidrig. Sie habe im Jahr 2012 und im Jahr 2013 gearbeitet. Während ihrer Arbeit sei sie Opfer eines Raubüberfalls geworden. Aufgrund dieses Vorfalls sei sie regelmäßig arbeitsunfähig gewesen. Auch der Aufenthalt in der LWL Klinik in I1 sei eine Folge dieses Überfalls. Unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen seien ihr auch die Kosten für Unterkunft und Heizung im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zuzusprechen. Aktuell werde sie von ihrem Freund unterstützt, damit sie sich wenigstens etwas zu essen kaufen könne.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Der Antragstellerin sind Leistungen im tenorierten Umfang zu zahlen.
Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art. 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es – wie hier – im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht (vgl. Beschlüsse des Senats vom 22.01.2015 – L 7 AS 2162/14 B ER und vom 10.09.2014 – L 7 AS 1385/14 B ER). Ist eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, in die insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange des Antragstellers einzustellen sind (BVerfG, Beschlüsse vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 und 06.02.2013 – 1 BvR 2366/12; Beschluss des Senats vom 11.07.2014 – L 7 AS 1035/14 B ER).
Ob ein Anordnungsanspruch im Sinne eines im Hauptsacheverfahren voraussichtlich durchsetzbaren Anspruchs auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II glaubhaft gemacht war, muss offen bleiben. Zwar erfüllt die Antragstellerin die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, hat ihre Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht und den gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Zwar erscheint aufgrund der psychischen Erkrankung die Erwerbsfähigkeit zumindest fraglich. Allerdings ist der Antragsgegner – über den Wortlaut von § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II hinaus – ohnehin verpflichtet, auch bei Zweifeln an der Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin in Ermangelung einer Abstimmung mit dem Leistungsträger nach dem SGB XII Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erbringen (Urteil des Senats vom 23.04.2015 – L 7 AS 1451/14; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.04.2014 – L 19 AS 485/14 B ER; Beschluss des Senats vom 14.10.2010 – L 7 AS 1549/10 B ER; Blüggel, in: Eicher, SGB II, § 44a Rn 72; Knapp, in: JurisPK, SGB II, § 44a Rn. 71; in diesem Sinne bereits BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 7b AS 10/06 R).
Umstritten ist zwischen den Beteiligten allein, ob die Antragstellerin als Arbeitsuchende wirksam von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist.
Im Gegensatz zur Auffassung des Antragsgegners und des Sozialgerichts hat der EuGH die Frage der Wirksamkeit und Reichweite des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Urteil vom 11.11.2014 – Rechtssache "E" (C-333/13) – nicht abschließend geklärt. Diese Entscheidung des EuGH beruht ausdrücklich auf der Feststellung, dass Frau E sich nicht um Arbeit bemüht habe und es sich damit um eine Unionsbürgerin handele, die mit dem Ziel eingewandert sei, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen (Rn. 78 der Entscheidung). Diese Fallgestaltung ist auf die Antragstellerin, die bereits in Deutschland in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden hat und aufgrund des Überfalls während der Arbeit aktuell arbeitsunfähig ist, nicht vergleichbar.
Lediglich die Frage, ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt, hat der EuGH über die Fallgestaltung "E" hinausgehend bejahend beantwortet.
Eine Entscheidung des EuGH für Personen wie die Antragstellerin steht noch aus (BSG EuGH-Vorlage vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R; Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache Alimanovic). In seinem Schlussantrag vom 26.03.2015 zu diesem Verfahren empfiehlt der Generalanwalt X drei Fallgruppen zu unterscheiden (Rn. 87 des Schlussantrags):
1. Den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und sich dort weniger als drei Monate oder seit mehr als drei Monaten aufhält, ohne jedoch den Zweck der Arbeitsuche zu verfolgen (erste Fallgestaltung),
2. den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich zur Arbeitsuche in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt (zweite Fallgestaltung),
3. den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich seit mehr als drei Monaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält und dort eine Beschäftigung ausgeübt hat (dritte Fallgestaltung).
Die Antragstellerin unterfällt der dritten Fallgestaltung. Für diese empfiehlt der Generalanwalt dem EuGH (Rn. 126 des Schlussantrags), die Vorlagefrage des BSG dahingehend zu beantworten, dass Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die eine Arbeit im Aufnahmemitgliedstaat suchen, nachdem sie in den dortigen Arbeitsmarkt eingetreten waren, von bestimmten "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung 883/2004 automatisch und ohne individuelle Prüfung ausschließt, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
Nach diesen Ausführungen, die zwar für den EuGH nicht bindend sind, mindestens aber die Komplexität der Rechtslage verdeutlichen, ist eine Unwirksamkeit des Leistungsausschlusses gegenüber der Antragstellerin offen.
Da die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, nicht über bedarfsdeckende Mittel zu verfügen, liegt ein Anordnungsgrund vor. Der Anordnungsgrund ist auch hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu bejahen. Die Auffassung, ein Anordnungsgrund liege insoweit erst vor, wenn Wohnungs- und Obdachlosigkeit drohen, d.h. Räumungsklage erhoben wurde (u.a. noch Beschlüsse des Senats vom 10.09.2014 – L 7 AS 1385/14 B ER; vom 28.02.2013 – L 7 AS 306/13 B ER und vom 25.05.2012 – L 7 AS 743/12 B ER), hat der Senat aufgegeben (vgl. Beschluss vom 04.05.2015 – L 7 AS 139/15 B ER sowie Beschluss vom 07.05.2015 – L 7 AS 576/15 B ER). Die Versagung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung führt ansonsten unmittelbar und sogleich zu einer Bedarfsunterdeckung, die bei glaubhaft gemachter Hilfebedürftigkeit den Kernbereich des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums berührt (in diesem Sinne auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.01.2015 – L 6 AS 2085/14 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.01.2015 – L 11 AS 261/14 B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.07.2014 – L 10 AS 1393/14 BER, L 10 AS 1394/ B ER PKH).
Die Festsetzung des einstweiligen Leistungszeitraums orientiert sich an § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Die Antragsstellerin ist nicht in der Lage, die Kosten der Rechtsverfolgung zu tragen. Prozesskostenhilfe war daher für beide Instanzen zu bewilligen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Erstellt am: 30.06.2015
Zuletzt verändert am: 30.06.2015