Der Bescheid vom 22. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2001 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ausgehend von einer am 4. Juli 2000 eingetretenen Berufsunfähigkeit Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit. Der geborene Kläger wurde 1980 im Bergbau angelegt. Er brachte es bis zum Bohrhauer 2 in Lohngruppe 10. Ab 4. Juli 2000 war der Kläger arbeitsunfähig. Zum 30. Dezember 2000 kehrte er mit Aufhebungsvertrag ab. Seitdem ist er arbeitslos. Den Rentenantrag stellte der Kläger am 19. September 2000. Die Beklagte ließ, ihn von ihrem Sozialmedizinischen Dienst untersuchen. Die Internistin kam zu dem Ergebnis, der Kläger könne noch für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig eingesetzt werden. Mit Bescheid vom 22. Februar 2001 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit ab. Sie verwies den Kläger zum Ausschluß der Rente auf verschiedene Bergbautätigkeiten sowie die Tätigkeiten als Auslieferungsfahrer im Arzneimittelgroßhandel und als Kassierer an Selbstbedienungstankstellen. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2001 zurückgewiesen.
Daraufhin hat der Kläger am 14. November 2001 Klage erhoben. Zur Begründung trägt der Kläger im Wesentlichen vor, er sei aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, seinen Beruf als Bohrhauer zu verrichten. Zudem sei er sozial zumutbaren Verweisungstätigkeiten, die Berufsunfähigkeitsrente ausschließen könnten, gesundheitlich nicht mehr gewachsen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 22. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ausgehend -von einer am 4. Juli 2000 eingetretenen Berufsunfähigkeit Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist den Kläger zum Ausschluß der Berufsunfähigkeitsrente bis zur Abkehr nunmehr noch auf die Tätigkeiten als Verwieger 1 und 2 sowie Lampenwärter. Darüber hinaus könne der Kläger auch als Kassierer an Selbstbedienungstankstellen und als Auslieferungsfahrer im Arzneimittelgroßhandel arbeiten. Das Gericht hat Befundberichte eingeholt und von Amts wegen den Internisten Dr. und den Chirurgen vom Evangelischen Krankenhaus in mit Gutachten beauftragt. Die Sachverständigen sind zu dem Ergebnis gekommen, der Kläger könne noch vollschichtig leicht bis gelegentlich mittelschwer arbeiten. Ferner hat das Gericht eine Auskunft des Bergwerks Prosper-Haniel, der letzten Zeche des Klägers, eingeholt. In der Auskunft vom 17. Dezember 2002 wird im Wesentlichen angegeben, seit Juli 2000 habe keiner der wenigen Arbeitsplätze als Lampenwärter, Verwieger 1 und Verwieger 2 neu besetzt werden können. Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf die Streitakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide im Sinne von § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Zu Unrecht hat die Beklagte die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit abgelehnt … Der geltend gemachte Anspruch des Klägers richtet sich gemäß § 300. Abs. 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) noch nach der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung (SGB VI a.F.), denn der Anspruch auf Leistungen beginnt vor dem 31. Dezember 2000. Nach § 43 SGB VI a.F. erhält ein Versicherter bei Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen Rente wegen Berufsunfähigkeit, wenn seine Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Dabei beurteilt sich die Erwerbsfähigkeit nach dem Kreis der Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Diese Voraussetzungen sind bei dem Kläger erfüllt. Seine Leistungsfähigkeit wird im Wesentlichen durch folgende Gesundheitsstörungen herabgesetzt: degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Syndromen der Hals- und Lendenwirbelsäule bei Protrusionen im Bereich C4 bis C6 und L5/S1, beginnender Kniegelenksverschleiß, leichtgradige Einschränkung der Lungenfunktion. Der Kläger kann vollschichtig nur noch leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten verrichten. Heben kann er nur noch bis 10 Kilogramm. Arbeiten auf unebenen Boden, Arbeiten mit häufigem Bücken und Zwangshaltungen sind ihm nicht mehr zumutbar. Die Leistungsfähigkeit des Klägers ist bereits seit dem 4. Juli 2000 derartig herabgesetzt.
