Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14.03.2002 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 30 wegen Ablauf der Heilungsbewährung.
Im August 1998 wurde beim 1941 geborenen Kläger ein Rektumkarzinom (PT2 NO MO) entfernt.
Mit Bescheid vom 23.03.1999 stellte der Beklagte beim Kläger einen GdB von 50 fest wegen "Teilverlust des Dickdarms, Stadium der Heilungsbewährung".
Zur Begründung führte er aus, dass bei der Funktionsbeeinträchtigung "Teilverlust des Dickdarms, Stadium der Heilungsbewährung" eine Heilungsbewährung abzuwarten ist. Dies bedeute, dass die Auswirkungen dieser Funktionsbeeinträchtigung während der Zeit des Abwartens nicht genau beurteilt werden könne und deshalb für diese Zeit ein höherer GdB festgestellt werde. Erst nach Ablauf der Heilungsbewährung könne der GdB unter Berücksichtigung der beim Kläger tatsächlich vorliegenden Behinderungen bewertet werden.
Im Juli 2000 leitete der Beklagte ein Nachprüfungsverfahren ein. Er zog Befundberichte von den Dres. H und R bei und ließ diese vom Ärztlichen Dienst auswerten. Danach hörte er den Kläger mit Schreiben vom 26.09.2000 bezüglich der beabsichtigten Herabsetzung des GdB von 50 auf 30 wegen Ablauf der Heilungsbewährung an. Mit Bescheid vom 19.10.2000 setzte der Beklagte den GdB von 50 auf 30 unter Berufung auf § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) herab. Bei der Funktionsbeeinträchtigung "Teil verlust des Dickdarms, Verdauungsstörung, Ablauf der Heilungsbewährung" sei die Zeit der Heilungsbewährung abgelaufen, so dass der GdB nur unter Berücksichtigung der beim Kläger tatsächlich vorliegenden Behinderungen bewertet werden könne. Für die Auswirkungen dieser Funktionsbeeinträchtigungen sei ein GdB von 30 angemessen.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Der Beklagte zog erneut einen Befundbericht von Dr. R bei und hörte den Kläger mit Schreiben vom 11.04.2001 hinsichtlich dieses Befundberichtes an. Am 18.06.2001 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Mit der am 17.07.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat der Kläger die Aufhebung des Herabsetzungsbescheides begehrt.
Das SG hat ein Gutachten von dem Internisten Dr. O eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Gutachtens vom 10.10.2001 verwiesen.
Mit Urteil vom 14.03.2002 hat das SG Düsseldorf den Bescheid vom 19.10.2000 und den Widerspruchsbescheid vom 18.06.2001 aufgehoben. Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen des § 48 SGB X lägen nicht vor. Eine Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen sei nach Erlass des Bescheides vom 23.03.1999 nicht eingetreten. Die Krebserkrankung sei im März 1999 ausgeheilt gewesen. Ebenfalls sei die Harnblasen-Darm-Fistel verschlossen gewesen. Eine rechtliche Änderung liege nicht vor. Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) 1996, die keine Rechtsnorm seien, stellten wegen des Verstoßes gegen höherrangiges Recht keine Rechtsgrundlage für den Entzug der Schwerbehinderteneigenschaft dar. Den AP 1996 komme auch keine rechtsnormähnliche Wirkung zu. Wegen fehlender demokratischer Legitimation sei der Sachverständigenbeirat zum Erlass und Fortschreibung von Bewertungs-Richtlinien im Schwerbehindertenrecht nicht legitimiert. Die Erstellung und Fortschreibung der AP 1996 durch den Sachverständigenbeirat sei nicht transparent, die AP 1996 beruhten auf keiner wissenschaftlichen Grundlage und enthielten kein in sich geschlossenes und nachvollziehbares Beurteilungsgefüge. Aus der Vorschrift des § 69 Abs. 4 SGB IX und Art. 3 GG sei abzuleiten, dass die Bewertungs-Richtlinien der AP im Schwerbehindertenrecht den MdE-Richtlinien im Unfallversicherungsrecht entsprechen müssten. Die BG-Richtlinien wichen aber in mehr als 40 Fällen von den Festsetzungen der AP ab. Dies führe zu einer unangemessenen Benachteiligung von Behinderten im Vergleich zu Unfallversicherten. Als Alternative zu den AP stehe den Gerichten als Bewertungsmaßstab die im Internet veröffentlichte "Behindertentabelle" zur Verfügung. Das Institut der Heilungsbewährung sei systemwidrig (fehlende Funktionsbeeinträchtigung) und seine Begründung zweifelhaft. Bei Gelenkveränderungen bewerteten die AP 1996 im wesentlichen nur die Funktionsbreite, nicht aber die Minderbelastung von Gelenken usw.
