Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 25.01.2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich außergewöhnliche Gehbehinderung (Merkzeichen "aG").
Die 1956 geborene Klägerin ist seit ihrer Jugend blind.
Mit Bescheid vom 09.01.1981 hatte das Versorgungsamt Hamburg unter Zugrundelegung der Behinderung "Blindheit" einen GdB von 100 sowie die Nachteilsausgleiche erhebliche Gehbehinderung (Merkzeichen "G"), Notwendigkeit ständiger Begleitung (Merkzeichen "B"), Blindheit ("Bl"), Hilflosigkeit ("H") und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen "RF") festgestellt. Das Vorliegen einer außergewöhnlichen Gehbehinderung wurde ausdrücklich nicht festgestellt.
1995 stellte das Versorgungsamt Hamburg der Klägerin einen "1. Ersatzausweis" mit den Eintragungen GdB 100, Merkzeichen: G, H, Bl, RF, gültig ab 03.01.1980, aus.
Am 28.02.2000 beantragte die Klägerin die Feststellung des Merkzeichens "aG" unter Bezugnahme auf ihre Blindheit, Orientierungs- und Gleichgewichtsstörungen. Das Versorgungsamt D … holte einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. C … ein und lehnte die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" mit Bescheid vom 18.05.2000 ab.
Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch, mit dem sie geltend machte, dass sie auch ohne körperliche Schäden dem Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten gleichzustellen sei. Denn als "Vollblinde" ohne jede Orientierungsmöglichkeit sei sie nicht in der Lage, sich im Straßenverkehr ohne fremde Hilfe zu bewegen. Im Ergebnis sei dieser Sachverhalt nicht anders zu bewerten, als wenn sie wegen einer Lungenerkrankung kaum Atemluft bekäme. In beiden Fällen sei das Ziel, irgendwohin zu kommen, nicht oder nur unter schwersten Anstrengungen zu erreichen. An dem Merkzeichen "aG" habe sie auch ohne Auto und Bedarf für eine Parkerleichterung deshalb ein Interesse, weil manche Fahrdienste (z.B. das Rote Kreuz) nur Personen mit diesem Merkzeichen mitnähmen.
Das Landesversorgungsamt Nordrhein-Westfalen wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2000 zurück. Nach der Rechtsprechung seien für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung lediglich eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht Bewegungsbehinderungen anderer Art maßgeblich.
Die Klägerin hat gegen die ablehnenden Bescheide der Versorgungsverwaltung Klage erhoben.
Die Klägerin hat schriftsätzlich sinngemäß beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 18.05.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2000 zu verurteilen, den Nachteilsausgleich "aG" festzustellen.
Der Beklagte hat schriftsätzlich keinen Antrag gestellt.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 25.01.2000 abgewiesen. Die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG", der nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift an eine entsprechende Einschränkung der Bewegungsfähigkeit gebunden sei, die bei der Klägerin unstreitig nicht vorliege. Die aus der Blindheit resultierende Behinderung in der Orientierungsfähigkeit werde mit dem bereits festgestellten Merkzeichen "B" ausgeglichen.
Die Klägerin hat gegen den Gerichtsbescheid Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Sie beruft sich auf die Vorschrift des § 60 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG), die anerkenne, dass bei Blinden Störungen der Orientierungsfähigkeit zu erheblichen Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit führten. Die für einen Blinden fehlende Möglichkeit, sich in einer fremden Umgebung ohne fremde Hilfe zu orientieren, müsse bei sachgerechter Ermessensausübung des Beklagten zu einer Gleichstellung mit z.B. Querschnittsgelähmten führen. Es sei nicht richtig, lediglich auf Störungen des Bewegungsapparates abzuheben. Deshalb stehe es ihrem Begehren nicht entgegen, dass sie außer der Blindheit keine körperlichen Gebrechen habe. Dass ihre Überlegungen nicht so abwegig sein könnten, zeige der Umstand, dass über viele Jahre ihr Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" aufgewiesen habe und erst in ihrem zuletzt ausgestellten Ausweis dieses Merkzeichen nicht mehr aufgenommen worden sei. Zudem sei die Verwaltungspraxis hinsichtlich des Merkzeichens "aG" bei Blinden uneinheitlich. Ihr seien Kriegsblinde ohne weitergehende körperliche Schädigung bekannt, deren Schwerbehindertenausweise das Merkzeichen "aG" enthielten.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25.01.2001 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 18.05.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.08.2000 zu verurteilen, die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsaus gleich "außergewöhnliche Gehbehinderung" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts Düsseldorf für zutreffend. Soweit die Klägerin vortrage, dass Kriegsblinden generell das Merkzeichen "aG" zuerkannt werde, sei ihm hiervon nichts bekannt. Der Vortrag der früheren Zuerkennung des begehrten Merkzeichens lasse sich nach dem vorliegenden Akteninhalt nicht bestätigen. Der Beklagte hat die Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Beiratsbeschluss) vom 23.11.1983 vorgelegt, der eine Entschließung zur Verwaltungspraxis einzelner Bundesländer bezüglich des Eintrags "aG" im Ausweis von Blinden beinhaltet.
Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zitierten Unterlagen, den Inhalt der zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte in Abwesenheit der Klägerin entscheiden, da sie in der Terminsbenachrichtigung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
Der Senat konnte auch in der Sache entscheiden. Der Beklagte ist nach Auflösung des Landesversorgungsamtes zum 01.01.2001 durch die Bezirksregierung Münster ordnungsgemäß im Sinne des § 71 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vertreten Urteil des Senats vom 30.01.2001 – L 6b SB 100/99 -; Urteil des Bundessozialgerichts vom 12.06.2001 – B 9 V 5/99 R -).
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG".
Nach § 4 Abs. 4 SchwbG hat des Versorgungsamt die Voraussetzungen für diesen Nachteilsausgleich festzustellen und das Merkzeichen "aG" in den Schwerbehindertenausweis einzutragen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Ausweisverordnung zum Schwerbehindertengesetz – SchwbAwV -). Wer als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen ist, ergibt sich nicht aus dem Schwerbehindertenrecht, sondern aus § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG), auf den § 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV verweist, i.V.m. Nr. 11, II 1 der Allgemeinen Verwaltungsvor schrift zu § 46 der Straßenverkehrsordnung (StVO). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschen kelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Zu diesem im Einzelnen aufgeführten Personenkreis gehört die Klägerin nicht. Sie kann diesem Personenkreis auch nicht gleichgestellt werden. Denn entgegen der Rechtsansicht der Klägerin kommt es nach den maßgeblichen Vorschriften allein auf die Einschränkung der körperlichen Fähigkeit zu gehen und nicht auf Bewegungseinschränkungen anderer Art an. Es reicht nicht aus, dass die Behinderte aus anderen Gründen, z.B. aufgrund eines gestörten Orientierungsvermögens, ein gewünschtes Ziel nicht allein erreichen kann. Gerade für Blinde ergibt sich dies bereits aus dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften. Denn sowohl § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG als auch die Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 StVO führen ausdrücklich einerseits Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung und andererseits Blinde auf. Wären – entsprechend der Meinung der Klägerin – Blinde bereits aufgrund ihrer fehlenden Orientierungsfähigkeit als außergewöhnlich gehbehindert einzustufen, so hätte sich ihre zusätzliche ausdrückliche Erwäh nung im Gesetzestext erübrigt. Dementsprechend ergibt sich aus der Begründung zu § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, dass die für außergewöhnlich Gehbehinderte eingeräumten Parkvorrechte auch für Blinde gelten sollen ( vgl. Jagosch/Hentschel, Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, § 6 StVG Rn. 22c). Auch diese erklärte Absicht der Gleichbehandlung würde keinen Sinn ergeben, wenn der Gesetzgeber Blinde bereits als außergewöhnlich Gehbehinderte angesehen hätte.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits 1985 entschieden, dass Behinderte mit einem gestörten Orientierungsvermögen keinen Anspruch auf die Feststellung des Merkzeichens "aG" haben und bei dieser Frage allein auf die Behinderungen beim Gehen abzustellen sei (Urteil vom 06.11.1985 – 9a RVs 7/83 -). Mit diesem Urteil, das der Klägerin vom Beklagten bereits als Anlage zum Schriftsatz vom 26.04.2000 zur Verfügung gestellt worden ist, hatte das Bundessozialgericht eine entgegenstehende (den Vorstellungen der Klägerin entsprechende) Entscheidung des Landessozialgerichts Stuttgart aufgehoben. Das Bundessozialgericht hat sich in dieser Entscheidung auch mit der von der Klägerin argumentativ herangezogenen Regelung des § 60 SchwbG zur erheblichen Gehbehinderung befasst, ist jedoch zur entgegengesetzten Schlussfolgerung gelangt. Es hat darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Regelung zur außergewöhnlichen Gehbehinderung abweichend von den Regelungen zur erheblichen Gehbehinderung (damals §§ 57, 58 SchwbG) Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht als maßgeblich aufgeführt hat. Dies bedeutet auch nach Auffassung des Senats, dass aus der Existenz der umfassenderen Regelung des § 60 SchwbG der Umkehrschluss zu ziehen ist, dass der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung bezüglich der außergewöhnlichen Gehbehinderung in § 6 StVG gerade nicht treffen wollte (vgl. BSG, Urteil vom 06.11.1985 a.a.0.).
