Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 13.02.2002 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Sozialgericht zurückverwiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) wegen Heilungsbewährung.
Mit Bescheid vom 29.08.1995 stellte der Beklagte bei der 1945 geborenen Klägerin einen GdB von 50 wegen
1. Verlust der Gebärmutter im Stadium der Heilungsbewährung
2. Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Skoliose mit Beckenschiefstand rechts
fest.
Im Juli 2000 überprüfte der Beklagte die Höhe des GdB und holte Befundberichte von dem Frauenarzt Dr. S und dem Arzt für Nervenheilkunde Dr. H ein. Nach gutachterlicher Stellungnahme seines ärztlichen Dienstes teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass nach dem Ergebnis der durch geführten Ermittlungen hinsichtlich des Verlustes der Gebärmutter Heilungsbewährung eingetreten sei, weil nach der Erkrankung keine Rückfälle aufgetreten seien, das Risiko eines Rückfalles erheblich reduziert und der Gesundheitszustand sich stabilisiert habe. Deshalb sei beabsichtigt, den GdB gem. § 48 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) auf 20 herabzusetzen.
Nach Akteneinsicht wies die Klägerin darauf hin, dass die Herabsetzung wegen Heilungsbewährung wegen eines familiär erhöhten Karzinomrisikos falsch sei.
Mit Bescheid vom 22.06.2001 setzte der Beklagte den GdB auf 20 herab, weil der Verlust der Gebärmutter nach Ablauf der Heilungsbewährung einen GdB von wenigstens 10 nicht mehr rechtfertige. Die nunmehr noch vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Skoliose mit Beckenschiefstand rechts, chronisches Schmerzsyndrom rechtfertigten nur noch einen GdB von 20. Der Widerspruch der Klägerin, mit dem sie erneut auf das erheblich gesteigerte Krebsrisiko in Ihrer Familie hingewiesen hatte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13.06.2001).
Der Beklagte wies zur Begründung darauf hin, dass bei Funktionsbeeinträchtigungen, die zu Rückfällen neigen und bei denen die Belastbarkeit abgewartet werden müsse, nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AP) 1996 bei Rezidivfreiheit nach Ablauf von fünf Jahren von einer endgültigen medizinischen Heilung des Grundleidens und damit einer wesentlichen Besserung der Verhältnisse im Sinne des § 48 SGB X ausgegangen werden müsse.
Hiergegen hat die Klägerin am 16.07.2001 Klage beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.
Das SG hat hat Befundberichte von dem Orthopäden Dr. D dem Internisten Dr. G , dem Nervenarzt Dr. H und dem Frauenarzt Dr. S eingeholt.
Mit Urteil vom 13.02.2002 hat das SG Düsseldorf den Bescheid vom 22.01.2001 und den Widerspruchsbescheid vom 13.06.2001 aufgehoben, weil eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X nicht nachgewiesen sei:
Der Gesundheitszustand der Klägerin hinsichtlich des Krebsleidens habe sich bis Januar 2001 nicht wesentlich geändert. Der Gebärmutterkrebs sei 1994 entfernt worden und seitdem seien Metastasen des Tumors nicht mehr nachgewiesen worden. Eine erkennbare Änderung des Gesundheitszustandes zwischen August 1995 und Januar 2001 sei nicht ersichtlich. Ebensowenig sei eine wesentliche rechtliche Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten. Soweit der Beklagte sich auf die AP 1996 berufe, handele es sich um keine Rechtsgrundlage für den Entzug von Sozialleistungen. Nach Artikel 19 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) dürfe in eine Rechtsposition nur mittels allgemein geltender Gesetze eingegriffen werden. Diese Qualität komme den Anhaltspunkten 1996 nicht zu. Trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 06.03.1995 (Az.: 1 BvR 60/95) seien die Anhaltspunkte bislang nicht in ein Gesetz überführt worden. Außerdem seien die AP 1996 auch deshalb rechtswidrig, weil sie von den maßgeblichen Begutachtungsrichtlinien der Berufsgenossenschaften abwiechen, was zu Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz führe, die mit Artikel 3 des GG nicht in Einklang zu bringen seien. Des weiteren fehle es den Anhaltspunkten an der erforderlichen Transparenz, weil der Sachverständigenbeirat beim BMA bei seinen halbjährigen Sitzungen seine Beschlüsse nicht im erforderlichem Maße veröffentliche. Wegen weiterer Einzelheiten verweist der Senat auf die Entscheidung.
Gegen das am 25.02.2002 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 14.03.2002 Berufung eingelegt.
Er trägt vor, entgegen der Auffassung des SG sei eine wesentliche tatsächliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X eingetreten. Sie sei auch bei gleichbleibenden Befunden in Fällen der Heilungsbewährung anzunehmen. Dies habe das BSG im Rahmen des § 62 des Bundesversorgungsgesetzes seit 1962 angenommen (BSGE 17,63), und stelle damit keine Erfindung der AP dar.