Die Kammer stützt sich insoweit auf die überzeugende Beurteilung der gerichtlichen Sachverständigen. Dr … und Dr … sind erfahrene Sachverständige, die ihre Gutachten nach sorgfältiger Anamneseerhebung und umfangreichen Untersuchungen erstattet haben. Eine unvollständige Befunderhebung oder unzutreffende Schlußfolgerungen sind nicht ersichtlich. Die Kammer hat keine Bedenken, der Beurteilung der Sachverständigen zu folgen. Soweit die im Verwaltungsverfahren gehörte Ärztin des Sozialmedizinischen Dienstes, Frau …, noch zu einem geringfügig besseren Leistungsvermögen gekommen ist, gibt die Kammer der Beurteilung der gerichtlichen Sachverständigen den Vorzug. Zum einen handelt es sich bei Dr … und Dr. um unabhängige Sachverständige, die nicht bei der Beklagten angestellt sind. Zum anderen liegen die Gesundheitsstörungen, die die Leistungsfähigkeit des Klägers im Wesentlichen einschränken, auf chirurgisch/orthopädischem Gebiet. Insofern ist Dr … zur Beurteilung der maßgeblichen Fragen besser berufen als Frau …, die Internistin ist. Mit dem festgestellten Leistungsvermögen kann der Kläger nicht mehr als Bohrhauer arbeiten, was auch die Beklagte nicht in Abrede stellt. Die Tätigkeit als Bohrhauer in Lohngruppe 10 stellt eine Facharbeitertätigkeit dar. Demnach ist Berufsunfähigkeitsrente beim Kläger nur dann nicht zu gewähren, wenn für ihn noch sozial zumutbare Verweisungstätigkeiten, also angelernte Tätigkeiten, in Frage kämen. Die von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten außerhalb des Bergbaus kommen für den Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in Betracht. Die Tätigkeit als Auslieferungsfahrer im Arzneimittelgroßhandel bringt eine Belastung durch Tragen bis zu 25 Kilogramm mit sich. Die Kammer stützt sich dabei auf die der Beklagten bekannte Auskunft des Bundesverbandes des pharmazeutischen Großhandels vom 26. März 1999 (L 2 KN 112/96).
Die Tätigkeit als Kassierer an Selbstbedienungstankstellen bringt das Tragen von Gewichten bis 20 Kilogramm mit sich; zudem treten gelegentlich Zwangshaltungen auf. Die Kammer stützt sich dabei auf die Arbeitsplatzbeschreibung der Beklagten. Die Kammer geht nicht davon aus, daß die Beklagte als Rentenversicherungsträger überzogene Anforderungen für Verweisungstätigkeiten ermittelt hat. Soweit es die von der Beklagten benannten Tätigkeiten im Bergbau als Verwieger 1 und 2 sowie Lampenwärter geht, kann der Kläger auch bis zum Zeitpunkt seiner Abkehr nicht auf diese Tätigkeiten verwiesen werden. Insoweit scheidet eine Verweisung des Klägers aus, weil er keine Chance hatte, eine solche Stelle zu erhalten. Von der Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, daß die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten nicht abstrakt, d. h. losgelöst von der Wirklichkeit des Arbeitslebens, betrachtet werden kann. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, ob überhaupt eine – wenn auch nur schlechte – Chance besteht, einen Arbeitsplatz in dem in Frage kommenden Verweisungsberuf zu erhalten (vgl. BSGE 30, 167; 30, 192; 41, 41). Dies gilt weiterhin auch nach dem 2. Änderungsgesetz zum SGB VI vom 2. Mai 1996 (vgl. BSG Urteil 8 RKn 19/96). Hat ein Versicherter praktisch keine Chance mehr, einen Arbeitsplatz im angedachten Verweisungsberuf zu erhalten, ist eine die Berufsunfähigkeit ausschließende Verweisungsmöglichkeit nicht mehr gegeben.