Gegen das am 18.04.2002 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 14.05.2002 Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegt.
Der Beklagte vertritt die Auffassung, nach Ablauf der Heilungsbewährung sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten. Insoweit nimmt er Bezug auf die Entscheidungen des 7.Senats vom 12.6.2002, L 7 SB 39/02 und L 7 SB 65/02. Der Gesamtbehinderungszustand des Klägers sei zutreffend bewertet.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14.03.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Schwerbehindertenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das SG hat zu Unrecht den Bescheid vom 19.10.2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheids vom 18.06.2001 aufgehoben.
Bei dem angefochtenen Bescheid handelt es sich um einen Herabsetzungsbescheid gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X, in dem der im Bescheid vom 23.03.1999 bindend festgestellte GdB von 50 auf 30 abgeändert wird.
Der Bescheid ist formell rechtmäßig.
Das Anhörungsschreiben vom 26.09.2000 genügt den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Anhörung nach § 24 SGB X. Verfasser und wesentlicher Inhalt der im Verwaltungsverfahren beigezogenen Befundberichte sind wiedergegeben. Desweiteren ist eine Anhörung hinsichtlich des im Vorverfahren beigezogenen Befundberichtes von Dr. R erfolgt.
Entgegen der Auffassung des SG ist der angefochtene Bescheid materiell rechtmäßig.
Der Beklagte hat zutreffend den Gesamt-GdB wegen wesentlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse von 50 auf 30 gem. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X herabgesetzt. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, vorliegend der Bescheid vom 23.03.1999, aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche Änderung im Ausmaß der Behinderung ist u.a. nach Nr. 24 Abs. 2 S. 45 AP 1996 gegeben, wenn der Vergleich des Gegenwärtigen mit einem verbindlich festgestellten Gesundheitszustand eines Klägers eine GdB-Differenz von mindestens 10 ergibt. Dabei ist auf den Gesundheitszustand des Klägers und die dadurch bedingten Funktionsbehinderungen zum Zeitpunkt des Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung, hier des Widerspruchsbescheides vom 18.06.2001, abzustellen und dieser Zustand mit dem zum Zeitpunkt des Erlasses des Erstbescheides, hier des Bescheides vom 23.03.1999, zu vergleichen (vgl. BSG, Urteil vo 23.06.1993, 9/9a RVs 1/92).