Als Folge sei der Begriff der Heilungsbewährung in die AP 1965 übernommen worden. Der Beklagte habe den Hinweis auf den Eintritt der Heilungsbewährung zudem in den Bescheid vom 29.08.1995 aufgenommen. Aber selbst wenn die Klägerin 1995 aufgrund der AP 1983 fehlerhaft beurteilt worden wäre, müsse im Jahre 2001 nach den in soweit unveränderten Regeln der AP 1996 nach der Rechtssprechung des BSG der Behindertenstatus beurteilt werden (BSG-Urteil vom 07.02.1985 – 9 a RVs 2/84 -).
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Düsseldorf vom 13.02.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Schwerbehindertenakten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Nichterscheines der Klägerin und ihres Bevollmächtigten durch einseitige mündliche Verhandlung entscheiden. Auf diese Möglichkeit wurde in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung hingewiesen.
Die zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das Urteil leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, sodass der Senat von der nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeräumten Möglichkeit der Zurückverweisung Gebrauch gemacht hat. Das SG hat gegen seine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes aus § 103 SGG verstoßen.
Die Amtsermittlungspflicht aus § 103 SGG ist verletzt, wenn der dem SG bekannte Sachverhalt von seinem materiell-rechtlichem Standpunkt aus nicht für die gefällte Entscheidung ausreicht, sondern das Gericht sich zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (vergl. BSG, Urteil vom 23.04.1987 – 9/9 aRV 42/08; Urteil vom 24.06.1996 – 11 RA 75/92 m.w.N.)
Ausweislich seiner Urteilsbegründung ist das SG der Auffassung, dass eine Herabsetzung des GdB aufgrund der Anhaltspunkte 1996 nicht erfolgen durfte, weil die Anhaltspunkte keine Rechtsgrundlage für den Entzug von Sozialleistungen darstellen können. In eine Rechtsposition dürfe nur mittels eines allgemein geltenden Gesetzes eingegriffen werden. Dies sei bei den Anhaltspunkten – insbesondere bei den hier maßgeblichen und zur Herabsetzung führenden Institut der Heilungsbewährung nicht der Fall, die im übrigen auch im Widerspruch zu den maßgeblichen Begutachtungsrichtlinien der Berufsgenossenschaften stünden.
Entgegen der Auffassung des SG setzt § 48 Abs. 1 SGB X nicht nur eine Änderung solcher Tatsachen voraus, auf die der begünstigende Verwaltungsakt zu Recht gestützt worden ist. Vielmehr hat das Bundessozialgericht in ständiger Rechtssprechung (vergl. etwa SozR 1300 § 48, Nummern 13 und 21), der sich der Senat anschließt, entschieden, dass § 48 Abs.1 SGB X auch dann anzuwenden ist, wenn sich nachträglich Tatsachen ändern, auf die der Bewilligungsbescheid zu Unrecht gestützt worden ist. Ist dies der Fall, beruht die Entscheidung der Verwaltung auf veröffentlichen Maßstäben, die für das einheitliche Verwaltungshandeln herangezogen wurden, sind auch derartige falsche Tatsachen für die Bewilligung der Statusfeststellung wesentlich, weil auch fehlerhafte Maßstäbe die gleiche Behandlung der Verwaltungspraxis steuern. Der Wegfall von Tatsachen, die nach dem fehlerhaften Maßstab wesentlich waren und deren Bedeutung für die Entscheidung in einem objektiven Sinn erkennbar waren, bewirke eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs.1 SGB X (vergl. hierzu etwa SozR 3 – 3870 § 4 Nr. 1 sowie BSG, Urteil vom 12.11.1996 – 9 RVs 18/94).
Zu den erkennbaren bedeutsamen Tatsachen gehört im angefochtenen Bescheid vom 22.01.2001 der Zusatz zur Leidensbezeichnung Nr. 1 Im Stadium der Heilungsbewährung, die die Höherbewertung rechtfertigte. Diese Bewertung stimmte mit den Vorgaben der AP 1983 und 1996 überein.
Ohne Belang ist in diesem Zusammenhang, ob die AP 1996 zum Zeitpunkt der Herabsetzung (Widerspruchsbescheid vom 13.06.2001) trotz der erheblichen Bedenken des SG noch anwendbar waren. Denn selbst wenn dies nicht der Fall war, würde dies lediglich zur Unverbindlichkeit der Anhaltspunkte in diesem Punkt führen (BSGE 75,176,178 sowie BVerfG SozR3-3870 § 3 Nr. 6). Es ändert aber nichts daran, dass die angefochtenen Verwaltungsentscheidung – wenn auch zu Unrecht – auf den GdB-erhöhenden Umstand einer noch abzuwartenden 5-jährigen Heilungsbewährung gestützt war und sich mit Ablauf dieser Zeit nach § 48 Abs.1 SGB X die zu berücksichtigende Tatsache geändert hatte.
