Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.04.2002 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 30 wegen Ablaufes der Heilungsbewährung.
Im Februar 1996 wurde bei der Klägerin ein Mamma-Carzinom aus der rechten Brust entfernt und eine Aufbauplastik zur Wiederherstellung der Brust nach subcutaner Mastektomie implantiert.
Mit Bescheid vom 23.9.1996 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 50 wegen "Brustoperation rechts im Stadium der Heilungsbewährung" fest.
Im November/Dezember 1996 wurde die Aufbauplastik wegen Wundheilungsstörungen entfernt, eine Restmastektomie durchgeführt und 1997 eine Aufbauplastik erneut implantiert.
Den Änderungsantrag der Klägerin aus Januar 1998 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 9.4.1998 unter Berufung auf § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ab.
Im Februar 2001 leitete der Beklagte ein Nachprüfungsverfahren ein. Die Klägerin gab an, als Folge einer mißglückten Latissimus-Operation leide sie unter Einschränkungen des Bewegungsapparates und des rechten Armes. Es träten Schmerzen durch Narbenkontraktionen sowie Missempfindungen und Taubheitsgefühle im Rücken und des rechten Armes auf. Nach Auswertung der beigezogenen Befundberichte durch den Ärztlichen Dienst hörte der Beklagte die Klägerin zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB von 50 auf 30 an und übersandte Kopien der beigezogenen ärztlichen Unterlagen. Mit Bescheid vom 19.6.2001 setzte der Beklagte den GdB von 50 auf 30 unter Berufung auf § 48 SGB X herab. Wegen Ablaufes der Heilungsbewährung sei eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen i.S.v. § 48 SGB X eingetreten. Bei der Klägerin läge als Funktionsbeeinträchtigung der "Verlust der rechten Brust nach Ablauf der Heilungsbewährung" vor, für den ein GdB von 30 anzusetzen sei.
Den hiergegen einlegten Widerspruch wies der Beklagte am 12.10.2001 als unbegründet zurück.
Mit der am 13.11.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat die Klägerin die Aufhebung des Herabsetzungsbescheides begehrt.
Sie hat vorgetragen, eine Besserung ihres Gesundheitszustandes sei nicht eingetreten. Sie leide an erheblichen Narbenkontraktionen im rechten Schulter-Arm-Brust- und Rückenbereich mit Bewegungseinschränkungen sowie an einer Einschränkung ihrer psychischen Belastbarkeit.
Mit Urteil vom 11.4.2002 hat das SG die Bescheide vom 19.6.2001 und 12.10.2001 aufgehoben.
Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen des § 48 SGB X lägen nicht vor. Eine Änderung in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse sei nach Erlass des Bescheides vom 23.9.1996 nicht eingetreten. Die Krebserkrankung sei schon im September 1996 ausgeheilt gewesen. Eine rechtliche Änderung liege nicht vor. Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) 1996, die keine Rechtsnormen seien, stellten wegen des Verstosses gegen höherrangiges Recht keine Rechtsgrundlage für den Entzug der Schwerbehinderteneigenschaft dar. Den AP 1996 komme auch keine rechtsnormähnliche Wirkung zu. Wegen fehlender demokratischer Legitimation sei der Sachverständigenbeirat zum Erlass und Fortschreibung von Bewertungsrichtlinien im Schwerbehindertenrecht nicht legitimiert. Die Erstellung und Fortschreibung der AP 1996 durch den Sachverständigenbeirat sei nicht transparent, die AP 1996 beruhten auf keiner wissenschaftlichen Grundlage und enthielten kein in sich geschlossenes und nachvollziehbares Beurteilungsgefüge. Aus der Vorschrift des § 69 Abs. 4 SGB IX und Art. 3 GG sei abzuleiten, dass die Bewertungsrichtlinien der AP im Schwerbehindertenrecht den MdE-Richtlinien im Unfallversicherungsrecht entsprechen müssten. Die BG-Richtlinien wichen aber in mehr als 40 Fällen von den Festsetzungen der AP ab. Dies führe zu einer unangemessenen Benachteiligung von Behinderten im Vergleich zu Unfallversicherten. Als Alternative zu den AP stehe den Gerichten als Bewertungsmaßstab die im Internet veröffentlichte "Behindertentabelle" zur Verfügung. Das Institut der Heilungsbewährung sei wegen Verstosses gegen § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX rechtswidrig.