Bei der GdB-Bewertung sind die Beurteilungskriterien der AP 1996 zugrundezulegen.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 9.4.1997, 9 RVs 4/95 m.w.N.) haben die AP 1996 normähnlichen Charakter und sind von den Sozialgerichten in der Regel wie untergesetzliche Normen anzuwenden. Ein Abweichen von den Vorgaben der AP 1996 ist bei Verstoss gegen höherrangiges Recht, bei Abweichen von dem gegenwärtigen herrschenden Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft, bei Vorliegen eines Sachverhaltes, der auf Grund individueller Verhältnisse einer gesonderten Beurteilung bedarf, sowie bei einer Ergänzung der AP i.S. der Lückenfüllung im Einzelfall zu lässig. Der Senat schließt sich nochmals ausdrücklich dieser Rechtsprechung an. Er folgt nicht der vom SG vertretenen Auffassung, dass die AP 1996 wegen fehlender demokratischer Legitimation des Verfassers (Sachverständigenbeirat), Verstoß gegen höherrangiges Recht (§ 69 Abs. 2 SGB IX), Abweichen von den Bewertungsrichtlinien der Unfallversicherung und fehlender Transparenz vom Prozess des Erlasses und Weiterentwicklung nicht mehr anzuwenden sind (Urteile vom 13.2.2002, S 31 SB 282/01, vom 11.4.2002, S 31 SB 454/01, vom 14.03.2002, S 31 SB 291/01). In § 69 Abs. 1 S. 4 SGB IX ist die entsprechende Geltung der im Rahmen des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgelegten Maßstäbe für die Feststellung des GdB angeordnet. Die in § 30 Abs. 1 S. 1 und S. 5 BVG aufgestellten Kriterien für die MdE-Bewertung, insbesondere die für erhebliche Körperschäden festgesetzten Mindest-vom-Hundertsätzen (VV Nr. 5 zu § 30 BVG) sind grundsätzlich bei der GdB-Bildung zugrundezulegen, obwohl das Versorgungs- und Schwerbehindertenrecht unterschiedlichen Zwecken dienen und die MdE und der GdB verschiedene Funktionen haben (BSG, Urteil vom 15.3.1979, 9 RVs 6/77; vom 9.10.1987, 9a RVs 5/86). Die in die VV Nr. 5 zu § 30 BVG niederlegten Mindest-vom-Hundertsätze sind allgemeinverbindlich und haben den Charakter einer Rechtsverordnung (BSG, Urteil vom 11.6.1970, 9 RV 340/69; Urteil vom 23.7.1970, 8 RV 59/70). Sie sind auch Maßstab für die GdB-Bewertung anderer Gesundheitsstörungen, die in der VV nicht aufgeführt sind. In den AP sind die aus VV Nr. 5 zu § 30 BVG abgeleiteten allgemeinen MdE-Sätze niedergelegt (BSG, Urteil vom 9.10.1987, 9a RVs 5/86). Demgegenüber weichen die in der Unfallversicherung verwandten Richtlinien zur MdE-Bildung von den Vorgaben der VV Nr. 5 zu § 30 BVG teilweise ab und sind mit § 69 Abs. 1 SGB IX nicht vereinbar (Verlust der Unterschenkels 40 % anstelle von 50 %, Teilverlust des Fusses mit Absetzung nach Pirogow 30 % anstelle von 40 %, Teilverlust des Fusses mit Absetzung nach Lisfranc 25-30 % anstelle 30 %, Verlust des Penis 30-60 % anstelle 50 %, Verlust der Hand 60 % anstelle 50 %, Verlust des Unterarmes 60 % anstelle 50 %). Das SG Düsseldorf hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass das BSG und das Bundesverfassungsgericht (BVG) aus verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die "Normähnlichkeit" der AP den Erlass einer Ermächtigungsnorm für die AP beim Gesetzgeber angeregt haben. Das Unterlassen des Gesetzgebers, den Aufforderungen des BVG und BSG nachzukommen, führt nicht zu einer anderen Bewertung. Der Gesichtspunkt des Zeitablaufs rechtfertigt allein nicht von dem Grundsatz der Beachtlichkeit der AP 1996 für die GdB-Bewertung abzuweichen. Es existiert kein anderes, in sich geschlossenes, alle Gesundheitstörungen erfassendes, die Vorgaben des § 69 Abs. 1 S. 4 SGB IX beachtendes Beurteilungsgefüge, das eine gleichmäßige Behandlung der Betroffenen bei der GdB-Bewertung gewährleistet. Die in der Unfallversicherung verwandten MdE-Richtlinien stellen kein in sich geschlossenes System dar, das auf das Schwerbehindertenrecht übertragbar ist. Die Kriterien für die Bestimmung der MdE und des GdB weichen teilweise voneinander (BSG, Urteil vom 19.9.2000, B 9 SB 1/00 R). Für die Bildung des GdB sind die Auswirkungen der Funktionsstörungen in Beruf und Gesellschaft maßgebend. Die Beeinträchtigung und Gefährdung der Wahrnehmung der Gesamtheit der einem Behinderten sozial zugeschriebenen Funktionen durch Funktionsstörungen ist unabhängig vom ausgeübten Beruf zu beurteilen (BSG vom 9.10.1987, 9a RVs 5/86; Beschluss vom 26.1.1994, 9 BVs 44/93). Demgegenüber orientiert sich die MdE in