Soweit das SG desweiteren Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit der Anhaltspunkte im Hinblick auf § 69 Abs. 2 SGB IX (früher § 4 Abs. 2SchwbG) hinweist und eine Ungleichbehandlung bei zahlreichen Bewertungskriterien verschiedener Behinderungen für den Bereich der Unfallversicherung und des Schwerbehindertenrechtes sieht, vermag dies ebenfalls nicht zu überzeugen.
Für das im vorliegenden Fall für die GdB Herabsetzung allein maßgebliche Institut der Heilungsbewährung nach Krebserkrankung ist jedenfalls nach Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage, Seite 1088, eine gleichhohe Bewertung vorgesehen.
Das SG hätte sich unter Beachtung dieser Vorgaben gedrängt fühlen müssen, den Gesundheitszustand der Klägerin – etwa durch Einholung von Sachverständigen gutachten – weiter abzuklären. Dies gilt insbesondere für die von der Klägerin immer wieder zum Ausdruck gebrachte Krebsangst nach familiärer Häufung, aus der sich psychische Störungen entwickelt haben könnten, die bei der Bildung des Gesamt-GdB zu berücksichtigen wären. Hierzu fehlen jegliche Befunde.
Die angefochtene Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensmangel beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das Sozialgericht bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Die gem. § 159 Abs. 1 SGG im Ermessen des Senates stehende Zurückverweisung erscheint angesichts der Kürze des Berufungsverfahrens sowie der Schwere des Verfahrensfehlers zur Erhaltung einer zweiten Tatsacheninstanz geboten.
Das SG wird sachgerechte, den Anforderungen an eine gerichtliche Sachverhaltsaufklärung entsprechende Ermittlungen nachzuholen haben. Bei der GdB-Bewertung wird das SG zu beachten haben, dass in § 69 Abs. 1 S.4 SGB IX die entsprechende Geltung der im Rahmen des § 30 Abs.1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgelegten Maßstäbe für die Feststellung des GdB angeordnet ist. Die in § 30 Abs. 1 S. 1 und S. 5 BVG aufgestellten Kriterien für die MdE-Bewertung, insbesondere die für erhebliche Körperschäden festgesetzten Mindest-vom-Hundertsätze (VV Nr. 5 zu § 30 BVG) sind grundsätzlich der GdB-Bildung zu grundezulegen. Die in die VV Nr. 5 zu § 30 BVG niederlegten Mindest-vom-Hundertsätze sind allgemeinverbindlich und haben den Charakter einer Rechtsverordnung (BSG, Urteil vom 11.6.1970, 9 RV 340/69; Urteil vom 23.7.1970, 8 RV 59/70). Sie sind Maßstab für die GdB-Bewertung anderer Gesundheitsstörungen, die in der VV nicht aufgeführt werden. In den AP sind die aus den VV Nr. 5 zu § 30 BVG abgeleiteten allgemeine MdE-Sätze (BSG Urteil vom 9.10.1987, 9a RVs 5/86) niedergelegt. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG haben die AP 1996 rechtsnormähnliche Wirkung und sind von den Sozialgerichten wie untergesetzliche Normen anzuwenden. Der Senat sieht trotz der diesbezüglich vom SG erhobenen Einwände keinen Anlass von der Rechtsprechung des BSG abzuweichen (vgl. LSG NW, Urteil vom 6.6.2002, L 7 SB 193/00).
Die vom SG vorgeschlagene Behindertentabelle stellt nach dem Willen ihrer Herausgeber keine neue Begutachtungsrichtlinie, sondern nur eine Überarbeitung der AP 1996 dar. Die Bewertungen der Behindertentabelle können nur dann zur GdB-Festsetzung herangezogen werden, wenn im Einzelfall der Nachweis geführt wird, dass die Bewertung einer Gesundheitsstörung von den Erfahrungssätzen der AP 1996 hinsichtlich der GdB-Höhe abweicht, die Bewertung mit höherrangigem Recht (§ 30 BVG) vereinbar ist und eine Fallgruppe vorliegt, bei der nach der Rechtsprechung ein Abweichen von den Erfahrungssätzen der AP 1996 zulässig ist (z.B. Abweichen vom gegenwärtigen herrschenden Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft, Ausfüllen einer Lücke in den AP 1996).
Für den Senat folgt weder aus dem Wortlaut § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX noch aus dem vom SG vertretenen Grundsatz der Gleichbehandlung von Behinderten und Unfallversicherten, dass das Institut der Heilungsbewährung nach Krebserkrankung rechtswidrig ist. Das Institut der Heilungsbewährung findet zum einen in der Unfallversicherung Anwendung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, aa0., S.1088). Zum anderen hat das SG nicht abgeklärt, ob medizinische Erkenntnisse bestehen (wie z.B. Abnahme der Rezidivgefahr nach einem bestimmten Zeitablauf, Minderung des Rezidivrisikos durch Schonung und Entlastung der Erkrankten, Prozess der Gewöhnung und Anpassung), die für die Bejahung der Zeit einer Heilungsbewährung sprechen.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Erstellt am: 14.08.2003
Zuletzt verändert am: 14.08.2003