Gegen das am 22.4.2002 zugestellt Urteil hat der Beklagte am 29.4.2002 Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingelegt.
Er trägt u.a. vor, entgegen der Auffassung des SG sei eine Änderung i.S.v. § 48 SGB X in den tatsächlichen Verhältnissen nach Ablauf der Heilungsbewährung eingetreten. Nach der Rechtsprechung des BSG stelle der Ablauf der Heilungsbewährung eine Änderung der Verhältnisse i.S.v. § 48 SGB X dar, auch wenn davon ausgegangen werde, dass das Institut der Heilungsbewährung und die AP 1996 wegen Verstosses gegen höherrangiges Recht fehlerhaft und damit unbeachtlich seien.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.4.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Streitsache an das Sozialgericht Düsseldorf zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheit des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Schwerbehindertenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Das Urteil leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, so dass der Senat von der nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein geräumten Möglichkeit der Zurückverweisung Gebrauch gemacht hat.
Das SG hat gegen seine Pflicht zur umfassenden Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhaltes aus § 103 SGG verstoßen, in dem es jedwede Aufklärung des Sachverhaltes unterlassen hat.
Die Amtsermittlungspflicht aus § 103 SGG ist verletzt, wenn der dem SG bekannte Sachverhalt von seinem materiell-rechtlichem Standpunkt aus nicht für das gefällte Urteil ausreicht, sondern das Gericht sich zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (vgl. BSG, Urteil vom 23.04.1987, 9/9a RV 42/87; Urteil vom 24.06.1996, 11 RA 75/92 m.w.N.). Ausweislich seiner Urteilsbegründung ist das SG der Auffassung, dass durch den Ablauf der Heilungsbewährung keine tatsächliche oder rechtliche Änderung i.S.d. § 48 SGB X eingetreten ist. Der Ablauf der Heilungsbewährung, d.h. der reine Zeitablauf, habe keine Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse im Vergleich zu denen, die im September 1996 vorgelegen haben, bewirkt. Denn im September 1996 sei wegen des fehlenden Nachweises von Tumorzellen die Krebserkrankung ausgeheilt gewesen. Das Institut der Heilungsbewährung sowie die AP 1996 als Bewertungsrichtlinien für die Festsetzung des GdB könnten wegen des Verstoss gegen höherrangiges Recht – § 69 Abs.1 und 4 SGB IX, Art. 3 GG – nicht Rechtsgrundlage für den Entzug der Schwerbehinderteneigenschaft sein. Ausgehend von diesem materiell-rechtlichen Standpunkt wäre es unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG zum Begriff "Änderung der tatsächlichen Verhältnisse i.S.v. § 48 SGB X" und dem Akteninhalt erforderlich gewesen, Feststellungen bezüglich der bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen, ihrer GdB-Bewertungen und wechselseitigen Beziehungen zueinander zu treffen.