Hinsichtlich des von der Klägerin geschilderten Klageinteresses (Teilnahme an Fahrdiensten) ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gesetzgeber im Rahmen seiner Regelungsbefugnis hinsichtlich der Parkplatzsituation für eine Gleichstellung von Blinden mit außer gewöhnlich Gehbehinderten entschieden hat. Dementsprechend bleibt es den einzelnen Wohlfahrtsverbänden im Rahmen ihrer Entscheidungskompetenz überlassen, ob sie bei der Durchführung von Fahrdiensten eine vergleichbare Entscheidung treffen wollen oder nicht.
Der weitere Vortrag der Klägerin, dass nach ihrer Kenntnis Kriegsblinde ohne weitergehendere körperliche Schädigung das Merkzeichen "aG" im Ausweis eingetragen bekommen hätten, konnte ebenfalls zu keiner anderen Entscheidung führen. Eine entsprechende gesetzliche Grundlage für solche Entscheidungen ist nicht ersichtlich. Es kann dahingestellt bleiben, ob entsprechende Eintragungen erfolgt sind und ob diese gegebenenfalls auf eine in einzelnen Bundesländern in der Vergangenheit beim Vorliegen von Blindheit gehandhabten Verwaltungspraxis (vgl. vom Beklagten vorgelegter Beiratsbeschluss vom 23.11.1983) zurückzuführen sind. Denn der Umstand von rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsentscheidungen führt nicht dazu, dass Antragstellern in vergleichbaren Situationen ebenso rechtswidrig Leistungen gewährt werden müssen. Dies widerspräche dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (vgl. BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 16 – "keine Gleichheit im Unrecht" -). Bei den vorliegend einschlägigen Rechtsgrundlagen handelt es sich auch nicht um Vorschriften, die der Verwaltung einen Ermessensspielraum eröffnen, innerhalb dessen sie sich durch eine entsprechende Verwaltungspraxis selbst gebunden hätte.
Der von der Klägerin vorgetragene Umstand, früher im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit dem eingetragenen Merkzeichen "aG" gewesen zu sein, kann ebenfalls nicht den geltend gemachten Anspruch begründen. Aus der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten, die auch den Vorgang des damals zuständigen Versorgungsamtes Hamburg enthält, sind keine Unterlagen ersichtlich, die den Vortrag der Klägerin bestätigen. Aber auch die Unterstellung eines Ausweises mit der von der Klägerin behaupteten Eintragung könnte nicht zur Begründetheit der Berufung führen. Denn eine solche Eintragung, für die es – wie ausgeführt – keine Rechtsgrundlage gibt und die dem Inhalt des aktenkundigen Bescheides des Versorgungsamtes Hamburg vom 09.01.1981 widerspricht, wäre unter Berücksichtigung der in § 4 Abs. 5 Satz 2 SchwbG geregelten Funktion des Schwerbehindertenausweises als "Nachweis für die Inanspruchnahme von … Nachteilsausgleichen" nicht geeignet, einen entsprechenden Anspruch zu begründen. Das Bundessozialgericht geht von einer Beweiskraft des Schwerbehindertenausweises als einer Urkunde gemäß § 417 der Zivilprozeßordnung (ZPO) aus und davon, dass nach dieser Vorschrift die öffentliche Urkunde nur den vollen Beweis ihres Inhalts und nicht auch den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, wie in § 418 Abs. 1 ZPO normiert, begründet (BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 21). Nach BSG SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 16 kennt das Verwaltungsrecht eine Bindung der Behörde allein aufgrund früher gewährter rechtsgrundloser Leistungen im Allgemeinen nicht. Dies widerspräche auch dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (BSG a.a.0.).
Zu einer anderen Rechtsfolge führt auch nicht die Ausweisverordnung zum Schwerbehindertengesetz (SchwbGAwV) vom 03.04.1984 (BGBl. I S. 509). Denn es wäre zu berücksichtigen, dass die Gültigkeit von Ausweisen gemäß § 6 Abs. 2 SchwbGAwV für die Dauer von längstens fünf Jahren zu befristen ist und der gemäß § 7 Abs. 1 SchwbGAwV und nach dem Sozialgesetzbuch (Teil X) grundsätzlich zu beachtende Vertrauensschutz nicht weiter als die Gültigkeit des Ausweises reichen kann.
Dem steht nicht die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 29.01.1992 (Az.: 9a RVs 9/90) entgegen – in der dieses von der Bindungswirkung eines fehlerhaft erfolgten Eintrags im Schwerbehindertenausweis ausgegangen ist -, da diese Entscheidung sich auf die – vorliegend nicht eingreifende – Bindungswirkung gemäß § 4 Abs. 2 SchwbG bezieht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Es hat kein Anlaß bestanden, die Revision zuzulassen.
Erstellt am: 08.08.2003
Zuletzt verändert am: 08.08.2003