der Unfallversicherung ausschließ lich an den Umfang der dem Verletzten durch die Unfallfolgen verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbsleben. Nur für einen Teil der Gesundheitsstörungen wird im Unfallversicherungsrecht den MdE-Richtlinien der Charakter allgemeiner Erfahrungssätze zugesprochen (Richtlinien für Hautkrankheiten, Augen und Ohren, BSG, Urteil vom 2.5.2001, B 2 U 24/00 R). Für andere Gesundheitsstörungen existieren noch keine allgemeine Geltung beanspruchende Erfahrungssätze (z.B. für Wirbelsäulenschäden, BSG, Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 24/00 R). Im übrigen bestehen keine einheitlichen Bewertungsrichtlinien. (siehe Übersicht über Bewertungstabellen in Rauschelbach/Jochheim/Widder, Das neurologische Gutachten, 4 Aufl., S.86 ff; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufkrankheit, 6. Aufl., S.299). Auch aus § 69 Abs. 2 SGB IX läßt sich nicht ableiten, dass die GdB-Festsetzungen und damit die Erfahrungssätze der AP 1996 den MdE-Bewertungen im Unfallversicherungsrecht entsprechen müssen. Nach seiner Zielsetzung dient § 69 Abs. 2 SGB IX allein der Verwaltungsvereinfachung und dem Schutz des Behinderten, dem eine weitere Begutachtung zur Feststellung der Höhe des GdB erspart werden soll, wenn bereits ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren zur Feststellung der MdE durchgeführt worden ist (LSG Niedersachsen, Urteil vom 26.5.2000, L 9 SB 247/98). Nach § 69 Abs. 2 SGB IX sind auch die MdE-Festsetzungen nach § 30 BVG bindend. Die MdE-Höhen nach dem BVG und dem Unfallversicherungsrecht unterscheiden sich teilweise (z.B. Bewertung des Verlustes eines Armes, eines Beines im Unterschenkel in Nr. 5 VV zu § 30 BVG), auch wenn ein Sachverhalt gleichzeitig die Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall und einen Anspruch nach dem Sozialen Entschädigungsrecht erfüllt (z. B. Gewalttat auf den Weg zur Arbeit, Verletzung durch Kampfmittel während der Arbeit). § 69 Abs. 2 SGB IX eröffnet dem Behinderten desweiteren die Möglichkeit einer von der MdE-Festsetzung abweichenden Feststellung bei Glaubhaftmachung eines berechtigten Interesses. Die vom SG Düsseldorf gegen die AP 1996 erhobenen Einwände – fehlende demokratische Legitimation des Herausgebers, Nichteinhaltung eines Verfahrens bei Erlass und Weiterentwicklung, das Publizität wahrt, keine Gewährleistung einer Organisation, die sicherstellt, dass die für die GdB-Bewertung maßgeblichen Fachkreise bei der Festlegung der GdB- Werte beteiligt werden, keine Gewähr, dass die AP in regelmäßigen gleichen Zeitabständen aktualisiert werden – werden ebenso gegen die MdE-Richtlinien in der Unfallversicherung geltend gemacht (Wiester, Über die Aufgabe der Unfallversicherungsträger, die Richtwerte zur Bemessung der MdE überprüfen zu lassen, NZS 2001,631; Mehrhoff, Mehr Richtlinien versus mehr Ermessensspielraum in der Begutachtung – in der gesetzlichen Unfallversicherung, MED SACH 2002, 48 ff). Der vom SG Düsseldorf gerügten fehlenden Transparenz hat des Sachverständigenbeirat zwischenzeitlich Rechnung getragen, indem gutachenrelevante Beschlüsse seiner Tagungen im Internet veröffentlicht werden, also für jedermann zugänglich sind (Rundschreiben des BMA vom 15.3.2002, IVc 5 -60 122 – 2/47, http://www.bma.de). Dabei wird der Sachverständigenbeirat darauf zu achten haben, dass seine in den Tagungsniederschriften schriftlich fixierte Empfehlung zur Auslegung, Konkretisierung und Anwendung der AP inhaltlich korrekt wiedergegeben wird. Insbesondere unter Beachtung der Vorgaben der Rechtsprechung zur Evidenzkontrolle der AP 1996, wonach ein Abweichen von den Beurteilungskriterien der AP 1996 nur beim Abweichen der AP von dem gegewärtigen herrschenden Kenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft, der Ergänzung der AP i.S.d. Lückenfüllung oder bei Vorliegen eines Sachverhaltes, der auf Grund individueller Verhältnisse einer gesonderten Beurteilung bedarf, zulässig ist, ist der Sachverständigenbeirat als zuständiges Gremium für die Entwicklung, Redaktion und Fortschreibung der AP, insbesondere unter Beachtung des Gebotes der Waffengleichheit im Verfahren gehalten, dafür zu sorgen, dass seine in den Tagungsniederschriften niedergelegten Empfehlungen zur Anwendung, Konkretisierung und Auslegung der AP den zuständigen Gerichten und Beteiligten zugänglich sind.
Nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme sieht es der Senat als erwiesen an, dass in dem Gesundheitszustand des Klägers nach Ablauf der Heilungsbewährung im Juli 2000 eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist, der eine Herabstufung des Gesamt-GdB von 50 auf 30 rechtfertigt. Nach Nr. 26.10 S. 98 AP 1996 ist nach Entfernung eines malignen Dickdarmtumors im Frühstadium (Dukes A) eine Zeit der Heilungsbewährung mit einer Dauer von zwei Jahren anzunehmen und während der Heilungsbewährung ein GdB von mindestens 50 anzusetzen. Beim Kläger ist im August 1998 ein Rektumkarzinom im Stadium PT2 NO MO, welches nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. O und des Sachverständigenbeirates in der Tagungsniederschrift vom 18./19.03.1998 der Klassifikation Dukes A entspricht, operativ entfernt worden. In der Zeit von August 1998 bis Juli 2000 ist ein Tumorrezidiv beim Kläger nicht aufgetreten. Damit ist zum Zeitpunkt der Herabsetzung des GdB im Juni 2001 die in den AP 1996 vorgesehene Heilungsbewährung abgelaufen gewesen.
Entgegen der Auffassung des SG stellt der reine Zeitablauf vorliegend eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen i.S.v. § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X dar. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG stellt ein reiner Zeitablauf keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen dar. Dies gilt nicht, wenn die Verwaltung in veröffentlichten Maßstäben, z.B. den AP, eine zeitlich begrenzte Höherbewertung des GdB, wie bei der Heilungsbewährung, vorsieht und dadurch ihrer Entscheidung objektiv erkennbar den Zeitablauf als tatsächlichen Umstand zugrundegelegt hat. Beruht eine Verwaltungsentscheidung auf veröffentlichten Maßstäben, die für ein einheitliches Verwaltungshandeln herangezogen werden, sind Tatsachen, auf die in den veröffentlichten Maßstäben abgestellt wird, bei Statusfeststellungen im Rechtssinne wesentlich (vgl. BSG zur Heilungsbewährung, Urteile vom 12.02.1997, 9 RVs 5/96 und 9 RVs 12/95; Urteil vom 13.08.1997, 9 RVs 10/96; Erreichen eines bestimmten Lebensjahres, Urteil vom 12.11.1996, 9 RVs 18/94), auch wenn die veröffentlichten Maßstäbe fehlerhaft sind. Eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen liegt nicht nur in der Änderung von Umständen, auf die ein begünstigender Verwaltungsakt zu Recht gestützt worden ist vor, sondern auch bei der nachträglichen Änderung von Tatsachen, die die Verwaltung bei Erlass eines Dauerbescheides unter Anwendung von veröffentlichten Maßstäben zu Unrecht für rechtlich erheblich, d.h. wesentlich erachtet hat (vgl. BSG, Urteile vom 12.02.1997, 9 RVs 5/96 und 9 RVs 12/95; Urteil vom 13.08.1997, 9 RVs 10/96; Urteil vom 12.11.1996, 9 RVs 18/94; a.A. anscheinend LSG Thüringen , Urteil vom 7.3.2002, L 5 SB 768/00). Der Senat schließt sich ausdrücklich dieser Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an (vgl. Urteile vom 12.06.2002, L 7 SB 39/02 und L 7 SB 65/02). Bei den AP handelt es sich um veröffentliche Maßstäbe i.S. der Rechtssprechung (a.A. SG Düsseldorf, Urteil vom 11.04.2002, S 31 SB 20/01). Der Text der AP 1996 ist jedermann u.a. durch den Vertrieb von Textausgaben durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA), der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen und Kommentierungen mit Textausgaben, z.B. Schillings, Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, Rohr-/Sträßer, Bundesversorgungsrecht, und Veröffentlichungen im Internet (www.uwendler.de; www.rehadat.de) zugänglich. Änderungen des Textes der AP 1996 werden durch den BMA in den Rundschreiben und Informationen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zum sozialen Entschädigungsrecht (vormals bis 1999; Bundesversorgungsblatt) veröffentlicht.