Der Ablauf der Heilungsbewährung bei einer Krebserkrankung stellt eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse i.S.V. § 48 SGB X dar, auch wenn davon ausgegangen wird, dass das Institut der Heilungsbewährung und die AP 1996 wegen Verstosses gegen höherrangiges Recht fehlerhaft und damit unbeachtlich sind. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 12.2.1997, 9 RVs 12/95 und 9 RVs 5/96; vom 12.11.1996, 9 RVs 18/94; vom 13.8.1997, 9 RVs 10/96 m.w.N.), der sich der Senat anschließt, setzt § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X nicht die Änderung solcher Tatsachen voraus, auf die der begünstigende Verwaltungsakt zu Recht gestützt war. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist auch dann anzuwenden, wenn sich nachträglich Tatsachen ändern, auf die der Bewilligungsbescheid zu Unrecht gestützt wurden ist, die also die Behörde zu Unrecht für maßgebend gehalten hat. Liegt ein solcher Fall vor und beruht die Entscheidung der Verwaltung auf – veröffentlichten "Maßstäben" – , die für das einheitliche Verwaltungshandeln herangezogen werden, ist auch eine solche Tatsache für die Bewilligung von Dauerleistung oder für eine Statusfeststellung im Rechtssinne wesentlich; denn auch der fehlerhafte Maßstab steuert i. S. der Gleichbehandlung die Verwaltungspraxis. Der Wegfall von Tatsachen, die nach dem fehlerhaften Maßstab wesentlich sind und deren Bedeutung für die Entscheidung in einem objektiven Sinn "erkennbar" ist, bewirkt eine wesentliche Änderung i.S.v. § 48 SGB X. Dies gilt auch, wenn die Verwaltung in veröffentlichten Maßstäben – wie den AP 1983 und 1996 – eine zeitlich begrenzte Höherbewertung des GdB vorschreibt und ihre Entscheidung objektiv erkennbar den Zeitablauf als tatsächlichen Umstand zugrundelegt (vgl. zur Heilungsbewährung nach Herzinfarkt, BSG, Urteile vom 12.2.1997, 9 RVs 12/95 und 9 RVs 5/96; vom 13.8.1997, 9 RVs 10/96 m.w.N.).
Zu den erkennbar objektiv bedeutsamen Tatsachen gehört im vorliegenden Fall als Grundlage für die Feststellung eines GdB von 50 im Bescheid vom 23.09.1996 die Höherbewertung wegen der abzuwartenden Heilungsbewährung. Nach Nr. 26.14 S. 87 AP 1983 ist für die Dauer von 5 Jahren nach der Entfernung eines malignen Brustdrüsentumors eine Heilungsbewährung abzuwarten und unabhängig von den Funktionsbeeinträchtigung ein GdB von mindestens 50 anzusetzen. Aus dem Wortlaut des Bescheides vom 23.9.1996 "Brustoperation rechts im Stadium der Heilungsbewährung" ist für die Klägerin auch eindeutig erkennbar gewesen, dass bei der Festsetzung des GdB eine Zeit der Heilungsbewährung zugrundegelegt wurde.
Des weiteren ist unabhängig vom Ablauf der Heilungsbewährung unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin und ihrer behandelnden Ärzte nach September 1996, dem Zeitpunkt des Erstfestsetzungsbescheides, eine Änderung in den gesundheitlichen Verhältnisse insoweit eingetreten, als im November/Dezember 1996 die implantierte Aufbauplastik wegen postoperativer Wundheilungsstörungen entfernt, eine Restmastektomie durchgeführt und 1997 erneut eine Aufbauplastik implantiert wurde, wobei sich thorakale und axilläre Narbenkontrakturen entwickelten. Diese nachträglichen Operationen mit ihren Folgewirkungen stellen eine Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse i.S.v. § 48 SGB X dar.
Das SG hätte sich gedrängt fühlen müssen, den Gesundheitszustand des Klägerin durch Einholung von Sachverständigengutachten weiter aufzuklären, insbesondere hinsichtlich der Feststellungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen und ihrer Einzel-GdB-Bewertungen, ihrer wechselseitigen Beziehungen und des Eintritts einer wesentlichen Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin.
Die angefochtene Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensmangel beruhen, da nicht auszuschliessen ist, dass das SG bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Die gemäß § 159 Abs.1 SGG im Ermessen stehende Zurückverweisung erscheint angesichts der Kürze des Berufungsverfahren, der Schwere des Verfahrensfehlers sowie zur Erhaltung einer zweiten Tatsacheninstanz geboten. Ein überwiegendes Interesse insbesondere der Klägerin an einer Sachentscheidung besteht nicht; der Klägerin bleibt – zumindest bis zum endgültigen Abschluss des Rechtsstreites – der Schwerbehindertenstatus erhalten.