Bei tarifvertraglich erfaßten Vollzeittätigkeiten gilt im Regelfall die Vermutung, daß eine für die Verweisbarkeit hinreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist, ohne daß zu prüfen ist, ob die Arbeitsplätze besetzt oder unbesetzt sind. Gibt es jedoch trotz tarifvertraglicher Erfassung nur eine unbedeutende Anzahl von Arbeitsplätzen, ist das Bestehen einer Verweisungsmöglichkeit konkret zu untersuchen (BSG SozR 2200 § 1247 RVO Nr. 33; BSG Urteil vom 15. November 1989 – 8/5a RKn 13/87 in SozR 2600 § 46 RKG Nr. 20). Zumindest, wenn es nur noch 200 Arbeitsplätze im Bundesgebiet für eine Verweisungstätigkeit gibt, ist die Zugangsmöglichkeit eines Versicherten zu einer solchen Stelle konkret zu prüfen. (BSG 8/5a RKn 13/87 a.a.O.). Schon 1995 gab es im Bereich der Ruhrkohle für die Verweisungstätigkeiten Verwieger und Lampenwärter jeweils weniger als 200 Arbeitsplätze, nämlich nur noch 184 Stellen als Verwieger und 76 Stellen als Lampenwärter (vgl: die der Beklagten bekannte Auskunft der Ruhrkohle vom 11. Oktober 1995). Wegen des allgemein bekannten Schrumpfungsprozesses im Bergbau geht die Kammer davon aus, daß es seit 1995 trotz Zusammenschlusses der Ruhrkohle mit dem Saarbergbau bei der Deutschen Steinkohle AG inzwischen noch weniger Stellen geworden sind. Die Kammer bleibt deswegen bei ihrer Rechtsprechung, die Verweisungsmöglichkeiten auf leichte über-Tage-Tätigkeiten im Bergbau konkret zu prüfen. Bei den Stellen als Verwieger und Lampenwärter handelt es sich um Schonarbeitsplätze, die ausschließlich mit Betriebsangehörigen der jeweiligen Zeche oder Betriebsangehörigen einer stillgelegten Zeche besetzt werden (vgl. die der-Beklagten bekannten Auskünften der Ruhrkohle vom 14. Oktober 1994 ( L 18 KN 7/93) und vom 14. Mai 1997 (L 2 (18) KN 43/95 ) sowie der Deutschen Steinkohle AG vom 31. Juli 2003 (SG Dortmund S 24 KN 251/01). Für den Kläger kamen daher seit seiner Arbeitsunfähigkeit am 4. Juli 2000 bis zur Abkehr am 30. Dezember 2000 lediglich Verweisungsmöglichkeiten auf seinem Bergwerk Prosper-Haniel in Betracht.
Zu den Verhältnissen auf Prosper-Haniel hat die Kammer eine Auskunft eingeholt. Danach gab es seit Juli 2000 insgesamt 16 Arbeitsplätze für Verwieger und Lampenwärter, die alle besetzt sind. Von diesen Arbeitsplätzen ist seit Juli 2000 auch kein einziger freigeworden. Die Kammer sieht demnach keine Chance des Klägers, in den wenigen Monaten von Juli 2000 bis zu seiner Abkehr im Dezember 2000 eine Stelle in den von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten zu erhalten. Der 2. und der 15. Senat des Landessozialgerichts Essen haben in der Vergangenheit sogar bei einer Anzahl von 28 Arbeitsplätzen in Verweisungstätigkeiten die Chance, einen solchen Arbeitsplatz zu erhalten, verneint (vgl. L 2 KN 85/82, L 15 KN 98/83). Die von der Beklagten benannten Verweisungsmöglichkeiten scheiden demnach aus. Weitere Verweisungsmöglichkeiten sind der Kammer nicht ersichtlich.
Nach alledem war die Beklagte antragsgemäß zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Erstellt am: 15.01.2020
Zuletzt verändert am: 15.01.2020