Der Beklagte hat bei der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft in dem Bescheid vom 23.03.1999 auf die Vorgaben der AP 1996 abgestellt, wonach bei einer Entfernung eines malignen Dickdarmtumors im Frühstadium während der Zeit der Heilungsbewährung ein GdB von 50 unabhängig von den verbliebenen Funktionsstörungen anzusetzen ist. Dies ist für den Kläger auch aus der Begründung des Bescheides erkennbar gewesen. Der Beklagte hat u.a. in dem Bescheid ausgeführt, dass die Auswirkungen des Teilverlustes des Dickdarms während der Zeit des Abwartens nicht genau beurteilt werden könne und des halb für diese Zeit ein höherer GdB festgestellt werde. Erst nach Ablauf der Heilungsbewährung könne der GdB unter Berücksichtigung der beim Kläger tatsächlich vorliegenden Behinderungen bewertet werden. Die Bedenken des SG gegen das Institut der Heilungsbewährung teilt der Senat nicht. Ein Verstoß des Institutes der Heilungsbewährung gegen höherrangiges Recht ist nicht feststellbar. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG im sozialen Entschädigungsrecht und im Schwerbehindertenrecht ist es sachgerecht, bei der MdE/GdB-Bewertung von Gesundheitsbeeinträchtigungen, deren tatsächliche Funktionsstörungen nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft erst nach Ablauf einer längeren Zeit festgestellt werden kann, z.B. nach Operationen oder bei chronischen langwierigen Erkrankungen, die zu Rezidiven neigen (vgl. BSG zu Tuberkuloseerkrankungen, Urteil vom 15.10.1963, 11 RV 236/61; Urteil vom 22.05.1962, 9 RV 590/59; Urteil vom 06.12.1989, 9 RVs 3/89; zur Osteomelitis, Urteil vom 27.07.1978, 9 RV 48/77; zu Herzinfarkten, Urteil vom 13.08.1997, 9 RVs 10/96) oder bei denen die volle Belastbarkeit schrittweise erreicht wird (BSG, Urteil vom 06.12.1989, 9 RVs 3/89; zur Heilungsbewährung bei Bandscheibenoperationen, Urteil vom 09.08.1995, 9 RVs 19/94), nicht ausschließlich auf das Ausmaß der feststellbaren Funktionsbeeinträchtigungen abzustellen, sondern es wird eine Höherbewertung des Gesundheitszustandes unter dem Gesichtspunkt der Ungewissheit des Krankheitsverlaufes und dem Gebot der Schonung als zulässig erachtet. Insbesondere bei malignen Geschwulstkrankheiten ist zum Zeitpunkt der Entfernung eines Tumors nicht absehbar, ob ein Rezidiv auftritt oder nicht, d.h. die Erkrankung ausgeheilt ist. Insoweit findet das Institut der Heilungsbewährung nach Krebserkrankung auch im Unfallversicherungsrecht bei der MdE-Bewertung Anwendung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Aufl., S. 1088). Der Gesichtspunkt der Minderbelastbarkeit fließt entgegen der Auffassung des SG in den AP 1996 auch bei der GdB-Bewertung von Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen mit ein. Auf Nr. 26.18 S. 134 AP 1996 wird verwiesen. Selbst wenn die Auffassung des SG zugrundegelegt wird, dass der Entzug der Schwerbehinderteneigenschaft nicht auf die fehlerhaften AP 1996 oder das Institut der Heilungsbewährung gestützt werden kann, liegt nach der Rechtsprechung des BSG zur