Das SG wird eine sachgerechte, den Anforderungen an eine gerichtliche Sachverhaltsaufklärung entsprechende Ermittlungen nachzuholen haben. Nach Aktenlage sind die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen auf gynäkologischem (Art und Weise der Wiederherstellung der Brust), orthopädisch/neurologischem (Funktionseinschränkungen im Schultergelenk, des rechten Armes und der Wirbelsäule als Operationsfolgen) und psychiatrischem (psychische Störungen) Fachgebiet zu ermitteln und zu bewerten. Bei der GdB-Bewertung wird das SG zu beachten haben, dass in § 69 Abs. 1 S.4 SGB IX die entsprechende Geltung der im Rahmen des § 30 Abs.1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) festgelegten Maßstäbe für die Feststellung des GdB angeordnet ist. Die in § 30 Abs. 1 S. 1 und S. 5 BVG aufgestellten Kriterien für die MdE-Bewertung, insbesondere die für erhebliche Körperschäden festgesetzten Mindest-vom-Hundertsätze (VV Nr. 5 zu § 30 BVG) sind grundsätzlich der GdB-Bildung zu grundezulegen. Die in die VV Nr. 5 zu § 30 BVG niederlegten Mindest-vom-Hundertsätze sind allgemeinverbindlich und haben den Charakter einer Rechtsverordnung (BSG, Urteil vom 11.6.1970, 9 RV 340/69; Urteil vom 23.7.1970, 8 RV 59/70). Sie sind Maßstab für die GdB-Bewertung anderer Gesundheitsstörungen, die in der VV nicht aufgeführt werden. In den AP sind die aus den VV Nr. 5 zu § 30 BVG abgeleiteten allgemeine MdE-Sätze (BSG; Urteil vom 9.10.1987, 9a RVs 5/86) niedergelegt. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG haben die AP 1996 rechtsnormähnliche Wirkung und sind von den Sozialgerichten wie untergesetzliche Normen anzuwenden. Der Senat sieht trotz der diesbezüglich vom SG erhobenen Einwände keinen Anlass von der Rechtsprechung des BSG abzuweichen (vgl. LSG NW, Urteil vom 6.6.2002, L 7 SB 193/00).
Die vom SG vorgeschlagene "Behindertentabelle" stellt nach dem Willen ihrer Herausgeber keine neue Begutachtungsrichtlinie, sondern nur eine Überarbeitung der AP 1996 dar. Die Bewertungen der "Behindertentabelle" können nur dann zur GdB-Festsetzung herangezogen werden, wenn im Einzelfall der Nachweis geführt wird, dass die Bewertung einer Gesundheitsstörung von den Erfahrungssätzen der AP 1996 hinsichtlich der GdB-Höhe abweicht, die Bewertung mit höherrangigem Recht (§ 30 BVG) vereinbar ist und eine Fallgruppe vorliegt, bei der nach der Rechtsprechung ein Abweichen von den Erfahrungssätzen der AP 1996 zulässig ist (z.B. Abweichen vom gegenwärtigen herrschenden Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft, Ausfüllen einer Lücke in den AP 1996).
Für den Senat folgt weder aus dem Wortlaut § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX noch aus dem vom SG vertretenen Grundsatz der Gleichbehandlung von Behinderten und Unfallversicherten, dass das Institut der Heilungsbewährung nach Krebserkrankung rechtswidrig ist. Das Institut der Heilungsbewährung findet zum einen in der Unfallversicherung Anwendung (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufkrankheit, 6. Aufl., S.1088). Zum anderen hat das SG nicht abgeklärt, ob medizinische Erkenntnisse bestehen (wie z.B. Abnahme der Rezidivgefahr nach einem bestimmten Zeitablauf, Minderung des Rezidivrisikos durch Schonung und Entlastung der Erkrankten, Prozess der Gewöhnung und Anpassung), die für die Bejahung der Zeit einer Heilungsbewährung sprechen.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Erstellt am: 14.08.2003
Zuletzt verändert am: 14.08.2003