Maßgeblichkeit der Vorgaben von veröffentlichten Maßstäben nach Ablauf der Heilungsbewährung im vorliegenden Fall eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen vor. Vorliegend ist nach operativer Entfernung des Rektumkarzinoms im August 1998 offen gewesen, ob ein Rezidiv auftritt oder nicht. Bei kolorektalen Karzinomen treten innerhalb von 2 Jahren nach der Primäroperation Rezidive und Metastasen bei 50 – 80 % der Patienten auf (Pschyrembel, 258 Aufl., S. 800 Stichwort: Kolorektales Karzinom). Die von dem SG getroffene Feststellung der Rezidivfreiheit läßt sich nur rückwirkend treffen, eine sichere Prognose über den Verlauf der Krebserkrankung unmittelbar nach Durchführung der Primäroperation ist nicht möglich.
Der Gesamtbehinderungszustand des Klägers verursacht einen GdB von 30.
Als Folge der operativen Entfernung eines Teils des Dickdarms besteht bei dem Kläger nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. O im Funktionssystem "Verdauung" eine Afterschließmuskelschwäche. Beim Kläger treten wiederholt Stuhlunregelmäßigkeiten in Form von unwillkürlichem Stuhlabgang (einmal pro Woche), heftiger, nicht regulierbaren Stuhldrang (einmal pro Tag) und Ostipationen mit der Notwendigkeit einer manuellen Entfernung des Stuhls auf. Eine ständige unwillkürliche Defäkation liegt nach den anamnestischen Angaben des Klägers nicht vor. Der Kläger ist gehalten, Vorsorge (Tragen von Vorlagen) zu treffen und seine Ernährung den geplanten Aktivitäten anzupassen. Dem Ansatz eines GdB von 30 für diese Funktionsstörungen durch den Sachverständigen Dr. O kann gefolgt werden. Er stimmt mit den Erfahrungssätzen der AP 1996 überein. Nach Nr. 26.10 S. 99 AP 1996 verursacht eine Afterschließmuskelschwäche mit seltenen, nur unter besonderen Belastungen auftretenden unwillkürlichen Stuhlabgang einen GdB von 10, sonst einen GdB von 20 bis 40 und bei Funktionsverlust des Afterschließmuskels ein GdB von wenigstens 50. Hinzu tritt eine Diverticulose, die nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. O nicht mit wesentlichen Beschwerden und Auswirkungen verbunden ist. Eine chronische Darmstörung, wie z.B. eine Diverticulose, ist mit einem GdB von 0 bis 10 zu bewerten, wenn keine wesentlichen Beschwerden und Auswirkungen feststellbar sind. Zusammenfassend ist das Funktionssystem "Verdauung" mit einem GdB von 30 zu bewerten.
Weitere Gesundheitsstörungen, deren funktionelle Auswirkungen einen messbaren GdB bedingen, liegen nicht vor. Weder aus den Feststellung des Sachverständigen Dr. O noch aus den Angaben der behandelnden Ärzte in dem im Verwaltungsverfahren beigezogenen Befundberichten ergeben sich Anhaltspunkte, dass neben den Funktionsstörungen im Funktionssystem "Verdauung" noch weitere relevante Funktionsstörungen beim Kläger bestehen. Der Senat hat keinen Anlass gesehen, den Sachverhalt von Amts wegen weiter aufzuklären. Dies ist den Beteiligten mitgeteilt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird zugelassen.
Erstellt am: 14.08.2003
Zuletzt verändert am: 14.08.2003